Die Technologie verändert die Plattenindustrie, sie verändert auch jede andere Branche. »Musikpiraterie« erschien vor 10 Jahren als die große Bedrohung für die Zukunft der Musik. Inzwischen wurde sie durch das Musikstreaming obsolet gemacht – was in der Wahrnehmung vieler Musiker/innen auch keine große Verbesserung bedeutet. Besonders für die klassische Kunstmusik ist es vertrackt: Sie ist eine hochspezialisierte Kunstform und kann als solche keinen Massenmarkt anziehen. Aber ohne ein großes Publikum kommen auf der anderen Seite durch Streaming keine großen Erlöse zusammen.

Doch es gibt in der vernetzten Welt auch Chancen. Der digitale Markt ist nicht nur ein gleichgültiges Publikum für das Populäre; und viele der Klagen und Sorgen in Bezug auf das Musikhören im Internet zeugen von grundlegenden Missverständnissen in Bezug auf Wirtschaftszusammenhänge im digitalen Raum. Das Besondere an diesen ist: Sie funktionieren besonders gut für zwei entgegengesetzte Geschäftsmodelle: für große, monopolartige Unternehmen und kleine, hochspezialisierte Shops mit höchstens einer Hand voll Angestellten. Bei den Großen klappt es, weil sie eine riesige Kundschaft haben und in der Regel Geld durch Werbung verdienen. Die Kleinen haben verhältnismäßig weniger Kunden. Deren Bedürfnisse sind entweder zu komplex, als dass sie von den großen Unternehmen erfüllt werden könnten oder sie stehen deren Interessen genau entgegen.

Die kleinen Angebote erwirtschaften Geld durch direkten Verkauf. Der Analyst Ben Thompson hat den Regenwald als Analogie genommen: Die Baumkronen riesiger Bäume an der Spitze erhalten das meiste Sonnenlicht, aber auch darunter existiert ein extrem fruchtbares Unterholz.

Im Musikmarkt ist Streaming das Massenprodukt. Die Nutzer zahlen eine kleine – oder gar keine – Gebühr für den Zugriff auf einen gigantischen Katalog an Musik. Sie können diesen abspielen, ohne irgendwelche Qualitätsbeurteilungen vorzunehmen. Wenn dir alles zur Verfügung steht, warum solltest du dann irgendetwas davon besondere Beachtung zukommen lassen?

Angebote wie Spotify sind großartig für gelegentliche Musikhörer und leidenschaftliche Fans, aber für Musiker/innen mit weniger massenkompatibler Anziehungskraft sind sie schädlich. Die aktuellsten von Spotify veröffentlichten Zahlen besagen, dass Künstler Lizenzabgaben zwischen 0,006 und 0,0084 US-Dollar pro abgespieltem Titel erhalten. Das ist in Ordnung, wenn man davon hunderttausend am Tag hat, aber nicht so sehr, wenn es nur tausend sind.

Noch ungünstiger ist, dass die Gebühren gar nicht direkt an die Musikerinnen gehen, die von den Nutzern gehört werden. Stattdessen werden die gesammelten Einnahmen proportional zur Gesamtzahl der abgespielten Stücke verteilt. Wenn jemand nur wenige Stücke, sagen wir 100 Songs in einem Monat hört, dann gehen dadurch etwa 0,84 Cent zu den entsprechenden Musikern; den Rest der 10 Dollar bekommen die Stars und Spotify. Längere Stücke wie einzelne Sätze aus Sinfonien und Sonaten sind in Relation weniger wert als kurze Pop-Songs, weil die Anzahl der gespielten Titel, also Tracks (und nicht die Zeit) den Ausschlag für die Höhe der Auszahlung gibt. In der Zeit, in der die eine einen Satz aus einer Mahler-Sinfonie gehört hat, spielt ein anderer ein ganzes Album von Taylor Swift ab. In einem Text auf der Online-Plattform Medium machte ein Kritiker folgenden Witz: das Ganze sei, »wie wenn man eine CD kaufe und der Verkäufer festlegt, dass man sie sich tausend Mal anhören müssen, ansonsten geht das Geld an Nickelback (oder Xavier Naidoo, d. Red)«.

