Titelbild Caspar David Friedrich Wanderer am Meilenstein (Public Domain)

Die Kulturszene war gerade dabei, sich langsam vom ersten Shutdown zu erholen, dann schlug der zweite zu. Wie geht es ihr jetzt? VAN hat 18 Akteur:innen des Klassikbetriebs nach aktueller Stimmung, Selbstverständnis und Zukunftsvisionen gefragt.

Okka von der Damerau, Mezzosopranistin

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Interessanterweise fehlt mir nicht so sehr das Singen an sich, sondern das Füllen der Opernräume mit meiner Stimme. Die Säle fehlen mir, das war mir vorher nicht so klar. Und die Atmosphäre, wenn man während der laufenden Vorstellung mit dem Publikum im Austausch ist, diese ungeheure Energie. Aufnahmen von Wagner kann ich im Moment ganz schlecht hören. Da muss ich immer weinen, weil ich seine Musik so vermisse.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Struktur im Tagesablauf, Intervallfasten, Rausgehen ins Grüne, sehr viele Sozialkontakte über Telefon oder Mails. Nichts Besonderes.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Ich habe das große Glück, gerade mit Christof Loy in Madrid an meinem Jezibaba-Debut zu arbeiten, weil hier noch gespielt wird. Vorher war ich in Barcelona für zwei sehr schöne konzertante Trovatore. So hatte ich seit Ende September Erlebnisse, von denen ich wieder einige Zeit zehren kann. Aber ich fühle mich angesichts der Zukunft auch wie in einem langen Tunnel. Die krassen Einschränkungen, die man im Kultursektor so ja überhaupt nicht verstehen kann, erzeugen ein Gefühl von Ausgeliefertsein, das ich sehr schwer aushalten kann – bei allem Wunsch nach Sicherheit und Rücksichtnahme. Dass ein Großteil unserer Gesellschaft keine Verbindung mehr zu unserer Kultur hat, macht mir allerdings schon länger Sorgen, denn das gehört für mich zur vernünftigen Menschwerdung dazu.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Meinen Römertopf. Auch ich habe angefangen, Brot selber zu backen! Und meinen Balkon. Und unsere Waschmaschine, als meditatives Element.


Boglárka Pecze, Klarinettistin des Trio Catch

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

In der plötzlich vorhandenen freien Zeit habe ich viel reflektieren können, und glaube, dass es allen Kollegen und Kolleginnen ähnlich ging. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir unseren Beruf bis März ausgeübt haben, ist weg. Ebenso die Planungssicherheit. Da denkt man natürlich viel nach.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Ich bin jeden Tag 1-2 Stunden spazieren gegangen und das habe ich auch bis heute beibehalten. Außerdem war ich 3-4 mal die Woche joggen.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Ich bin ein grundsätzlich optimistischer Mensch. Wir haben mit dem Trio Catch in den letzten 10 Jahren schon vieles durchstehen müssen, das jetzt werden wir auch schaffen.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Sämtliche Bücher von Yuval Harari.


Bettina Schimmer, Gründerin und Inhaberin von Schimmer PR

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Typisch für meine Tätigkeit derzeit ist das Schwanken zwischen einer Art Wartestellung, weil man wegen der ständigen Absagen und Änderungen weniger proaktiv sein kann, und beinahe verzweifelt kämpferischem Rödeln, um so viel wie möglich in kurzer Zeit für die Künstler rauszuholen, solange Termine noch stehen. Dabei sind Loyalität und wechselseitiges Vertrauen für mich wichtiger denn je.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Man muss einfach flexibel sein und sich davon nicht irre machen lassen, dass man nicht sehr weit in die Zukunft planen kann. Mir persönlich hilft dabei tatsächlich Yoga. Ich praktiziere das zuhause beinahe täglich.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Irgendwie muss man optimistisch, kreativ und sehr flexibel bleiben. Bei all der Verantwortung, die ich nun mal spüre – den Künstlern gegenüber, die wir vertreten, und für meine Mitarbeiterinnen –, versuche ich das Menschliche nie aus dem Blick zu verlieren. Ich weiß mehr denn je zu schätzen, was unsere Musiker leisten und glaube ganz stark an die Robustheit der Musik an sich.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Einen Taschenrechner (den ich aber nur per Excel oder als Rechner-App verwende) und meine Yoga-Matte.


