Stellen Sie sich vor, Sie werden gemolken. Sie stehen neben anderen Männern angekettet wie Milchvieh, Sie haben keine Wahl, es geht um Ihr Sperma.
Was klingt wie eine Pornokategorie aus Deutschland ist eine Szene aus der Welt von Magna Mater, einer Operetten-Neudichtung des Ensembles tutti d*amore. Im Kosmos der Magna Mater gilt schon seit Jahrhunderten das Matriarchat, Männer werden unterdrückt. Lediglich zur Fortpflanzung braucht man sie noch – aber nicht mehr lange, hoffentlich, die Wissenschaft ist dran. Ein Sprecher der ›Männlein‹ ruft einen Melkstreik aus. Zunächst lachen die Magnae Matres, die privilegierten Frauen in Zylindern, ihn aus – dann schlagen sie ihn zusammen. Wer sich für einen Moment das puschlig-collagierte Szenenbild wegdenkt (Bühne/Kostüme: Tatjana Reeh, Sung-A Kim), fühlt sich an die Beklommenheit und Brutalität von Filmen wie Clockwork Orange erinnert. Magna Mater (Große Mutter) ist Name und Credo dieser Mehrheitsgesellschaft. Sie ist eine Konterphantasie zur Herrschaft des Patriarchats.

An diesem Abend laufen die Magna Mater-Festspiele, und wir selbst können in den Stand einer Magna Mater eintreten. Jedenfalls manche von uns. Denn eine Minderheit des Publikums wird bei Beginn der Veranstaltung ausgewählt und kurzerhand zum Männlein gemacht. Das Zwangsregime beginnt sofort. Die Männlein werden geschminkt, müssen singen, eine muntere Melodie. Später, vor der oben genannten und groß zelebrierten Melkshow, bleiben sie getrennt vom restlichen Publikum auf einer »Wiese« und müssen Dünger für ihr Sperma einnehmen. Die Ungleichheit steht zwar im Kontext der Kunst, ist aber real erlebt: Wer das Stück im Lager der Männlein verbringt, spricht später anders über den Abend. Affektierter. Die Ungleichbehandlung habe durchaus ein Gefühl der Rebellion erzeugt. Denn nachdem ihr Fürsprecher malträtiert am Boden liegt, kommen die Männlein hinter der Bühne hervor, streikend und streitend. Wir, die Mehrheitsgesellschaft, sollen sie mit MAGNER MATER-Rufen niederbrüllen. Das erzeugt schon etwas von der Hitze zwischen den Fronten einer Straßendemo.

Am Ende dieses Streits zerfällt das jahrhundertealte Magna Mater-Regime. Wir, das Publikum, stehen noch an unseren Plätzen, agitiert für den Endzeitkampf. In den Bühnennebel vor uns strahlen Laser hinein (Visuals: Marie Schwab), die Darsteller:innen werden neu geboren in einer Art archaischem Clubtanz. Ein SciFi-Schlachtengemälde direkt vor uns. Langsam, vom Unbehagen der Geschlechter gelenkt, löst es sich ins Nichts auf. So plakativ, munter und schrill die Magna Mater-Festspiele bis hierher waren, dieses Ende wirkt auf mich sehr erhebend. Die plumpe Antwort aufs Patriarchat – das Matriarchat – scheitert, aber was mich wirklich packt, sind die elektronischen Beats (Sounddesign: Maria Solberger), die aus den Bühnenlautsprechern schallen. Es ist ein sonderbares Gefühl, nach ca. 2,5 Stunden Operettenmusik am selben Ort plötzlich Deep House zu hören. Gleichzeitig bringt es zu Ende, was schon die gesamte Vorstellung geprägt hat: die so nonchalante wie gekonnte Mischung medialer, musikalischer und narrativer Elemente. tutti d*amore schnappen sich zwei Operetten und basteln sie neu zusammen: Die zutiefst misogyne Handlung der Schönen Galathée wird zum Gedächtnisspiel der Magna Mater-Festspiele, das an die frühere Unterdrückung der Frauen erinnert. Regie führt dabei Lysistrata. Sie ist ihrer gleichnamigen (recht fortschrittlichen) Operette von Paul Lincke entkommen und nimmt nun eine Führerinnenrolle unter den Magnae Matres ein. Refrains und Choreos werden mit dem Publikum einstudiert, Nummern umgedichtet und neu betextet, die Handlungsebenen immer wieder durchbrochen.
»Oper*ette für alle« ist das Motto von tutti d*amore. Das Kollektiv will Operetten »vom Ruf einer unzeitgemäßen Kunstform« befreien. Wie? Indem sie »zerlegen, durchkneten, schütteln und pikant-kross servieren«. Für ihre Aufführungen suchen sie Orte, die Hemmschwellen abbauen. Bei ihrem Stück tutti in campagna tourten sie mit einem blauen Bus durch Brandenburg, Thema: Vorurteile zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Magna Mater lief zuerst im Zirkus, jetzt im Monbijou-Theater. Das ist ein hölzerner Rundbau am Ufer der Berliner Museumsinsel, in dem sonst vor allem Shakespeare in historischer Annäherung deklamiert wird. Das Publikum ist divers, ein Haufen junges Volk, das französisch, deutsch oder englisch spricht. Neben mir ein betagtes italienisches Ehepaar, das von der Aufführung in der Zeitung gelesen hat. In der Pause mischen sich die Besucher:innen endgültig mit flanierenden Tourist:innen und Tanzenden am beleuchteten Ufer. Ein strahlendweißes, rundes Bierbike hält vor mir, auf ihm eine gruppe junger brünetter Frauen in pinken Leggins sowie eine ältere Dame mit weißem Schleier. Sie holen mich in ihre Mitte, die Frau im Schleier – Ramona – soll ein Liebeslied für mich singen. Die Bluetoothbox, Ramona und ich schmettern Traum von Amsterdam. Irgendwann dämmert mir, dass diese ganze Nummer vielleicht gar nicht Teil der Inszenierung, sondern ein Jungesellinnenabschied ist. Ich frage die Frauen, ob sie vom Theater sind und ob ihnen klar ist, dass da gerade ein Stück über das Matriarchat läuft – beides wird verneint. Dass ich mir die Frage überhaupt stelle, zeigt, dass das kein gewöhnlicher Operettenabend ist.

