Man kann es kaum sympathisch finden, aber die Musik ist leider (häufig) ziemlich gut: Im 19. Jahrhundert schoben sich diverse »Nationalbewusstseins« hinein in die literarischen, märchenhaften, heroischen Hintergründe symphonischer Werke, entsprechend motiviert von Auftraggeberinnen und Auftraggebern, Politikerinnen und Politikern – oder halt von einer fanatischen (bei »heimatlichen« Klängen schier ausrastenden) Öffentlichkeit. Bedřich Smetana (1824–1884) nannte seinen bekanntesten Orchesterzyklus Má vlast (Meine Heimat) – und der immerwährende »Hit« aus diesem Zyklus, die unvermeidliche Die Moldau, zu der viele früher im Waldorfkindergarten unter Zwang sinnlose Flüsse malen mussten, verfolgt uns bis hinein in Kaufhäuser und (noch schlimmer) Wunschkonzerte. Jean Sibelius verfolgt uns nicht. (Höchstens als – gewiss unfreiwilliger – Namensgeber des mit bekanntesten Notensatzprogramms unserer Zeit.) Und dafür loben wir ihn heute.
Die programmatische Betitelung eines Stücks »Nationalbewusstseinsmusik« ist nicht Bedingung für ein – sagen wir – leicht stolzbrustgeschwelltes Werk mit regionalen Farben, Klängen, Motiven und Rhythmen. So klingen sicherlich märchenhafte Dinge bei Edvard Griegs Klavierkonzert mit, ohne dass das Werk deswegen gleich als märchenhaft betitelt werden müsste. Und auch die erste Symphonie Nr. 1 e-Moll von Jean Sibelius verweist nicht explizit im Titel auf wortkarge Landschaften, superheiße Flüsse, einsame Saunen und idyllische Bewohnerinnen und Bewohner Finnlands. Aber ausführliche »Landschaftsbeschreibungen in Musik« lassen sich im Zeichen des Hörens von Sibelius’ Opus 39 – uraufgeführt am 26. April 1899 in Helsinki vom Philharmonischen Orchester Helsinki unter der Leitung des Komponisten – nicht ausblenden.
Tatsächlich wurde der Finne Sibelius noch stärker als der Norweger Grieg von seinen Landsleuten als »Nationalkomponist« verstanden. Er gilt als wahrhaft »nordischer« Musiker, in dessen Werken sich (auch) die eigentümliche, »verwunschene« und unendliche Weite Finnlands widerspiegele. Von »Idylle« war zur Zeit der Entstehung des Werkes politisch jedoch nichts zu spüren! Seit langer Zeit galt Finnland im Grunde als »politischer Spielball« von Russland und Schweden. 1809 war das Land als Herzogtum dem russischen Großreich unterstellt worden. Die Erschaffung und Verbreitung von so etwas wie »identitätsstiftender Volkskunst« wurde bewusst unterdrückt. Erst 1917 konnte Finnland politische Unabhängigkeit erreichen – und infolge der langwährenden Fremdherrschaft brach das (uns künstlerisch heute durchaus bisweilen eben befremdende) Potential »nationalen Komponierens« umso heftiger durch. (Es gibt nicht wenige kritische Hörerinnen und Hörer, die es kaum aushalten, wenn der Schallplattenspieler die als »heimliche Nationalhymne« geltende Sibelius-Komposition Finlandia gibt – zumal, ausgerechnet, in der Einspielung Herbert von Karajans).