Der »musikergeführte« Streamingdienst Tidal scheitert daran, dass er weder den Massenmarkt noch das Spezialistenpublikum anspricht. Für ersteren ist Tidal im Vergleich zu teuer, und für die Spezialisten sind Features wie qualitativ höhere Streamingraten oder exklusive Veröffentlichungen zu wenig: Hochwertige digitale Dateien sind für die meisten immer noch einfach Dateien, und die Exklusiv-Alben sind zu spärlich und zu wenig abwechslungsreich – die wenigsten, die sich für eine Exklusiv-Veröffentlichung von Martha Argerich interessieren, werden einen Monat später von einem Jay-Z-Album bei der Stange gehalten. Nicht billig genug für den Massenmarkt und nicht interessant genug für Musikliebhaber/innen fällt Tidal also zwischen das Raster. Trotz der Fanfaren zum Start schaffte man es kaum unter die Top-700-Downloads im iOS App Store von Apple; ein Jahr und drei CEOs später machte es dann nur deswegen einmal einen Sprung nach oben, weil Kanye West seine Fans förmlich anbettelte, es zu benutzen.

Wenn aber Streaming die Zukunft für den Musikabsatz ist und ein dezidiert Musiker/innen-geführter Dienst zum Scheitern verurteilt ist, was ist dann die Lösung? Wie für die Tech-Companies gibt es auch für Musiker/innen zwei Wege im Internet, den Lebensunterhalt zu verdienen. Die auf den Massenmarkt abzielen, sollten auf den Streamingservices zu finden sein, weil es in ihrem Interesse ist, für so viele Hörer/innen wie möglich so leicht wie möglich zu finden zu sein; Musiker/innen mit einem kleinen, begeisterten Publikum brauchen Hörer/innen, die bereit sind, für ihre Musik zu zahlen. Viele Künstler/innen beschweren sich darüber, dass sie durch Spotify unterbezahlt seien, aber Spotify zahlt bereits 70 Prozent der Erlöse an sie aus – an ihre Labels, zumindest –, eine merkliche Steigerung ist praktisch ausgeschlossen.

Professionelle Musiker/innen, die wissen, dass ihre Musik eine eher eingeschränkte Reichweite hat, sollten sorgfältig darüber nachdenken, ob diese auf einen Streaming-Service gehört. Das gleiche gilt für kleine Schallplattenlabels. Die wenigsten Menschen landen in der Musik, besonders der klassischen, für Reichtum oder Macht, trotzdem: Musik für fast nichts herzugeben, ist ein todsicherer Weg, nicht einmal davon leben zu können. Stattdessen könnten Musikschaffende mit dem weitermachen, was sie schon seit Jahrhunderten in der ein oder anderen Form getan haben: ihre Musik zu verkaufen.

Es gibt zwei gewichtige Einwände dagegen, Musik zu verkaufen, ohne sie einer (oder allen) der großen Streamingservices zur Verfügung zu stellen: Erstens gibt es Anzeichen dafür, dass Streaming im Kampf gegen die Musikpiraterie hilft. Diesem Risiko sind die, die sich gegen die Streamingservices entscheiden, ausgesetzt. Zweitens schränkt man mit dem Zurückziehen seiner Musik von diesen Diensten deren potenzielle Reichweite ein, weil weniger Menschen auf einfache Art Zugang zu ihr haben.

Aber auf Piraterie zu reagieren, indem man die Musik zum Streaming freigibt, scheint mir wie das Weggeben aller Besitztümer als Maßnahme gegen einen möglichen Einbruch. Man mag damit die Risiken des illegalen Herunterladens bekämpfen, aber man schadet dennoch dem Verkauf. Leute, die Musik illegal herunterladen sind meist die, die das meiste Geld für Musik ausgeben (Link zu einem Text über eine entsprechende Untersuchung). Wenn Leute Musik klauen, dann wissen sie, dass die Künstler nicht bezahlt werden – wenn sie Musik streamen, dann denken sie, diese würden bezahlt. Insofern ist es wahrscheinlicher, dass ein Raubkopierer eine Künstlerin, die er schätzt, irgendwann durch das Kaufen eines Albums unterstützt, als dass das jemand tut, der ihrer Musik bei einem Streamingservice begegnet.

Es gibt noch andere Wege, der illegalen Verbreitung von Musik zu begegnen. Der Autor Neil Gaiman behauptet, er habe seinen Verleger davon überzeugen können, eine Hörversion seines preisgekrönten Kinderromans Das Graveyard-Buch kostenlos herauszugeben. Das ist ungefähr richtig: Eine Audioversion des Buches ist auf Youtube zu bekommen, es handelt sich um Aufnahmen, die Gaiman während seiner Lesungen auf der Promo-Tour gemacht hat. Sie sind umsonst, aber das Hörerlebnis ist bei weitem nicht optimal – diverse verwendete Mikrofone in unterschiedlichen Räumen mindern die Audioqualität. Dennoch muss es sich niemand illegal besorgen: Das Buch ist umsonst erhältlich, in seiner kostenlosen, eingeschränkten Version wird es praktisch zum Marketinginstrument seiner selbst.