Zurück zu tutti d*amore. Im Nachgespräch erzählt mir Anna Weber, dass mit diesem Kollektiv ein größerer Kreis von Menschen verbunden ist. Zum Gründungskern jedoch gehören sie (als Regisseurin, auch an diesem Abend), Caroline Schnitzer (Mezzosopran), Ferdinand Keller und Ludwig Obst (beide Tenöre). Gemeinsam hatten sie bei einem Technofestival zwischen lauten Bässen Opernarien gesungen, und »die Leute haben es gefeiert«. tutti war geboren. Aber wieso jetzt Operette? »Die Melodien sind eingängig. Es ist volksnah«, sagt Anna. Klar, volksnah, schwieriges Wort – wer den vorigen Absatz gelesen hat, weiß aber was sie meint. Dazu lassen sich Operetten in ihrer Nummernstruktur leicht aufbrechen, als Material weiter verarbeiten. Und zuletzt, sagt sie, hätten viele Operetten einen gesellschaftskritischen Kern.
Bestimmt zehn Jahre lang war ich in keiner Operette mehr. Neu für mich ist die Balance zwischen Gesang und Schauspiel. In den tollsten Opernvorführungen kann man das Schauspiel oft leider nicht ernstnehmen. In Schauspielensembles sind zwar viele Stimmen begabt, aber die wenigsten davon jahrelang ausgebildet. Dieser tutti d*amore-Abend serviert die perfekte Mischung, von Stella Hanbyul Jeungs butterweichem Sopran bis zu Caroline Schnitzers in wirklich jeder Sekunde präsentem Schauspiel, und allen anderen Beteiligten irgendwo zwischen diesen Polen. Slo-mo-Choreographien bringen den Kinoeffekte in die Operette; es fallen Sätze, die klingen wie von Hitler (es aber nicht sind), es ist bunt, verrückt, wild, laut. Wie ein 00er-Jahre MTV für die Klassik.

Lysistrata wurde uraufgeführt im Berliner Apollo-Theater am Fuß der Friedrichstraße, an das heute nur die trostlose Gedenktafel neben einer Spielothek erinnert. Früher war dies ein Ort für Varietés, Pantomimen, für Operetten, irgendwann tauchte ein skurriles Gerät namens Kinetograph auf. Später wird im Apollo der Film Panzerkreuzer Potemkin zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Natürlich kann ich nur mutmaßen, was das für ein Ort war, der sich – wie so viele Operettenstoffe auch – schon in seinem Namen auf die Götterwelt der Antike bezieht, um diese dann pseudo-klassizistisch zu verwursten. Ich habe aber das Gefühl, dass in Magna Mater von tutti d*amore etwas wiederaufersteht: eine Unverfrorenheit, der Mut zum Mesh-Up, zur neuen Form; ein Scheinwerfer auf die Kanten und Brüche unserer Gegenwart. Und damit ist dieses Format deutlich offener als viele, die sich traditionell wähnen. Operette als Schmiermittel unserer Gesellschaft? Wenn sie kritisch bleibt, ja gern. ¶