Bernhard Glocksin, Künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Erstaunlicherweise: Meine und unsere Arbeit fühlte sich so an, als hätten wir die Pandemie schon im Griff/hinter uns, als würde jetzt alles so weitergehen können… kein Gedanke an einen erneuten Lockdown. Erstaunlich, oder?

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Dass ich nicht Solo-Selbständiger bin, sondern Teil eines Teams. Dass wir anderen Künstler:innen helfen konnten. Dass wir angefangen haben, die Grundlagen unseres Tuns zu reflektieren: Ist weniger produzieren (für alle (Musik-)Theaterschaffende) nicht sinnvoll und nötig, wenn wir dafür mehr Qualität »nach innen«, in den menschlichen Vorgang des Produzierens stecken? Wenn wir die Zeit auch nutzten, endlich alle Prozesse auf ihre Umweltverträglich- und Nachhaltigkeit zu prüfen und neu auszurichten? Auf dass auch der Kunst-, Musik- und Theaterbetrieb endlich seinen Anteil an der Lösung der Großen Fragen real leistet, anstatt nur zu reden oder Stücke darüber zu machen.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Wir machen jetzt das gleiche wie im Frühjahr: alle Pläne und Projektvereinbarungen neu stricken. Das ist der re-aktive Teil. Der aktive ist, daran zu arbeiten, wie wir die »geschenkte Entschleunigung« produktiv im Sinne der oben genannten ökologischen und zwischenmenschlichen Weiterentwicklung nutzen.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Den Trailer unserer aktuellen Arbeit – das Musiktheater LOST (1,5 Meter), das wir eigentlich jetzt spielen würden…

YouTube Video

Christian Gerhaher, Bariton

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Mein Bild von meinem Tun hat sich eigentlich nicht sehr stark verändert. Ich finde nach wie vor, dass die Künste gesellschaftlich eine wichtige Rolle spielen. Der zweite Lockdown zeigt jedoch, dass die Künste als Freizeitaktivitäten wahrgenommen werden – sie werden von der Politik in eine Reihe mit Spaßbädern oder Bordellen gestellt. Dieses Missverständnis wundert mich. Vielleicht aber tragen die Künste da auch eigene Verantwortung: Sie präsentieren sich ja selbst schon seit längerer Zeit als Unterhaltung, gerieren sich als Entertainment besserer Art. Sie müssten dagegen meines Erachtens die Bedeutung der von ihnen behandelten Themen stärker und immer wieder herausstreichen.

Ich habe erlebt, dass Sicherheit etwas Ephemeres ist, etwas, das sich nicht wirklich anstreben lässt – das betrifft sehr viele Mitmenschen im Moment schwer und heftig. Aktuell muss ich persönlich nun ständig umplanen. Normalerweise plane ich vier oder fünf Jahre im Voraus, jetzt sind es ein paar Wochen. Nicht nur die Reisevorhaben, auch das geplante Repertoire muss ich ständig ändern. Das ist anstrengend, aber es ist schon in Ordnung. Solange man aktuell überhaupt etwas zu tun hat als Kulturschaffender, muss man wirklich sehr dankbar sein.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Im ersten Lockdown, der ja relativ radikal war, habe ich viel Zeit mit meiner Familie zuhause verbracht, das war sehr schön. Ich habe viel gelesen, dazu komme ich sonst nicht in diesem Ausmaß. Jetzt im zweiten Lockdown habe ich viel zu tun und bin außerdem wegen der drohenden Veränderungen zu nervös, als dass ich mich auf Prousts Suche nach der verlorenen Zeit einlassen könnte. Dazu fehlen mir gerade die Ruhe und Gelassenheit.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Ich schaue mit Skepsis in die Zukunft. Jetzt, bei diesem zweiten Lockdown, werden die Opfer, die manche Menschen, manche gesellschaftlichen Bereiche zu bringen haben, von der Politik schon gesehen, und es wird, zumindest zum Teil, versucht, dem Abhilfe zu schaffen. Das finde ich wichtig und richtig. Und nicht nur die Solo-Selbstständigen müssen unterstützt werden, auch die Institutionen selbst müssen in ihrem Bestand geschützt werden. Es bröckelt gerade zunehmend nach oben.