Was die Reichweite betrifft, da gilt nicht nur für Künstler/innen mit einem überschaubaren Publikum: der Schlüssel ist es, nicht allen zur Verfügung zu stehen, sondern bekannt zu werden bei den Leuten, die es interessieren könnte. Im Internet formieren sich Gruppen um Spezialinteressen herum, man werfe nur einen Blick auf die Neue-Musik-Community bei Twitter oder das Elitist Classical Forum bei Reddit (der Name ist ironisch, es geht hier einfach um die Beschäftigung mit weniger bekannten Werken). Wenn man als Musiker neue Zuhörer/innen gewinnen will, braucht es erst einmal nicht mehr als einen Account zu diesen Plattformen. Und dann gibt es die traditionelleren Wege wie Werbung oder Magazine. Heute, wo die Welt immer mehr vernetzt ist, entstehen nicht nur für Musikerinnen, sondern auch für neue Magazine in der Nische neue Möglichkeiten; du liest ja gerade eins.

Musiker haben ein hohes Übungs- und Ausbildungsniveau, als Komponisten und als Interpretierende. Sie lernen andere gut ausgebildete Musiker/innen kennen und arbeiten mit ihnen zusammen. Dazu kommt, dass komplexere Musik naturgemäß weniger Menschen anspricht. Klassische Musik ist daher eine urbane Kunstform: Je höher die Bevölkerungszahl irgendwo ist, desto mehr Menschen werden darunter sein, die komplexe Musik schreiben, spielen oder wenigstens hören können. Zu Beginn der Industrialisierung, als die Kunstmusik sich der Kontrolle durch Kirche und Monarchie entzog, blühte sie in den großen Metropolen: Wien, London, St. Petersburg, New York. Die Anzahl ihrer Bewohner/innen und ein allgemeiner gesellschaftlicher Bedarf der oberen Mittelklasse nach »verfeinerter Kunst« machte es möglich, dass eine funktionierende Ökonomie für die entsprechenden Musiker bestand.

Aber niemals wird eine Stadt auch nur annähernd so viele Bewohner haben wie das Internet. Jüngeren Statistiken zufolge gibt es derzeit 3,17 Milliarden Internetnutzer/innen, 2014 waren es 2,94 Milliarden. Der Unterschied zwischen 2014 und Ende 2015 beträgt also 230 Millionen Menschen – etwa gleichviel wie die Bevölkerungen von Großbritannien und Nordirland, Frankreich, Südafrika und Südkorea zusammen genommen. Das ist ein Wachstum von acht Prozent von einem Jahr auf das andere.

Wenn also der prozentuale Anteil derer, die sich für die Arbeit eines Musikers interessieren, winzig sein mag – nur ein Bruchteil von einem Prozent der gesamten »Internet-Bevölkerung« steht immer noch für eine große Anzahl von Menschen – mehr als genug, um vernünftig davon zu leben. Aber das wird nur für Musiker/innen funktionieren, die am richtigen Ort suchen. Klassische Musik ist keine Massenmarkt-Branche; sie ist eine Nische, in der tausende von Sub-Nischen existieren. Vielleicht interessieren dich der Serialismus seit 1945, gregorianische Choräle oder Streichquartette des 18. Jahrhunderts. Es gibt für jedes dieser Interessen Menschen im Netz, die es teilen, um geteilte Interessen herum kann sich eine Community bilden, und in und mit solchen Communitys kann auch professionell gearbeitet werden. Und obwohl die Technologie das Geschäft mit der Musik umwälzt, verändert die Musik selbst sich so, wie sie das immer getan hat: eine sich langsam verschiebende Landschaft aus Einflüssen, Reaktionen und neuen Ideen. Sicher, es wird nicht leicht für die meisten Musiker/innen. Im größten Markt aller Zeiten ist die Konkurrenz heftig. Komponistinnen und Interpreten, die Erfolg haben wollen, müssen nicht nur eine große Beherrschung der Kunst präsentieren, sondern auch eine leidenschaftliche Unabhängigkeit und Originalität. Aber die Zukunft ist golden. Originalität und Handwerk sind das Pfund, mit dem heutige Komponisten wuchern können, das Publikum ist da, für jene, die es finden. ¶