Ein Interview mit Simon Steen-Andersen

Text · Fotos © LARS SVANKJÆR · Datum 21.3.2018

Bei der Aufführung von Simon Steen-Andersens Klavierkonzert in Berlin gab es einen Moment, in dem es schien, als ob Percussion-Klänge aufstiegen und sich knapp unter der Saaldecke konzentrierten wie heiße Luft – es klang, als würde der Pierre-Boulez-Saal jeden Moment einstürzen. Ein paar Wochen später traf ich den dänischen Komponisten in seiner Wohnung, nur einen kurzen Fußmarsch von der Berliner Philharmonie entfernt. Sein Arbeitszimmer war vollgestopft mit Celli, Keyboards, Wörterbüchern und Legosteinen. Auf seinem Computerbildschirm liefen alte schwarz-weiß-Aufnahmen von Orchesterkonzerten.

VAN: Arbeitest Du hier gerade an einem neuen Stück?

Simon Steen-Andersen: Ja, an einem Stück für Orchester, Big Band und Chor. Das hier ist nur Archivmaterial – ich kombiniere diese alten Aufnahmen mit den Live-Gruppen, das geht dann hin und her.

Hast Du die Intonation der aufgenommenen Töne angepasst, damit die Live-Gruppen wissen, auf welcher Tonhöhe sie spielen sollen?

Ich habe sie absichtlich so gelassen, wie sie war. Dadurch gewinne ich Unmengen an kleinen Zwischenstufen zwischen den Tönen, was einen großen Teil des Stücks ausmacht. Und die Intonation der Chöre schwankt auf den Aufnahmen natürlich. Wenn ich Mikrotöne brauche, kann ich deswegen auch immer einen Chor-Akkord einbauen (lacht).

Welcher Aspekt des Stückes ist für Dich besonders aufregend?

Ich will die Überraschung nicht verderben.  

Das verstehe ich. Komponistinnen und Komponisten verraten oft zu viel über ihre Musik.

Manchmal redet man viel über ein Stück und das größte Problem ist, dass trotzdem niemand wirklich das hört, wovon man gesprochen hat, oder dass das Heraushören dann alle Aufmerksamkeit beansprucht. Und dann gibt es diese Musik, die fast so etwas hat wie Pointen. Das ist bei meiner Musik häufig der Fall. Und die will man natürlich nicht verderben.

Ein Charakteristikum Deiner Stücke ist, dass sie mit etwas Normalem anfangen und dann sehr merkwürdig werden.

Ich glaube, das ist mein persönlicher Geschmack. Ich hatte irgendwann diese Offenbarung, die so banal ist, dass es fast peinlich ist: Man kann etwas nur als verrückt wahrnehmen, wenn man weiß, wie es geradegerückt klingt. In der zeitgenössischen Musik gibt es oft nur das Verzerrte, Zerstückelte oder Verfremdete. Für mich ist die Transformation – das Erleben der Unterschiede – der interessante Teil.

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Ein Ausschnitt aus Simon Steen-Andersens Black Box Music.

Wie bist auf diese Technik gekommen?

Es ist eigentlich zu banal, um es wirklich als Technik zu bezeichnen, aber die in erster Linie abstrakten Erfahrungen haben mich irgendwann nicht mehr zufrieden gestellt, und so bin ich intuitiv in Richtungen gegangen, die es einem erlauben, dieselben Klänge und Elemente klarer wahrzunehmen. Gleichzeitig habe ich nach stärkeren Verbindungen zwischen der Musik und der echten Welt gesucht.

Ein einfaches Beispiel: Wenn man die Aufnahme eines Beckens um zwei Oktaven nach unten pitcht, hört man plötzliche all die Obertöne. Es klingt spektral, wunderschön, wie Musik aus einer anderen Welt – aber total abstrakt. Wenn man dazu ein Video abspielt, in dem jemand in Zeitlupe auf ein Becken schlägt, erlebt man das komplett anders: Man erlebt das Spannungsfeld zwischen dem, was es vorher war, und dem, was daraus wurde.

War Dir die Rezeption Deiner Musik durch das Publikum schon immer wichtig?