Was mich jedoch extrem beunruhigt, ist eine Tatsache, die die Politik vielleicht noch nicht erkannt hat: Das Publikum kann man nicht durch finanzielle Spritzen erhalten. Das funktioniert nur, indem man auftritt, als Kulturschaffender immer wieder Angebote macht. Diese Möglichkeit ist uns genommen. Ich habe die große Befürchtung, dass das Publikum, das jetzt schon – bei den verringerten Plätzen in den Sälen – sichtbar beginnt, sich zurückzuziehen, nicht mehr zurückzugewinnen ist. Davor habe ich Angst, auch mit Blick auf die nachkommenden Generationen, sowohl der Künstler als auch des Publikums. Die Inhalte unseres Lebens drohen immer schaler und weniger zahlreich zu werden.

Solange Gottesdienste noch erlaubt sind, schlage ich deshalb vor, dass man viel mehr Musiker dort spielen und auftreten lässt. Es wird nämlich eine Unterscheidung von gesellschaftlichen Bereichen gemacht, die im Ergebnis äußerst undifferenziert erscheint. Ich bin unbedingt für eingreifende und auch harte Maßnahmen, um die völlig unkontrollierbare Ausbreitung dieses Virus zu verhindern. Aber ich glaube, dass die Maßnahmen, die jetzt getroffen wurden, differenzierter hätten ausfallen können, nach acht Monaten Erfahrung mit dieser Pandemie. Die Kulturbetriebe und Gaststätten haben über den Sommer mit sehr großer Sorgfalt und Wirksamkeit Vorsichtsmaßnahmen eingeführt und ich finde, das kann man nicht einfach so wegwischen.

Ich selbst bin zurzeit in Zürich und probe für eine Neuproduktion von Simon Boccanegra. Die Premiere ist für den 6. Dezember geplant, ob sie stattfindet, sehen wir dann.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

So ein Objekt gibt es für mich nicht.


Ilona Schmiel, Intendantin Tonhalle Zürich

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Kreative, zukunftsorientierte, verlässliche Planung war gestern. Heute fahren wir auf Sicht mit einer zunehmend vereisten Scheibe, die den Durchblick zwar verengt, aber auch mehr fokussiert.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Laufen, laufen, laufen mit sehr unterschiedlichem Tempo.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Ich bin wütend, weil wir derzeit nicht als tragende Säule unseres gesellschaftlichen Lebens wahrgenommen werden. Sonst wären wir in diesen ernsten Zeiten nicht zum Schweigen gebracht worden! Die Beschränkung auf maximal 50 Personen im Publikum ist willkürlich gewählt, sie entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Die Wut setzt Energie frei: Wir müssen mit anderen Kulturinstitutionen, Künstlern und unserem Publikum  gemeinschaftlich agieren, damit es gut weitergeht, wenn auch mit gravierenden Veränderungen!

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Kochen war bisher definitiv nicht meine Leidenschaft – das Kochbuch Simple habe ich wie im Wahn gelesen und fast alles ausprobiert. Zur Nachahmung und Entspannung empfohlen!


Alexander Hollensteiner, Geschäftsführer Kammerakademie Potsdam

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

(Scheinbare) Gewissheiten, Sicherheiten und liebgewonnene Traditionen haben sich irgendwo zwischen totaler Unsicherheit und totaler Lust auf Neues verloren, so dass Chance und Risiko kaum noch auseinanderzuhalten sind. Und: Wissenschaft ist der aktuelle Stand des Irrtums.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Die Erkenntnis, dass es sich immer lohnt, für die gute Sache sehr klar einzutreten und sich dafür mit Vielen zusammenzutun. Und: ein weißer Zettel, ein ToDo draufschreiben, das ToDo erledigen, dann das nächste draufschreiben.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Mit sehr gemischten Gefühlen: auf der einen Seite mit großer Hoffnung auf die Fähigkeit als moderne und aufgeklärte Gesellschaft, aus Fehlern zu lernen (Gesundheitssystem, Bildung, Klima, Fremdenfeindlichkeit). Auf der anderen Seite sehr skeptisch, was die mittel- und langfristigen Schäden in den stark betroffenen Bereichen (Dienstleistung, Hotel, Gastronomie etc.) angeht, insbesondere auch im Kulturbereich. Vor dem Hintergrund der vielen Herausforderungen eine Herkules-Aufgabe, die wir nur gemeinsam und solidarisch angehen und schaffen können.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?