Sibelius war jedenfalls von den Nationalkunst-Strömungen Europas um 1900 absolut nicht unangefasst. Das war auch kaum möglich, denn wollte Kunst in Finnland weitreichende Anerkennung erfahren, musste sie »groß«, musste sie bedeutend, selbstbewusst, fordernd – musste sie, in diesem Fall, »finnisch« sein (wie immer man das nun auszulegen hatte). Plump mochte sich Sibelius aber nicht an die abstrakte Vorstellung von »finnischer Volkskunst« anbiedern, so verarbeitete er in seinen Werken kaum detailliert Volkstümliches und verdeutlichte diesen Umstand mal etwas sauer: »Es herrscht die irrige Ansicht, dass meine Themen oft Volksmelodien seien. Aber bis jetzt habe ich nie ein Thema verarbeitet, das nicht meine eigene Erfindung gewesen wäre.«
Erst 1899, mit 34 Jahren, nahm Sibelius seine erste Symphonie in Angriff. Das Programmatische daran ist nicht wegzudiskutieren. Die Gattung »Symphonie« erscheint bei Sibelius eh oftmals nur als formale Hülle, während sich in seinen Symphoniesätzen selbst »eigentlich alles« abspielen kann: durchaus Symphonisches, Entwickelndes, aber doch meist verwunschen »Stehendes«, Zerklüftetes, sich Drehendes, ja, sich sogar zigfach Wiederholendes! Es verwundert nicht, dass Sibelius den Schlusssatz seiner ersten (etwa vierzigminütigen) Symphonie mit Quasi una fantasia übertitelt – und damit auf die Zerrissenheit, die von plötzlichen Stimmungsumschwüngen geprägte Subjektivität im Umgang mit der Form von sich aus hinweist. Aber so weit sind wir noch nicht. Beginnen wir vorne. Mit der ältesten Aufnahme des Tages.
Sie stammt aus dem Jahre 1976. Kurt Sanderling dirigiert hier das Berliner Sinfonie-Orchester (das heutige Konzerthausorchester Berlin). Kurt Sanderlings Witwe Barbara Sanderling erzählte mir vor ziemlich genau zehn Jahren einmal, wie Kurt Sanderling in den 1950er Jahren zu Jean Sibelius gereist sei. Der alte Sibelius konnte wohl recht speziell sein. Selbst dem erst ein Jahr zuvor gegründeten »Spiegel« war noch 1948 Folgendes eine Meldung wert: »Jean Sibelius, der finnische Komponist, verriet einem amerikanischen Besucher in seinem einsamen Landhaus zwei Geheimnisse: 1. dass er noch schöpferisch tätig sei, aber alles für sich behalte […]; 2. dass er gern Zigarren rauche: ›‚Sagen Sie meinen Freunden in USA, dass sie mir Havanna-Zigarren schicken sollen, so groß wie nur möglich‹, sagte der 83jährige. Ein finnischer Zollbeamter versicherte dem Amerikaner, dass die Zigarren für den großen Meister zollfrei bleiben würden.«
Mit dem »einsamen Haus« ist der legendäre Sibelius-Landsitz »Ainola« gemeint (auf dem Gebiet der Gemeinde Järvenpää in der Region Helsinki). Kurt Sanderling, unmissverständlich vorgewarnt, kam also zum Haus von Sibelius, so erinnere ich mich an die Anekdote von Barbara Sanderling, und erwartete mehr oder weniger, von Sibelius erst einmal herzhaft angeschnauzt zu werden. Doch Sibelius hatte wohl schon sehr Gutes von Sanderling als Dirigenten gehört, ließ ihn zu sich vor, um möglicherweise in Form von Aufführungen selbst von dem Treffen zu profitieren. Sibelius konnte »nett« sein.
Tatsächlich gilt uns Sanderling – zehn Jahre nach seinem Tod – immer noch als Sibelius-Spezialist und damit eigentlich als einer der ganze wenigen Sibelius-Spezialisten überhaupt. Nur ausgerechnet Herbert von Karajan – dem, verdrehen wir ruhig ein bekanntes Bonmot, »Sanderling des Westens« – sagt man in dieser Weise ebenfalls einen recht authentischen und bleibenden Zugriff auf die Musik von Sibelius nach.
