Ein Interview mit Steven Isserlis

Text · Übersetzung · Fotos © CHRISTIAN MENKEL · Datum 21.6.2017

Beim Abschlusskonzert des diesjährigen Mozartfests in Augsburg spielte der Cellist Steven Isserlis Richard Strauss’ Don Quixote. Im Umkreis des Festivals Isserlis-Fotos, wo man hinsieht. Die Person hinter dem Poster besteht allerdings darauf, dass Don Quixote nicht als Instrumentalkonzert mit Isserlis als Starsolisten verstanden werden soll. Vor dem Auftritt interviewe ich ihn öffentlich, als Teil des Festival-Rahmenprogramms. Hier eine gekürzte und redigierte Version unseres Gesprächs.

Jeff Brown und Steven Isserlis, Publikum
Jeff Brown und Steven Isserlis, Publikum

VAN: Wenn du ein Stück vorbereitest, hinter dem wie bei Don Quixote eine Geschichte steht – an welchem Punkt denkst du dann über diese Geschichte nach?

Steven Isserlis: In diesem Fall: die ganze Zeit. Ich glaube, ich kann für jeden einzelnen Takt sagen, was Strauss damit darstellen wollte, weil es so bildlich ist, fast wie ein Film. Tatsächlich möchte ich irgendwann einen Film daraus machen – aufgenommen habe ich das Stück nämlich schon – wahrscheinlich mit Animationen oder in einem Mix aus Animation und Schauspielern, aber ohne Worte. Strauss selbst hat gesagt, er könne unterschiedliche Biersorten musikalisch hörbar machen – so genau ist er.

Ich erinnere mich noch: Zum ersten Mal habe ich Don Quixote mit Paul Tortelier am Cello gehört. Tortelier war großartig – aber ich habe das Stück gehasst, weil ich komplett verloren ging in der Musik und nicht wusste, was passiert. Es ist ein tolles Stück, aber ob es als absolute Musik funktioniert, bezweifle ich. Es ist definitiv Programmmusik.

Artikel jetzt twittern: Gesundes Misstrauen – Steven Isserlis im Interview bei @vanmusik.

Hast du eine Lieblingsaufnahme oder so etwas wie eine Referenz für den Don Quixote?

Ich höre nie Aufnahmen von Stücken, die ich spiele, weil man sich davon so leicht beeinflussen lässt. Aber wenn ich mir eine anhören würde, dann die von Strauss selbst mit Mainardi.

Letztens habe ich tatsächlich eine sehr seltene, erst kürzlich entdeckte Don Quixote-Aufnahme gehört mit Casals und Lionel Tertis, dem großartigen Bratschisten, aufgenommen in London noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben dieses nicht ganz vollständige Band gefunden und es im amerikanischen Radio gespielt. Ich war da gerade in Australien und habe auf meinem Computer zufällig reingeschaltet. Ich muss sagen: Casals war großartig, er ist mein Held, aber Lionel Tertis – der genau am gleichen Tag geboren wurde wie Casals, am 29. Dezember 1876 – war eine Offenbarung als Sancho Panza.

In Interviews sprichst du häufig über Schumann und Bach, manchmal über Dvořák. Wie stehst du zu Strauss?

Gemischt. Ich liebe Don Quixote, Till Eulenspiegel und Don Juan. Da hört es dann aber auch schon auf. Ich bin, was das angeht, ziemlich ignorant – diesen Sommer habe ich den Rosenkavalier gehört und es hat mich nicht umgehauen. Alle sagen, es war so schön – es ist schön, aber ich fand es etwas schmierig. Ich traue seiner Seele nicht ganz. Er war kein großartiger Mann. Es hat mich etwas abgeschreckt, als ich einen Brief von ihm gelesen habe, den er Ende des 19. Jahrhunderts an Cosima Wagner geschrieben hat und in dem stand, er fände, es gäbe zu viele Juden in Bayreuth. Das hat ihn mir nicht besonders sympathisch gemacht (lacht).

Aber wenn er komisch ist, oder wenn er über die Gefühle von anderen spricht, dann ist er großartig. Wenn er über seine eigenen Gefühle spricht … – ich würde dann eher Schumann hören oder Janáček oder ….

https://www.youtube.com/watch?v=2jJqeCgOLuc

ROBERT SCHUMANN, FÜNF STÜCKE IM VOLKSTON OP. 102; STEVEN ISSERLIS (CELLO), CHRISTOPH ESCHENBACH (KLAVIER)

Du hast mal gesagt, dass du kein Wagnerfan bist. Vielleicht sind die Eigenschaften, die du an Straus nicht magst, genau die, die dich an Wagner erinnern?