Sergej Newski, Komponist

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Der erste Lockdown war für mich eine eher gemütliche Apokalypse. Diese Entschleunigung des Berufslebens kam für mich zu einem richtigen Zeitpunkt, nach einer Reihe von großen Projekten. Ich habe die Zeit genutzt, um nachzudenken, wie ich weiter komponiere und konnte (als einige Projekte auf 2021 verschoben wurden) tatsächlich auf einmal etwas mehr ausprobieren und verwerfen als sonst. Irgendwann habe ich aber verstanden, dass ich mich unter Zeitdruck viel besser fühle und in einer Routine aus den Deadlines, Proben, Reisen und Premieren deutlich besser funktionieren kann. Deswegen  war ich sehr  froh, als nach ein paar Monaten der gewohnte Rhythmus wieder einkehrte.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Eine  stabile Beziehung. Ich kenne mindestens vier Kollegen, die sich nach dem ersten Lockdown scheiden ließen – und jetzt kommt der zweite! Ich hatte auch keine Ahnung, ob wir – mein Freund und ich – uns nonstop einen Monat lang in einer Wohnung aushalten werden, aber der Monat, in dem wir mein Haus in Moskau nicht verlassen durften (während  des ersten Lockdowns gab es in Moskau eine Ausgangssperre) wurde überraschend zu einem der schönsten in meinem Leben.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Jeder Komponist hat Zeiten, wo er weniger oder mehr zu tun hat, das produziert eine permanente Unsicherheit, auch ohne Pandemie. Momentan ist mein Kalender ziemlich voll und ich versuche – ohne mich und die anderen einem Risiko auszusetzen – so weiter zu arbeiten, als gäbe es die Einschränkungen nicht. Ich reise und probe, solange dies gegen keine Regel verstößt. Die meisten Musiker, die ich kenne und die weltweit agieren, machen es auch so. Die Welt ist asynchron geworden, während in einem Land alle Konzerte abgesagt werden, geht in einem anderen der Lockdown wieder zu Ende. Man muss lernen, diese Asynchronität für sich zu nutzen. Ich habe in den kommenden Monaten einige große Projekte geplant und keine Ahnung, wie viele davon stattfinden und wie viele abgesagt oder verschoben werden. Selbstverständlich halte ich mich an die Sicherheitsstandards, mache  regelmäßig Tests und treffe deutlich weniger Menschen als sonst, um die Risiken zu minimieren, aber ich lasse mich von der allgemeinen Weltuntergangsstimmung nicht beeindrucken.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Der QR-Code, mit dem man in Deutschland in den Restaurants eincheckte und den man in Moskau im April brauchte, um das Haus zu verlassen. Genau wie in Frankreich oder in Italien gab es dort damals ein System der Selbstautorisierung für jede Fahrt durch die Stadt – man musste sich auf der städtischen Website eintragen samt der Nummer seiner Monatskarte (sonst konnte man die U-Bahn-Absperrung nicht passieren) oder dem Kennzeichen des Autos – und bekam dann einen schicken QR-Code auf das Smartphone geschickt. Es gab ein paar lustige Zwischenfälle, wenn jemand sein Kennzeichen falsch eingetragen hatte und von jeder auf dem Weg zur Arbeit installierten Kamera ein Knöllchen für umgerechnet 80 Euro ausgestellt bekam. Dieses Gefühl, in einer digitalen Dystopie zu leben, war neu und spannend, es gehört aber nicht zu den Dingen, die ich wieder erleben möchte.