1. Satz: Andante ma non troppo – Allegro energico
Kurt Sanderling dirigiert das Berliner Sinfonie-Orchester (1976)
Wäre der vierte Ton des Hauptthemas des ersten Satzes (Andante ma non troppo – Allegro energico) länger (und würde das Ganze dementsprechend weitergehen), so hätten wir die gleichen Töne, die gleiche Melodie vorliegen wie im Godfather Waltz (1973) von Nino Rota. Womit wir nicht die Ersten wären, die von ihrer eigenen filmmusikalischen Überzeichnung im Kopf einfach nicht Abstand nehmen können. Der damalige Solo-Klarinettist des Berliner Sinfonie-Orchester Michael Simm färbt diese engschrittigen Töne aber so existenziell und dabei doch so ehrlich-schlicht, dass man gar nicht an ein perfektes großes Kino denken muss. Man begibt sich – ganz gegenteilig also – vielmehr hinein in die trübe-grüblerische Real-Welt von Sibelius. Cinema Anti-Paradiso. Die Pianissimo-Pauke lässt Sanderling plastisch hervorgrollen. Es raschelt in den Ohren. Keine Weichspülung. Auch die Pausen bekommen genug Zeit, um zu atmen. Schließlich bleibt auch die Pauke weg – und der Klarinettist steht alleine auf weiter (finnischer) Flur.
Der Schostakowitsch-Experte Sanderling – dessen ältester Sohn noch mit eben jenem Schostakowitsch befreundet war – weiß um die »Bedeutung« der Violin-Terzen im schnellen Teil des Eröffnungssatzes. Sanderling lässt die Violin-Gruppe arbeiten. Die rütteln das in den Saal, als könnten große Terzen gar nie mehr schön klingen. Und das immer rhythmisch – vielleicht auch wegen der gleichen Tonart – an Dvořáks Neunte erinnernde Hauptthema wird sogleich in einen leidenschaftlichen Kanon überführt. Das greift mechanisch – und doch wie natürlich sich ergebend – bei Sanderling und seinem Orchester gut ineinander. Diese intelligente Ernsthaftigkeit, diese Unabgespieltheit!
1. Satz: Andante ma non troppo – Allegro energico
Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker (1981)
Der damalige Solo-Klarinettist der Berliner Philharmoniker – vermutlich Karl Leister (*1937) – wird von Karajan zu etwas mehr Linie als bei Sanderling angeleitet. Das geht auf Kosten der Artikulation. Der 34-jährige Komponist hat sich bei Bögen und Strichen ja etwas gedacht… Und auch die Pauke klingt viel dumpfer. Manchmal ist weniger weniger. Etwas ungenau (aber nicht im Sinne einer Bewusstmachung) klötern die Violinen ins Bild. Man spielt »mezzoforte«, dabei hat der Komponist »poco forte« notiert. Gemeint ist also dieses seltsame – von Brahms erfundene – »Dazwischen« von »forte« und »mezzoforte«, das weder »laut« noch zurückgenommen klingen will. Es ist ein »forte« von Bedeutung, aber eben nicht im »lauten« Sinne, sondern durchdrungen, ernst, klar, unpathetisch. Und das bekommt Sanderling wesentlich besser hin als Karajan an dieser kurz betrachteten Stelle.
1. Satz: Andante ma non troppo – Allegro energico
Vladimir Ashkenazy dirigiert das Philharmonia Orchestra (1986)
Ganz schön (erdig) wird der Beginn vom Philharmonia Orchestra unter Vladimir Ashkenazy (1986) angegangen. Da vibriert man auch einmal sehnsüchtig-nostalgisch auf einer Klarinetten-Note. (Haben Klarinettistinnen und Klarinettisten zu dieser Zeit in deutschen Orchestern schon nicht mehr gemacht, in England war man da nicht so streng.) Kurz angebunden erklingt das Hauptthema. Die bittenden, flehenden Gesten erinnern unter Ashkenazy sogleich an Tschaikowsky (was nichts Falsches heißen muss). Die Anschwellungen, die sich bald ergeben, geraten geschmackvoll ausgewogen, so, dass man sich nicht – aufgrund überrumpelnder Lautstärke oder Pathos – aus dem Spiel nehmen möchte. Englisch vornehm.