Ich glaube, eine Weile habe ich so getan, als sei sie mir nicht wichtig. Dann gab ich langsam mehr und mehr zu, dass es das doch war. Aber ich sehe mich selbst auch immer als Publikum. Ich schreibe für mich und das Publikum, mit einem Fokus auf dem Erleben.

Du hast über Pointen gesprochen. Versuchst Du, in Deiner Musik lustig zu sein?

Nein, und als das erste Mal Leute bei einem Konzert von mir gelacht haben, hat mich das sehr überrascht. Aber vielleicht ist lustig das falsche Wort. Mir geht es um Humor, aber das ist ein weiteres, komplexeres Feld. Diese Momente, die ich bewusst als Pointen bezeichne, sind oft nur Überraschungen, die aber auf einem sehr limitierten Material basieren. Man hätte es kommen sehen können – hat man aber nicht, und dann kommt es. Es ist eine etablierte Art von Logik.

Aber funktionieren so nicht auch Witze?

Es ist ein Witz, nur auf eine abstrakte oder theoretische Art. Wenn man eine hohe Erwartung in eine Richtung aufbaut und dann in die ganz andere geht – das ist auch ein Witz. Auf Dänisch nennen wir die Trugschluss-Kadenz ›enttäuschend‹. Man freut sich auf diesen Dur-Akkord und stattdessen kriegt man diese traurige Kadenz (lacht).

In Deinem Klavierkonzert gibt es einen Moment, in dem eine Video-Aufnahme eines fallenden Klaviers rückwärts abgespielt wird und das Klavier in die Luft fliegt. Das hat mich zum Lachen gebracht.

Das ist lustig, weil es mit der Schwerkraft spielt, aber auch, weil es einen aus einem neuen Blickwinkel auf das Klavier blicken lässt. Es wird fast menschlich, es ist, als ob seine Beine tanzten.

Ich versuche oft, die Perspektive auf etwas zu verändern, die Dinge in einem anderen Licht dastehen zu lassen. Und das deckt sich ziemlich mit dem, was wir als lustig verstehen. Grundsätzlich suche ich nach diesen Momenten, in denen wir kleine Endorphin-Dosen ausschütten. Es ist dieser beglückende Moment, wenn die Dinge eine neue Gestalt annehmen oder man etwas Vertrautes ganz neu erlebt.

Gab es jemals Widerstand gegen diese Idee, für die Endorphin-Ausschüttung zu komponieren?

Ich denke, die Kritik besteht gegenüber dem Aufbauen von bestimmten Erwartungen, weil es zu vorhersehbar ist. Das scheint uns noch heute recht nah verwandt mit dem, was wir als banal erachten. Aber gerade die Vorhersehbarkeit lässt einen erst auf Überraschungen kommen.

Ich habe mir darüber schon viele Gedanken gemacht. Ich habe ja eben schon gesagt, dass ich nicht zu viel über das neue Stück verraten möchte. Damit gebe ich ja schon zu, dass es ein bisschen etwas von einem Witz hat, der nicht mehr lustig ist, wenn man ihn ein paar Mal gehört hat. Bei großartiger Musik ist das oft andersrum: Man hört sie immer wieder und sie scheint dabei nur noch mehr zu wachsen. Manche dieser ›Pointen‹ haben beim ersten Hören die größte Wirkung.

Es überrascht mich, dass diese Stücke sich nicht so schnell abnutzen, wie ich es erwartet habe. Es gibt Leute, die einige meiner Stücke schon öfter gesehen haben. Ich bin immer dabei, wenn Black Box Music gespielt wird, ich habe es also jedes Mal gesehen. Doch auch, wenn ich schon vorbelastet bin, höre ich immer noch genau hin. Und viele Sachen, über die ich mir Sorgen gemacht habe, funktionieren für mich noch immer. Außerdem ist das ja nur ein kleiner Aspekt meiner Arbeit.

Du hast mal gesagt, Dein Material sei Energie.

Ich glaube, das war im Programmheft für mein erstes Streichquartett, das ich 1999 geschrieben habe (lacht).

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Simon Steen-Andersen, Streichquartett No. 1; Silesian String Quartet

Trifft das heute nicht mehr zu?