Arnold Simmenauer, Geschäftsführer der Künstleragentur Impresariat Simmenauer

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Das Bild meines eigenen Tuns hat sich eigentlich nicht großartig verändert. Ernüchtert bin ich darüber, wie andere mein Tun wahrnehmen. Vorweg: Es gibt viele Positivbeispiele, die wahnsinnig berührend sind. Von einigen Künstlern kamen ganz zu Beginn der Krise sofort Angebote für Unterstützung, welcher Art auch immer. Dennoch, der O-Ton ist leider, dass wir auf uns gestellt sind. Für die Veranstalter gehören wir zu 100 Prozent zu den Künstlern – sie finden, wir müssen das mit denen ausmachen. Für die Politik gehören wir nicht zu den Kultureinrichtungen (sondern sind Service-Dienstleister). Die Künstler – was sollen die schon tun in Zeiten, in denen alles wegbricht? Anerkennung dafür, dass wir natürlich weiterarbeiten, wäre schön, aber dafür habe ich wahrscheinlich den falschen Beruf gewählt und dass das ausbleibt, stört mich nicht. Der bei weitem emotionalste Moment war für mich aber vor wenigen Wochen, als Herr Laschet zum ersten Mal von »Freizeit« sprach. Dieses Wort hat die Runde gemacht und fühlt sich an wie ein Gummistiefel im Gesicht. Ich komme nach wie vor nicht damit klar und unterscheide da auch nicht zwischen unserer E-Musik und anderer U-Musik. »Ihr seid Hobbys«, ist die Aussage, alles wird über einen Kamm geschoren. Ein bisschen fühle ich mich emotional zurückversetzt in die Kinderjahre, in denen ich mit großer Überzeugung und einem Gefühl von Wichtigkeit Origami faltete und die Eltern mir sagten, ich solle den Quatsch jetzt lassen und endlich mein Zimmer aufräumen.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Dadurch, dass im März so gut wie alles im Außen sehr stressig und negativ wurde (Umsatzeinbruch, ängstliche Künstler und Veranstalter, gestresstes Team, Home-Schooling für die Kinder etc.) habe ich mich dazu entschlossen, wenigstens für mich selbst zu sorgen und angefangen, vier Mal die Woche Sport zu machen und meine Ernährung umzustellen. Somit bin ich wenigstens fitter denn je.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Die zweite Absagewelle ist, auch wenn sie nicht überraschend kommt, emotional schwerer zu verkraften war als die erste. Mal schauen wie das kommende Jahr wird, aber ab 2022 wird es sich schon wieder einrenken. Allerdings befürchte ich, dass Veranstalter als Reaktion auf die Pandemie und aus Sorge um ein Ausbleiben des Publikums noch mehr auf Glanz, Glamour und ohnehin schon große Namen setzen. Das wäre das wirkliche Armutszeugnis und offen gestanden nicht das, was einem durch Steuergelder finanzierten Kulturauftrag entspricht.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Kein Objekt, sondern unseren neuen (Juli 2020) Familienhund, Coro.


Antje Weithaas, Geigerin

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

In der Zeit der Ruhe ist mir klar geworden, wie wichtig der Austausch mit Kollegen und Publikum für mich ist, und dass ich den richtigen Beruf gewählt habe.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Nach dem Anfangstief hat mir der Versuch geholfen, dem Tag eine Struktur zu geben: weiterhin meine Studenten zu unterrichten, Radfahren, in der Natur sein, Italienisch lernen und nicht zuletzt Wein und Kochen.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Sehr pessimistisch, aber mit dem Wissen, dass zivilisierte Menschen und eine funktionierende Demokratie ein inneres Bedürfnis nach Kultur haben müssen und haben werden.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Meine Zoom App: verhasst, Kopfschmerzen fördernd und trotzdem ein nützliches Utensil zur Motivation der Studenten und zur Pflege persönlicher Kontakte.


Hans-Georg Kaiser, Intendant Freiburger Barockorchester

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Gefühlt wurde die Relevanz der eigenen Arbeit seit Corona mehr als einmal in Frage gestellt. Die Unsicherheit und das schnelle Reagieren haben dominiert, anstelle des überlegten Planens.  

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Aus unserem Büro wurde ein schlagfertiges Team. Trotz Abstand-Halten zustande gebrachte Projekte wie die CD-Produktion des Tripelkonzertes in Berlin, die Beethoven-Konzert-Tour mit Isabelle Faust und die LEONORE mit René Jacobs haben unsere Zuversicht, dass Projekte trotz vieler Auflagen und Einschränkungen realisiert werden können, gestärkt.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Momentan ist bei uns viel Frust über den neuerlichen Lockdown, mehr über die Art der Vermittlung desselben (Freizeitangebot, Unterhaltung) als über die Maßnahme selbst. Ansonsten Aufstehen, Luftholen und weitermachen.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Das Sommerklang-Festival, das wir dank der BKM-Förderung neu konzipieren konnten.


