Eigentlich sollte niemand mehr darüber schreiben müssen, dass klassische Musik ein Rassismus-Problem hat. Meine jüngste Entdeckung, die Verehrung von klassischer Musik im rassistischen und neonazistischen Forum Stormfront, hat mir allerdings Anlass gegeben, wieder einmal darüber nachzudenken, welche Rolle Rassismus als kleiner Helfer der klassischen Musik im Laufe ihrer Geschichte gespielt hat und spielt. Zwischen offenkundigem Nationalismus und dem oft etwas weniger sichtbaren institutionellen Rassismus förderte Musik im Laufe der Jahrhunderte immer wieder – wissentlich und unwissentlich – die Verbreitung rassistischer Narrative.
Im Stormfront-Forum findet sich zwischen Zorn und bizarren Verschwörungstheorien die Aussage, dass »klassische Musik einen dazu ZWINGT, weiß zu sein« und dass »sie ein tiefes, Gefühl hervorruft statt Zwietracht (wie es bei ›Rap‹ der Fall ist)«. Der erste Post des Users »Karajan« (die Mitglieder des Forums machen keinen Hehl aus der Nazi-Vergangenheit des Dirigenten) bringt klassische Musik insbesondere gegen »black culture« in Stellung und beginnt mit einer Tirade gegen weiße Frauen als Verräterinnen ihrer Rasse. Der Post endet mit einer Aufforderung: »Zelebriert die Kraft eurer Rasse und hört mehr klassische Musik. Es gibt sonst nicht viele Möglichkeiten, sich ›pro-weiß‹ zu engagieren.«

Darauf folgen hunderte Seiten an Diskussion, die irgendwann auf zwei Threads aufgeteilt werden und die Posts beinhalten, die immer wieder dieselben Komponisten durcharbeiten – Mozart, Bach, Beethoven, Wagner, Vivaldi, Brahms, wenn man Glück hat Prokofjew oder Debussy. Alles, was irgendwie in Verbindung zum deutschen Nationalismus steht, bekommt Extrapunkte. Wagner wird verehrt; einige Opernaufführungen werden nicht gepostet, weil irgendwo jemand nicht-Weißes im Chor steht. Die besondere Art, mit der klassische Musik die Körperzellen in Schwingungen versetzt, wird diskutiert. Ein Mitglied verurteilt alle Musik, in der ein Schlagzeug vorkommt, als »nicht-weiß«, während andere einen weiter gefassten Musikgeschmack haben: von Bach bis Black Metal (so lange letzterer »nordisch« ist). Die genaue Abstammung von Komponisten wird diskutiert und auseinandergenommen, es gibt Uneinigkeiten und Versöhnungen unzählige irrelevante Faktoren betreffend. Mendelssohn geht bei vielen noch durch, obwohl er in eine jüdische Familie geboren wurde, weil er schon als Kind zum Christentum übertrat, während Atonalität schlecht wegkommt, da sie eine jüdische Erfindung sei, um die Heiligkeit der klassischen Musik zu untergraben. Es gibt Schimpftiraden auf zeitgenössische Operninszenierungen (wo haben wir sowas vorher schon einmal gelesen?). Die komplette Diskussion ist ein einziger essentialistischer Balanceakt.
Man muss es eigentlich nicht dazu sagen, dass das Ganze ein riesiger Haufen Schwachsinn ist – so banal es aber scheint, sich durch die hohle Schwarmintelligenz dieser Online-Rassisten zu wühlen, so ernst sollten die zugrundeliegenden Implikationen von uns, den im klassischen Musikbetrieb Arbeitenden, genommen werden. Eines der produktivsten Mitglieder des Forums nennt sich »Revision« und hat als Profilbild ein Porträt des französischen Holocaustleugners Vincent Reynouard. Die Tatsache, dass klassische Musik eine Art Zufluchtsort darstellt für jemanden, der derartige Ansichten teilt, sollte nicht nur völlig inakzeptabel sein. Gegen ein solches Auftreten sollte aktiv vorgegangen werden. Es ist nicht die Schuld der klassischen Musik im 21. Jahrhundert, dass ihre Vergangenheit so einfach von Nationalisten oder Verfechtern weißer Überlegenheitstheorien vereinnahmt werden kann. Allerdings fühlen wir uns offenbar nicht unwohl genug, wenn wir in den Konzerthäusern Europas und der weltoffenen Städte Amerikas sitzen inmitten eines normalerweise sehr weißen Publikums, das einem normalerweise sehr weißen Orchester zuhört. Julius, der Protagonist in Teju Coles Roman Open City, macht dieselbe Beobachtung: »Es überraschte mich nicht, dennoch ist es immer wieder erstaunlich, wie einfach es ist, die Hybridität der City hinter sich zu lassen und ein ganz und gar weißes Umfeld zu betreten, dessen Homogenität, soweit ich das beurteilen kann, den Weißen nichts auszumachen scheint … Doch Mahlers Musik ist weder weiß noch schwarz, weder alt noch jung, und ob sie besonders menschlich ist oder eher im Einklang mit universelleren Schwingungen, ist fraglich.« Die Frage ist jetzt also, ob die klassische Musikwelt sich damit zufrieden gibt, so zu wirken – fest steht: trotz zahlreicher Versuche der Diversifizierung, so ehrenvoll sie auch sein mögen, wird sie von vielen so gesehen.