Wahrscheinlich. Ich mag all das nicht, was ich ungesund finde in der Musik, und ich empfinde seine Seele einfach nicht als gesund. Lustig: Jemanden wie Rachmaninow bewundere ich. Er ist so eine ehrliche Seele und er schreibt meisterhaft, genau wie er fühlt. Strauss, so wirkt es für mich, sucht immer nach dem Effekt.

Hast du andere Beispiele für Musik, die du als ›ungesund‹ empfindest?

Frederick Delius, den englischen Komponisten (lacht). Wenn du seine Musik hörst, musst du unter die Dusche. Es gab mal diesen Typen, der in meine Schwester verknallt war und ihr als romantische Geste eine Aufnahme mit Musik von Delius geschickt hat. Sie hat die Beziehung zu ihm direkt beendet.

Isserlis allein auf Sofa hochkant
Isserlis allein auf Sofa hochkant

Wie war es, mit György Kurtág zu arbeiten?

Er ist so etwas wie ein Vater für mich. Jede Note, die er schreibt, ist ihm sehr wichtig. Ich weiß, manche Leute macht er verrückt, aber ich finde es wundervoll: Ich spiele seine Stücke und er spricht stundenlang über sie. Immer fallen ihm neue Bilder zu seinen Werken ein – er spielt dann auf dem kleinen Klavier ein Stück einer Schubert-Sonate oder etwas von Bach oder so und sagt: ›Hier kommt das her.‹ Und er erklärt es immer in Bezug auf die Tonalität. Ich sehe ihn nicht so oft, aber ich rufe ihn an und sogar übers Telefon hört er alles.

Du hast ein Programm gespielt mit den Bach-Cello-Suiten und Kurtág …

Ich habe die Bach-Suiten vor etwa 10 Jahren aufgenommen und dachte: ›Großartig, die muss ich jetzt nie wieder spielen.‹ Nicht, dass ich sie nicht mögen würde – ich liebe sie – aber ich werde so nervös, wenn sie anstehen, es ist die Hölle. Und dann habe ich mich plötzlich, nachdem es mir Jahre lang immer wieder angetragen wurde, selbst zum Direktor der Wigmore Hall sagen hören, dass ich die Suiten dort spielen würde. Danach hatte ich 18 Monate lang schlaflose Nächte bis zum Auftritt. Aber ich habe herausgefunden, dass die Tage, an denen ich die Suiten spielen sollte, in dieselbe Woche fielen wie Kurtágs 90. Geburtstag. Deswegen hat es absolut Sinn ergeben, Kurtág und Bach zu kombinieren.

Die historische Aufführungspraxis ist eine ganz spezielle Sphäre, mit einer eigenen Kultur, mit Lehrmeinungen, die nur dort gelten. Wenn du Bach spielst, inwieweit lässt du dich dann auf diese Welt ein?

Ich habe da gemischte Gefühle. Jane Cowan, meine Lehrerin, hat viele Leute unterrichtet, die das Rückgrat des Amsterdamer Alte-Musik-Szene bildeten. Meine beiden Schwestern spielen klassische und barocke Instrumente in verschiedenen Orchestern. Ich hänge da also ein bisschen drin und ich habe mit vielen berühmten Barock- und Klassik-Dirigenten gearbeitet.

Andererseits halte ich es nicht aus, wenn jemand Bach spielt und versucht, dir zu zeigen, wie viel er vom barocken Stil versteht – was normalerweise nicht sehr viel ist. Es klingt affektiert und unnatürlich. Es sollte nie affektiert und unnatürlich klingen. Wenn man die Abhandlungen aus der Zeit liest, geht es in erster Linie um den Sinn für gute Musik.

Natürlich gibt es ein paar Dinge, die wir über die Sprache der barocken und der klassischen Musik lernen müssen: wie damals unterschiedliche Rhythmen notiert wurden und so etwas. Aber all die Schriften aus der Zeit sind so unterschiedlich. Geminiani sagt dir zum Beispiel, du sollst auf jeder Note vibrieren (was der gängigen Historischen Aufführungspraxis entgegensteht, d. Red.). Du siehst: Fundamentalismus und das strikte Festhalten an Lehrmeinungen sind in allen Lebenslagen gefährlich.