Karsten Witt, Gründer und Geschäftsführer der Karsten Witt Musik Management GmbH

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Bisher war ich fest davon überzeugt, dass unsere Arbeit für viele Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes eine gewisse Relevanz hätte. Der Applaus nach den Konzerten schien immer auch Anerkennung für unsere Anstrengungen einzuschließen. Etwas pathetisch ausgedrückt, dachte ich, dass wir eine Utopie gelingender Kommunikation und erfüllten Erlebens vermitteln und damit helfen könnten, unser Leben ein bisschen erträglicher und unsere Welt ein bisschen besser zu machen. Wie wichtig erschiene das gerade in der gegenwärtigen Situation angesichts der drängenden existentiellen Probleme. In dem von Medizinern bestimmten öffentlichen Diskurs liegt unser Heil jedoch nur noch in der Beschwörung zukünftig massenhaft verfügbarer, industriell gefertigter Therapiemittel und Impfstoffe. Unsere Arbeit erscheint dagegen marginal und – zur Wahrung der notwendigen Abstände – verzichtbar. In der Fixierung auf das eine Problem nehmen hilflos agierende Politiker, die den Blick fürs große Ganze schon lange verloren haben, eine unüberschaubare Menge an Kollateralschäden in Kauf. Gemessen an den Hungersnöten, die die Krise anderswo auf der Welt produziert, erscheint das plötzliche Ende erfolgversprechender Künstler-Karrieren, Veranstaltungsreihen und Festivals oder gar von Dienstleistern wie Bühnentechnikern und Künstlermanagements allerdings in der Tat als ein Luxusproblem.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Das Aufrechterhalten meines Büro-Alltags und die Planung neuer Projekte hilft. Die Arbeit an immer neuen Anträgen auf Kurzarbeit, Kredit, Betriebskosten-Erstattung etc. wirkt hingegen eher deprimierend. Die Hoffnung, mit der Gründung unserer Firma von inkompetenten Beamten und Politikern unabhängig zu werden, hat sich leider als Illusion erwiesen.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Hin- und hergerissen zwischen schönen neuen Plänen für 2021/22 und der Aussicht, dass die Pandemie uns auch die nächste Saison hindurch noch begleiten wird. Ohnehin fürchte ich, dass wir, wenn wir jahrelang Abstand geübt haben, den dann etablierten Sicherheitsstandard angesichts neuer Influenza-, Corona- und sonstiger Viren nicht mehr aufgeben werden. Konsequenterweise konzentriere ich mich gerade auf Konzepte für Open-Air-Konzerte.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Unser Büro am Montag um 10:00: Hier waren wir zuhause.


Konstantin Heidrich, Cellist des Fauré Quartett

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Man wird dankbarer für die Auftritte und die Beschäftigung, die man hat. Aber: Die Politik straft die Kunstschaffenden ab oder lässt sie zumindest im Stich. Das »Jeder für sich« funktioniert nicht – ein Leben ohne Kultur auch nicht.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Die intensive Beschäftigung mit Gabriel Fauré und die Arbeit des Quartetts zur Vorbereitung unserer CD-Aufnahme im Mai.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Wir müssen etwas ändern. Nach einer anfänglichen kurzen und durchaus willkommenen Ausruhphase, machte sich dann – und macht sich jetzt im Angesicht des erneuten Lockdowns für die Kultur – ein starker Zweifel breit, ob wir Systemrelevanz und Seelenresilienz nicht viel näher aneinander bringen müssen, gerade in der Krise. Kultur tut gut. Warum haben Künstler und Kunstschaffende offenbar so wenig Lobby und warum vergessen diejenigen die Künstler, die sich gern mit ihnen schmücken?

Die Streaming Dienste müssten ebenfalls abschalten, dann erst wäre der Lockdown ein Knockdown.

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Unser Boot, ein steinaltes finnisches Alu-Schmuckstück, gnadenlos untermotorisiert und dem Wellengang hemmungslos ausgeliefert. Aber es bringt meine Familie und mich weg vom (C-)Alltag und setzt uns über zu erholsamen Stunden und Tagen…


Andreas Staier, Cembalist und Pianist

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Im Austausch mit Kollegen kam, neben allem Katastrophalen, neben den unterschiedlichsten und abgründigsten Ängsten, immer wieder auch Erleichterung zur Sprache. Erleichterung darüber, erst einmal keine Termine zu haben. Warum tun wir uns den Reisestress an? Ich war glücklicherweise schon immer neugierig auf »fremde Länder und Menschen«. Neben der Musik ist die Geographie meine größte Leidenschaft. Aber wieviel kann ich aufnehmen, kennenlernen, wenn ich an jedem Ort nur zwei, drei Tage bin? Der bekannte Satz von Blaise Pascal ist mein Begleiter und Tröster in diesen Monaten geworden: »Tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre.«