Es gibt einen Grund, warum die Dumpfbeutel von Stormfront Popmusik, Rock oder Dance ablehnen: Diese Musikstile haben einen Grad von Vielfalt erreicht, den selbst der überzeugteste Eugeniker auf Stormfront nicht ignorieren kann. Obwohl sich all diese Genres aus nicht-weißen Musiktraditionen entwickelt haben, wurden sie über mehrere Jahrzehnte »weißgewaschen«. In ihrer jetzigen Erscheinungsform sind sie allerdings größtenteils das Gegenteil von dem, was die Ideologien der extremen Rechten verlangen.
Die Programmierung von Konzerten ist ein Thema, das immer wieder diskutiert wird, wenn es um Gleichberechtigung in der klassischen Musik geht. Würden in der klassischen Musikwelt nicht ständig dieselben Komponisten, die alle unterschiedslos weiß und männlich sind, bejubelt, dann sähen die Dinge etwas anders aus. Es sollte eigentlich nicht Akteure wie das Chineke! Orchestra brauchen, um Leute wie Joseph Boulogne, Chevalier de Saint-Georges nach London zu bringen, oder seinen Cellisten, den 18-jährigen Gewinner des Young Musician of the Year-Preises der BBC, Sheku Kanneh-Mason, der seiner ehemaligen Schule Geld gespendet hat, um die Zugänglichkeit klassischer Musik für alle zu gewährleisten. Uns allen ist die kontroverse Vergangenheit der klassischen Musik bewusst, wenn es um Nationalismus geht – warum also werden heute, im 18. Jahr des 21. Jahrhunderts, immer noch Leute wie Karajan widerspruchslos als Größen gefeiert, als »Kaiser des Legatos«, was auch immer das bedeuten soll, während gegen rassistische Tendenzen nur im Kleinen angegangen wird, in einiger Entfernung vom Geld und den Möglichkeiten des klassischen Mainstreams? Gleichzeitig gibt es auch keine bewusste Aktion gegen die Idee einer klassischen Musikwelt, die mehr im Einklang mit ihrer Außenwelt steht. Wer selbstgefällig ist, trägt jedoch immer eine Mitschuld. Als der Komponist und Performer Tyshawn Sorey letztes Jahr mit VAN sprach, erzählte er von einem »strafenden Jazz-Label«, das Schwarzen Komponisten angehängt wird, die nicht kompatibel seien mit der impliziten Vorstellung, dass ein klassischer Komponist immer weiß ist. Genau innerhalb dieser unsichtbaren, institutionellen oder systemischen Voreingenommenheit finden Nationalisten und weiße Vorherrschaftstheoretiker einen Nährboden zur Verbreitung ihrer Ansichten.
Das Ganze ist eine Frage des Images der klassischen Musik. Atonalität, Neue Musik und zeitgenössisches Musiktheater sind nicht gerade die Rückzugsorte der extremen Rechten – aber leider sind diese Bereiche auch nicht das, was den meisten Außenstehenden in den Sinn kommt, wenn es um klassische Musik geht. Auch wenn jeder, der auch nur ein klein bisschen Integrität besitzt, bestreiten würde, dass klassische Musik eine essentiell weiße Kunstform ist, sollte die Tatsache, dass einer der größten Threads eines der beunruhigendsten und extremsten Treffpunkte für faschistische Ideologen im Netz genau diese Ansicht propagiert, genug Grund für uns sein, aktiv zu werden, anstatt weiter auf den Wandel zu warten. ¶