1. Satz: Andante ma non troppo – Allegro energico
Jukka-Pekka Saraste dirigiert die Sinfonia Lahti (Live, 2015)
Natürlich darf auch kein finnisches Orchester bei einem Sibelius-Interpretationsvergleich fehlen. Angeleitet von Mit-Finne Jukka-Pekka Saraste spielt die Solo-Klarinettistin wunderbar leise in sich hinein. Und kommt dann aus ihrem Maulwurf-Versteck lyrisch heraus. Die eintrudelnden Terzen purzeln völlig korrekt – bewusst – umher. Das Hauptthema erscheint unter Saraste fast »egal«. Versteht ein finnisches Orchester die Musik eines Landsmannes also vergleichsweise weniger pathetisch als andere Klangkörper? Toll die Dichte der gezogenen Linien im Verlaufe diverser – heroischer, aber adäquat unwitziger – Steigerungen. Wirklich interessant! Es bedeutet also doch noch etwas, wenn ein Orchester das Werk eines Einheimischen anstimmt.
2. Satz: Andante (ma non troppo lento)
Kurt Sanderling dirigiert das Berliner Sinfonie-Orchester (1976)
Große Wärme breitet sich im zweiten Satz – Andante (ma non troppo lento) – aus. Hörner, Harfe und Kontrabässe bilden einen selig ruhenden Erdboden in (und aus) Es-Dur. Mit herzzerreißenden Zögerungen singt die Violine darüber eine Melodie voller Liebeserinnerungen an fragile Seelenzustände, die plötzlich gefährlich nah wirken, doch die Klarinetten, in wärmsten Terzen, beruhigen das Menschenkind fast großmütterlich wiegend. Eine Oktave höher klingt das Bitten der Geigen schon ein wenig dringlicher, aber nie aufdringlich. Herrlich lässt Sanderling sein Orchester wieder eine Stufe zurückgehen. Es ist aber eben diese dynamische Zurücknahme, die uns keinen Dirigenten mit »Psst-Leise!«-Finger ins Hirn projiziert. Das funktioniert mit Einverständnis, ohne plakative Gesten (die im Konzert meist eh zu spät kommen).
2. Satz: Andante (ma non troppo lento)
Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker (1981)
Trotz der damals teuersten Aufnahmetechnik der Welt klingt das Bass-Fundament bei Karajan und den Berliner Philharmonikern zu dünn. Wieder haut die dialektische Vielgestaltigkeit von ausdifferenzierter Dynamik – auch im Sinne von: »forte« ist nicht nur laut und »piano« ist nicht nur leise – nicht hin. Gleichwohl gelingen dem Orchester tolle Übergangslinien; grandiose Holzbläser. Doch das dynamische Konzept ist viel zu sehr Konzept, es fehlt – tatsächlich! – Authentizität. Zumindest das Gefühl davon beim Hören…
2. Satz: Andante (ma non troppo lento)
Vladimir Ashkenazy dirigiert das Philharmonia Orchestra (1986)
Mit kleinen Vibrati reiben die Londoner Geigen ihr Thema bewegt auf. Schön. Darunter liegt allerdings ein etwas sehr toter Teppich. Da ist zu wenig Emphase am Werke. Und Ashkenazy kommt auch nicht so richtig von der Stelle. Vergleichsweise langweilig.
2. Satz: Andante (ma non troppo lento)
Jukka-Pekka Saraste dirigiert die Sinfonia Lahti (Live, 2015)
Ganz eingehüllt von Wolken ertönt das Thema der Geigen in der Interpretation der Sinfonia Lahti. Man nimmt hier alles mit größerer Selbstverständlichkeit – und das tut dieser Musik überraschend gut. Die Übergänge klingen nie forciert, sondern werden sogar als Möglichkeiten für kleine tempomäßige Dramatisierungen genutzt. Überraschend toll.