Es klingt, als hättest du ähnliche Sachen gelesen wie die Leute in dieser Welt, aber du ziehst daraus andere Konsequenzen.

Ich mogele ein bisschen. Ich liebe die Bücher von Clive Brown, die zeigen, was in all den alten Texten zu Fragen steht, die sich viele stellen. Die sagen so unterschiedliche Sachen – am Ende zuckst du nur mit den Schultern und folgst deinen Instinkten.

Ich hab ein paar Mal gelesen, dass du dich selbst für pessimistisch hältst.

(Lacht) Vor Konzerten auf jeden Fall. Meine Freunde wissen: Wenn sie mit mir spielen, werde ich sagen: ›Ich hasse das Leben. Das Leben hasst mich‹, kurz bevor ich auf die Bühne gehe. Das ist Teil meines Rituals vor Konzerten. Ich bin nicht pessimistisch, wenn ich spiele. Ich bin pessimistisch, bevor ich spiele.

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LUDWIG VAN BEETHOVEN, SONATE FÜR CELLO UND KLAVIER OP. 102 NO. 1; STEVEN ISSERLIS (CELLO), PETER EVANS (KLAVIER)

Hast du manchmal Lust, weniger zu machen?

Ja. Aber sage ich ›es reicht‹? Nein. Das liegt bestimmt teilweise daran, dass ich mindestens bis 30 noch nicht wirklich Karriere gemacht hatte. Ich dachte mir: ›Wenn ich das ablehne, kriege ich nie wieder die Chance, es nochmal zu machen.‹

Vielleicht war es jetzt im Rückblick sogar gut, dass deine Karriere erst etwas später gestartet ist.

Naja. Es war ziemlich hart zu der Zeit. Aber ja, ich glaube, es hat mir die Zeit gegeben, meine eigene Stimme zu finden – und wenn ich Leute sehe, die zum Karrieremachen gedrängt werden im späten Teenageralter oder Anfang zwanzig – dann vermute ich, die haben nie die Chance, sich wirklich zu entwickeln.

Was hast du vor deiner Karriere gemacht?

Ich habe Konzerte gespielt, aber es hat nur so gerade zum Leben gereicht. Meine Eltern haben mich bis weit in die 20er hinein unterstützt. Die ständige Frage ›was werde ich nächste Saison machen?‹, war schon stressig. Ein Bekannter hatte einen ziemlich guten Ausdruck dafür: ›Ich werde schneeblind, wenn ich in meinen Kalender gucke.‹ Obwohl, so schlimm war es bei mir nie.

Jeff und Isserlis auf dem Sofa, Publikum seitwärts
Jeff und Isserlis auf dem Sofa, Publikum seitwärts

Hast du jemals über einen geregelten Job nachgedacht?

Na ja, das hätte geheißen: im Orchester spielen. Ein anderer Freund hat zu mir gesagt, wenn ich im Orchester spielen würde, würde ich die ganze Gruppe runterziehen. Meine Art zu spielen, meine Darmsaiten würden einfach nicht in ein Orchester passen – das war ein ziemlich gutes Argument dagegen.

Könntest du dir vorstellen, hauptsächlich zu unterrichten?

Nein. Ich bin nicht wirklich ein Lehrer, ich bin eher ein Coach. Ich gebe viele Meisterkurse und ich glaube, dort kann ich etwas bieten. Aber ich bin so überzeugt von meiner Sicht auf Stücke, dass ich es schwer finde, Studierenden zu erlauben, ihre eigenen Ideen zu entwickeln. Ich habe etwas von einem Tyrannen. Ich will das gar nicht, aber wenn ich so viel Arbeit in ein Stück gesteckt habe, das ich spiele, finde ich es schwer, den Studierenden Raum zu geben sich zu entwickeln.

Außerdem bin ich nicht wirklich gut im Technik-Unterrichten. Ich glaube, ich würde all die armen Studierenden, die jede Woche zu mir kämen, zermürben und ich wäre noch nicht mal in der Lage, ihre technischen Probleme zu lösen.

Deswegen ist es gut so, wie es ist: Ich komme vorbei, ich gebe Meisterkurse, hoffentlich gebe ich einige Werte weiter, die ich von meinen Lehrerinnen und Lehrern vermittelt bekommen habe und dann können die eigentlichen Lehrerinnen und Lehrer all die Arbeit machen und ich kann weiterziehen in den nächsten Kurs.

Isserlis mit Getränk
Isserlis mit Getränk

Welche Cellist*innen begeistern dich heutzutage?