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Stabilisiert hat mich – die Musik. Plötzlich hatte ich Zeit, einige seit Ewigkeiten geplante Projekte zu verwirklichen und fertigzustellen; zum einen, endlich den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers aufzunehmen; zum anderen, meine langjährige Ferienbeschäftigung, sechs Cembalostücke, hervorgegangen aus meinem sporadischen »Kompositionsunterricht« bei Brice Pauset, fertigzustellen. Mich persönlich haben all die Podcasts, die Kollegen in ihren eigenen vier Wänden aufnahmen, nur noch trauriger gemacht. Ich hatte wenig Neigung, da mitzumachen. Wozu schließlich hat man all die CDs, in wesentlich besserer Akustik, aufgenommen? Mit Freuden dagegen habe ich Anfragen nach Online-Seminaren angenommen. Für diverse Hochschulen im In- und Ausland habe ich – meist halb improvisierte – Vorträge über all die Lieblingsthemen gehalten, bei denen ich mich halbwegs kompetent fühle. Und durch diese Seminare ergaben sich verschiedenste Anregungen und neue Bekanntschaften.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Ich bin pessimistisch. Unser Kulturleben war schon vor der Pandemie nicht in bestem Zustand. Ich fürchte, dass ihre Langzeitfolgen uns noch nicht im mindesten klar sind. Die große, für mich völlig uninteressante Event-Kultur wird wieder auferstehen. Aber was wird aus allen spezifischeren, weniger im Mainstream schwimmenden Initiaven, Veranstaltungsorten, Künstlern? Wie wird unsere Gesellschaft, wie werden insbesondere ihre weniger priviligierten Mitglieder diese Traumatisierung überstehen?

Was werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Meine Spaziergänge durch den Kölner Stadtwald. Inzwischen kenne ich jeden Baum dort, und die meisten Enten auch.


Juditha Haeberlin, Geigerin im Ensemble Resonanz

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Gar nicht, wenn ich von dem Studieren und Umgehen von und mit Coronakonzepten absehe…

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Sport: laufen und Krafttraining; meditieren; Natur.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Ich hoffe, dass die neuen Einschränkungen helfen, die Pandemie in den Griff zu bekommen! Ich hoffe, dass finanzielle Hilfen schnell dort ankommen, wo sie dringend gebraucht werden. Ich selbst werde, mit den mir angebotenen Hilfen, zurechtkommen, habe mein Projekt für Lockdown 2 aber leider noch nicht gefunden.

Was werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Die Erkenntnis, dass Corona eine Art Kontrastmittel ist, das zeigt, was in unserer Gesellschaft fehlt. Ich habe viel über Vereinzelung nachgedacht. Für »United we stream« habe ich ein Stück von Gerhard Stäbler programmiert. Messenger of spring für elektronische Violine, ein graphisch notiertes Stück in 9 Bildern. Gespielt bei uns von 3 verschiedenen Geiger:innen.


Franziska Kronfoth, Regisseurin und Gründerin von HAUEN & STECHEN

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Das Musiktheaterkollektiv HAUEN & STECHEN hat sich spezialisiert auf eine Art von Oper, die die physische Distanz zwischen Zuschauer und Darsteller aufhebt. Das ist auf einmal nicht mehr möglich, da mussten wir neue Wege finden, diese Direktheit erlebbar zu machen. Und erleben auch einen Schmerz.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Der Kontakt zur Natur, das Draußensein, der viele Sport.. Schwimmen, Klettern, Laufen. Und die Kontakte zu den Menschen, die wichtig sind, nicht abreißen zu lassen.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Mit vielen Fragen.. wie lange wird dieses dystopische Szenarium weiterbestehen? Die physische Grundlage der Gemeinschaftlichkeit ist stark in Frage gestellt. Und die Unsicherheit, dass eine Arbeit von einem Tag auf den anderen abgesagt werden kann – das geht nicht zusammen mit den intensiven und engagierten Produktionsprozessen, in die viel Herzblut fließt – wie lange halten wir das durch, immer wieder unsere Pläne zu verwerfen, neu zu sortieren, ohne in ein energiesaugendes Schwarzes Loch hineinzuarbeiten?

Die Zeit, die dabei frei wird, ist sicher ein Geschenk, wir können genauer arbeiten, innehalten, Atem holen. Ich habe zum ersten Mal als Regisseurin einen Film gedreht: Banuta, die erste lettische Nationaloper, haben wir komplett filmisch umgesetzt, in einem Mix aus Theatersetting und realen Orten.

Was werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

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Reinhard Goebel, Dirigent

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Ich habe den Hagel von Absagen gar nicht wahrgenommen und nie nach hinten, sondern nur nach vorne geschaut: mich unendlich darüber und darauf gefreut, ohne Unterbrechung einmal wieder 2–3 Wochen an einem Thema zu arbeiten. Zufälligerweise fiel auch noch – was ich aber erst Wochen später bemerkte – mein Telefon »trocken«, die Klausur war wunderbar, bitte mehr davon!