Der dritte Satz (Scherzo. Allegro) beginnt mit akkordisch gezupften C-Dur-Akkorden. Bisher ergaben sich angesichts der bereits vergangenen Themen-Vorstellungen klare Trennungen von Melodie und Begleitung. Auf Basis eines leisen Paukenwirbels erhob sich die Klarinette im ersten Satz. Im zweiten Satz kuschelten sich erst Violinen über dem gemachten Horn-Harfe-Bass-Bett. Um nicht zu durchschaubar zu sein, macht Sibelius im dritten Satz nun etwas anderes – und verfährt doch im Grunde gleich. Denn inmitten der stimmungsvoll gezupften C-Dur-Akkorde pocht nun die Pauke – als vermeintlich nicht-melodisches Instrument! –thematisches Material dahin. Ganz alleine! Schnell übernehmen allerdings die Geigen den Einwurf – und verwandeln den Elfmeter (nicht ganz 1:1) eine Oktave höher. Nun sind die Holzbläser dran (ohne Flöten), die die Themenvorschläge von Pauke und Geigen nicht einfach plump imitatorisch fortschreiben, sondern gleich zwei Runden mehr um den Platz drehen. Dafür werden sie gewissermaßen von den Flöten anschließend sofort »ermahnt«. Diese erinnern deutlich an die rhythmische Struktur des allerersten Einfalls – und bringen das rhythmische Mannschaftsgefüge wieder aufs richtige Gleis.
3. Satz: Scherzo. Allegro
Kurt Sanderling dirigiert das Berliner Sinfonie-Orchester (1976)
Man denkt zuerst an Schostakowitsch, dann an Tschaikowsky, dann an Bruckner, hört man die vielgestaltige Interpretation von Sanderling und dem Berliner Sinfonie-Orchester. Das ist vielleicht nicht so präzise wie bei anderen Orchestern, aber allein der erste Holzbläser-Kommentar macht klar, was Sache ist. Das ist eine Musik zwischen Absonderung, Antipathie und Annahme (dass alles doch richtig ist auf dieser Welt). Also am ehesten noch Schostakowitsch. Und Sanderling knetet eben jenen »zu langen« Holzbläser-Kommentar schön unangenehm ins Ohr, um danach die pointenreichen Staccato-Kommentare umso witziger knacken lassen zu können. Doch »witzig« bedeutet bei Sanderling eigentlich immer auch »bitter«. Und das ist gut so – und man weiß nicht genau, wie er das hinbekommt.
3. Satz: Scherzo. Allegro
Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker (1981)
Karajan dirigiert diesen Satz viel mehr auf »Linie«. Das ist elegant, geht schneller (an einem) vorbei. Das klingt sofort nach Dvořák. Wieder einmal – und einmal zu viel! Schade. Wie Brahms bei den Berliner Philharmonikern leider immer zu schnell nach Beethoven klingt, so entsteht hier das Sibelius-Dvořák-Verwechslungs-Problem.
3. Satz: Scherzo. Allegro
Vladimir Ashkenazy dirigiert das Philharmonia Orchestra (1986)
Der Paukist vom Philharmonia Orchestra prügelt sein Solo so wütend drauf los, als habe er – die Schnauze voll – schon immer darauf gewartet; als habe er zwanzig Jahre im Instrumentenlager sozialer Unsichtbarkeit zugebracht. Das sticht derart heraus, dass man – ob Liebhaberin oder Liebhaber radikaler Orchestra-Radikalismen: egal – noch länger darüber nachdenkt. Aber diese Radikalität bleibt völlig singulär! Das Nachdenken über die Frage, ob das mit der Pauke jetzt okay war oder nicht, endet, und genau in diesem Moment findet man sich an eher uninteressanten (touristisch schon abgegrasten) Partitur-Hör-Orten wieder. Ja, der Rest prescht einfach davon und fliegt (man höre die Stelle ab Minute 22.55!) fast komplett auseinander! In einer Probe hätte man hier abgebrochen und entweder gemeinsam gelacht oder sich einen Rüffel vom Pult abgeholt. Einfach überhaupt nicht koordiniert.
3. Satz: Scherzo. Allegro
Jukka-Pekka Saraste dirigiert die Sinfonia Lahti (Live, 2015)
Noch ein wenig flinker gehen die Finninnen und Finnen das Scherzo an. Das Pauken-Solo ist hier nur Beiwerk und tritt deutlich zugunsten einer – interessanterweise nicht gehetzt wirkenden – Linienarbeit zurück ins Glied (ohne so weh zu tun wie bei Ashkenazy). Auch das ist nicht perfekt zusammen, aber das können wir mittels der Live-Situation entschuldigen. Doch bei aller Authentizität, die man hier unterstellen möchte: Sanderlings Interpretation ist auch hier die mit Abstand stärkste.