Es ist schwierig, Namen zu nennen, weil dann die anderen, die ich auch höre, beleidigt wären. Von den heute erfolgreichen Cellist*innen bin ich nicht begeistert, weil ich ihre musikalischen Werte nicht teile. Das liegt nicht an ihnen, es ist die Musikwelt, die diese eher oberflächlichen Musiker*innen fördert, anstatt Leuten zu erlauben, sich zu entwickeln. Aber es kommen gerade ein paar Neue, die sich wirklich Gedanken machen, die Kammermusik ernst nehmen. Und Geiger*innen – als ich groß wurde, hatte ich Probleme mit den meisten neuen Geiger*innen. Jetzt werden die Geiger*innen immer musikalischer, finde ich.

Warum hattest du Probleme mit ihnen?

Es gab diese New Yorker Schule einer durchgängigen, quasi Hyper-Intensität. Sogar, wenn die Musik es nicht gebraucht hat und es überhaupt nicht naheliegend war – eine Art des konstanten extrovertierten Spielens. Ich fand das widerlich.

Ist das nicht auch ein Vorteil beim Cellospielen, dass es da weniger eine Tradition des musikalischen Feuerwerks nur um seiner selbst willen gibt?

Oh ja. Es sind nicht mal ›Feuerwerke um ihrer selbst willen‹, es ist diese Intensität. Selbst, wenn du eine unschuldige Haydn-Melodie spielst (er atmet schwer ein): ›Ich muss das Ende der Halle erreichen und allen zeigen, was ich für ein Macho bin.‹ Aber diese Herangehensweise kannst du mit dem Cello genauso leicht zur Schau stellen wie mit der Geige oder dem Klavier.

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JOSEPH HAYDN, CELLOKONZERT NO. 1 C-DUR, I. MODERATO; STEVEN ISSERLIS (CELLO), ANTHONY MARWOOD UND DAS NORWEGIAN CHAMBER ORCHESTRA

Letztens gab es wieder mal einen Blindtest mit Stradivari-Geigen … Warum rollst du mit den Augen?

Dieser Test ist so lächerlich. Ich habe darüber etwas im Telegraph geschrieben, nachdem die einen Artikel dazu gebracht haben, der behauptete ›Der Stradivari-Mythos wurde für immer begraben‹ und dazu ein Bild von mir, als ob ich dem zustimmen würde. Sie haben die Stradivaris vielleicht zehn Minuten lang gespielt. Du kannst eine Stradivari nicht zehn Minuten lang spielen und alles über sie wissen. Das Publikum hat also die neuen Instrumente bevorzugt – naja, die neuen Instrumente waren wahrscheinlich lauter!

Ich will überhaupt nicht sagen, dass neue Instrumente nicht großartig sind. Es gibt ein paar tolle neue Instrumente, mein Freund Christian Tetzlaff spielt eine Greiner Geige und sie klingt wundervoll. Aber zu sagen: ›Stradivari ist ein Mythos und das ist alles nur ein Marketing-Trick‹, ist einfach nur lächerlich. Wenn jemand sagt: ›Beethoven war ein Genie!‹, heißt das ja auch nicht, dass alle moderne Musik schlecht ist. Beethoven war ein Genie. Stradivari war ein Genie.

Übst du auch, wenn du unterwegs bist, oder bereitest du alles zuhause vor?

Beides. Ich übe sehr regelmäßig. Seitdem ich 10 Jahre alt bin, habe ich nie an mehr als drei aufeinanderfolgenden Tage nicht Cello gespielt. Das würde ich auch nicht wollen.

Auch im Urlaub?

Auch im Urlaub. Ich weiß gar nicht wirklich, was Urlaub ist (lacht). Nein, wenn ich gelegentlich mit meiner Freundin in den Urlaub fahre oder so, muss ich eine Stunde am Tag spielen, sonst werde ich nervös. Ich vermisse es. Ich mag das Cello.

Dein Sohn spielt Cello. War es dir wichtig, dass er eine musikalische Ausbildung bekommt?

Mir war es wichtig, dass er Musik liebt. Das Ding ist: Als er klein war, dachte er, jeder Komponist wäre Schumann, weil er mich so viel über Schumann hat reden hören. Ich erinnere mich noch, wie er nach Hause kam: ›Papa, ich habe heute Schumann gehört!‹ Seine Mutter sagte: ›Ich habe ihm eine Beethoven-Symphonie vorgespielt.‹ ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.