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Morgens zwischen 5 und 6 Uhr raus, eine Riesentasse Earl Grey, dann an den Schreibtisch und zwei Stunden Noten studieren und Stimmen bezeichnen, danach drei Stunden wissenschaftliche Recherche und Arbeit, 13 Uhr Mittagsschlaf und dann um 15 Uhr mit einer Ladung Bücher raus auf den Balkon … abends 21 Uhr: Licht aus.

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Wenn mich der Abschwung in diesem Corona-Jahr 1 ebenso trifft wie der Aufschwung im Jahr davor, könnte es für mich ein super Jahr werden!

Welches Objekt werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Ich habe zum 300. Geburtstag der Brandenburgischen Konzert von Bach – (1721–2021) ein Buch geschrieben – und habe mich deshalb noch einmal ganz tief in deutsche Hofkultur (klingt leicht, ist aber eine Sisyphus-Arbeit!), Kompositionslehre und natürlich die Physis der Werke selbst eingegraben… meine Bibliothek ist in dieser Zeit um gute zwei Meter (Länge!) gewachsen.


Anna Lucia Richter, (Mezzo-)Sopranistin

Wie hat sich in den letzten Monaten Ihr Bild vom eigenen Tun verändert?

Während der ersten Monate ist mir noch einmal klarer geworden, dass Musik für mich lebenswichtig ist. Sowohl als Beruf ist sie für mich alternativlos (ja, wie so viele habe auch ich mich gefragt, was ich täte, wäre ich nicht Sängerin, ich blickte mich sogar nach Praktika im Lektorat um, aber ohne das Singen würde ich einfach innerlich vertrocknen), als auch als Zuhörerin ist Musik, ist Kunst mein täglich (Seelen-)Brot.

Was hat Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu stabilisieren?

Mein größtes Projekt war natürlich mein Fachwechsel vom Sopran zu Mezzosopran. Alle zwei bis drei Tage habe ich mit Tamar Rachum in Tel Aviv geskyped und ich muss sagen: Es ist eigentlich wirklich unglaublich, dass wir einen ganzen Fachwechsel per Video-Calls durchgezogen haben. So waren meine Tage gut gefüllt mit Technik-Übungen und Repertoirelernen. Zusätzlich habe ich viel regelmäßiger Pilates und Yoga gemacht. Mein Rücken dankt es mir…

Wie blicken Sie in die Zukunft angesichts der zweiten Pandemie-Welle und neuer Einschränkungen?

Sehr besorgt. Nachgewiesenermaßen gab es in der Kultur kein einziges »Superspreader-Event«. Alle haben sich nach Leibeskräften bemüht, nötige Hygienemaßnahmen umzusetzen. Viele Veranstalter haben in finanziell sowieso schon äußerst angespannten Zeiten viel Geld investiert, um gut durchdachte Konzepte auszuklügeln und umzusetzen, die einen Spielbetrieb ermöglichen. Auch wir Musiker, die gezwungenermaßen reisen mussten, um wenigstens die seltenen verbliebenen Auftrittsmöglichkeiten zu nutzen, haben viel Geld investiert für unzählige PCR-Tests, kurzfristige Reisen und etliche Reise-Umbuchungen/-Stornierungen – einmal ganz abgesehen von den immensen Honorarausfällen und damit verbundenen existenziellen Schäden, die lebenslang nicht mehr aufzuholen sind. Die Logik, dass dieser »Lockdown light« nun wieder »Kultur zero« bedeuten soll, erschließt sich mir daher nicht. Außerdem finde ich es verheerend, dass auch Musikschulen wieder geschlossen sind. Dass sie zur Freizeitgestaltung gezählt werden und nicht als Bildungseinrichtung gelten, ist herzzerreissend und führt umso drastischer vor Augen, was wir eigentlich schon lange wussten: Kreative Erziehungsangebote gelten als »nice to have« und nicht als das, was sie meiner Meinung nach sind: unersetzlich für jede kindliche Seele in einer Welt, die sowieso schon viel zu sehr von Schwarz-Weiß-Denken und Oberflächlichkeit geprägt ist.

Was werden Sie in der Rückschau mit dieser Corona-Zeit assoziieren?

Wolken, Himmel und Licht haben mich schon immer friedlich gestimmt und in ihrer Vielfältigkeit und Unangreifbarkeit beeindruckt. Und soviel Zeit, den Wolken beim Wandern zuzuschauen, hatte ich mein ganzes Leben noch nicht.