Doch, aber anders, als ich dachte. Ich meinte das damals ziemlich wörtlich. Ich hatte dieses Bild im Kopf, dass ich mit Energie-Punkten schreibe, dass ich sie bewegen könnte, Energie hinzufügen oder die Art, sie auszudrücken, verändern. Ich habe mir das ein bisschen wie einen kleinen Raum voller Partikel vorgestellt.

Diese Metapher hat für mein erstes Streichquartett und ein paar andere Sachen gut funktioniert. Ich erinnere mich noch, wie ich danach an einem Stück gearbeitet habe und etwas Ähnliches schaffen wollte und wirklich enttäuscht wurde: Es gab diese Inflation von Lautstärke, Gesten, Aktivität und Komplexität. Eine Art Inflation der Sinne. Ich dachte, das funktioniert für mich nicht mehr richtig, geht das noch lauter?

Dann hatte ich diese lange Phase, in der ich herausbekam, dass der nächste Schritt nicht noch mehr Lautstärke sein würde, sondern sehr leise und sehr aktiv zu sein. Ich habe für mich den pianissimo furioso-Zustand entdeckt.

Den habe ich dann wiederum verstärkt, doch auch hier konnte nicht genug verstärkt werden– ich meine nicht in der Lautstärke, sondern auf der Ebene der mikroskopischen Effekte der Reibung, die einen großen Teil des leisen Klangs ausmachen. Es gab wieder diese Art von Inflation. Um einen Anreiz zu haben, noch ein Stück nach diesem Ansatz zu schreiben, wollte ich es noch extremer machen oder noch einen Schritt weiter gehen. Auch damit bin ich vor die Wand gefahren.

Und das brachte mich zurück zum Rock’n’Roll. Diese körperliche Energie, die man spürt, wenn etwas laut ist und oft auch im Einklang, interessierte mich. Einklang ist sehr wichtig für mich.

Was ist dein Lieblings-Einklang?

Ich glaube, das ist das Power Trio im Rock’n’Roll. Ich habe das früher selbst gespielt – und wenn man diese Rocksongs hört, spielen Bass, Gitarre und Schlagzeug im Wesentlichen unterschiedliche Versionen derselben Sache. Es ist ein Organismus, aber mit unterschiedlichen Elementen, die sich gegenseitig ergänzen. Und das ist so ziemlich das, was ich auch mache.


Back to rock’n’roll: Der Komponist Simon Steen-Andersen über Pointen, Verfremdetes und Geradegerücktes in @vanmusik.

Wie verhältst Du  Dich, wenn Du bei Proben dabei bist?

Ich mag es, wenn sich eine Probe in einen Workshop verwandelt. Bei manchen Stücken passiert das automatisch, bei anderen gar nicht. Aber über viele Stücke hinweg habe ich erfahren, dass eine bestimmte Art der Energie nur entsteht, wenn die Aktion für die Musikerin oder den Musiker ganz natürlich wird. Ich habe herausgefunden, dass Lösungen, auf die man ganz natürlich kommt, oft sehr viel bessere Ergebnisse liefern, als wenn man mit einer festgefahrenen Idee, wie das Stück für jeden einzelnen funktionieren soll, ankommt.

Viele meiner Stücke sind da flexibel, sie sind Kompositionen von Funktionen. Eher ein es muss diese Funktion erfüllen anstelle eines es muss genau das sein. Die Stücke entwickeln sich manchmal wirklich.

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Simon Steen-Andersen, AMID; Nadar Ensemble

Muss der Klang gleich bleiben?

Nein, auch der kann sich ändern, aber die Funktion muss die gleiche bleiben. Das heißt, dass man zum Beispiel von einem tiefen zu einem hohen Ton gelangen muss, aber was genau unterwegs passiert, ist flexibel. Das gilt auch für die Komponenten eines bestimmten Komplexes oder eines zusammengesetzten Klangs, wo der einzelne Klang oder das einzelne Instrument nicht wirklich eine Rolle spielen. Sie müssen ihre Rolle im Zusammenspiel mit den anderen erfüllen, aber sie können variieren. Das Wichtige ist die Ausgewogenheit und das Ineinander-Übergehen. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.