Nun gar nicht mehr zurückhaltend – »forte« und Largamente ed appassionato – gehen die Streicher (ohne Bässe) zu Final-Beginn unverhohlen auf das Klarinettenanfangsmotto des ersten Satzes zurück/los. Hier rekurriert der Komponist nicht erst irgendwo im Wimmelbild des Schlusssatzes auf frühere Themen, nein, hier wird offen und ehrlich gesagt, was Sache ist: nämlich, dass Gefühle sich verändern können (wie Landschaften/Wetterlagen), dass Erinnerungen, deren Schmerzpotential man dachte, in den Griff bekommen zu haben, in manchen Situationen exakt so wehtun können wie beim ersten Mal (nur noch viel schlimmer).
4. Satz: Andante – Allegro molto (Quasi una fantasia)
Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker (1981)
Bei Karajan und den Philharmonikern erhalten die Noten der ersten Partiturseite wirklich viel Gewicht. Die Tremolo-Imitation von Cello und Bratschen bei Partitur–Buchstabe »A« wird etwas sehr undeutlich hingenuschelt. Man bekommt gar nicht mit, dass sich da eine Imitation abspielt. Die Horn-Echos nach den extrem merkwürdig alleine gelassenen Flöten-Terzen sind dabei wieder eine Wucht. So schön leise und doch kompakt. Auch das Thema anlässlich des Allegro molto hat so eine gewisse dämonische Leichtigkeit, die richtig gut passt. Das ist schon auch eine sehr gute Aufnahme. Eigentlich.
4. Satz: Andante – Allegro molto (Quasi una fantasia)
Vladimir Ashkenazy dirigiert das Philharmonia Orchestra (1986)
Ashkenazy lässt sein Londoner Orchester die Zwischeneinwürfe der Blechbläser etwas körniger intonieren. Das verschwurbelt sich am Ende. Auch die dunkle Streicher-Imitation bekommt man kaum mit. Die Flöten-Terzen werden hingegen perfekt geblasen. Sehr genau und dynamisch völlig korrekt. Nur manche Akzente wirken etwas »hingestellt«. Mehr abgespielt als nachvollzogen. Crescendi werden tendenziell hier bei Ashkenazy immer zu sehr exerziert, aber – wie schon im Scherzo – geht sich diese Krassheit nicht richtig aus. Crescendi sind nicht einfach nur Erschreckungen, sondern dürfen durchaus im Sinne spannungsvoller Linien interpretiert werden. Und tatsächlich verliert man bei dieser Interpretation tendenziell schneller das Interesse, eben durch eine gewisse Ermüdung des Hörens. Von zu viel gewollter Zerrissenheit werden wir dazu hingerissen, an etwas anderes zu denken.
4. Satz: Andante – Allegro molto (Quasi una fantasia)
Jukka-Pekka Saraste dirigiert die Sinfonia Lahti (Live, 2015)
Viel kühler, viel »normaler« klingt das unter den Händen von Saraste. Da keimt in der Not sogar noch tönende Hoffnung auf. Extrem lange wartet man auf die Flöten-Terzen, aber nicht im Sinne eines Bruchs. Die Momente gehen allesamt schneller vorbei, nicht oberflächlich, sondern in der Schlichtheit und Erzählkraft richtig toll.
4. Satz: Andante – Allegro molto (Quasi una fantasia)
Kurt Sanderling dirigiert das Berliner Sinfonie-Orchester (1976)
Doch Sanderling geht mit seinem Orchester hier eindeutig als Sieger hervor. Die Emphase der überbundenen ganzen Note mit anschließenden Marcato-Achteln im Nebeneinander von plötzlicher Wärme und richtig spannenden Zappel-Imitations-Streichern: groß. Das ist kollektiv-kompakt und dennoch krass individualistisch. Bei keiner Aufnahme wird man beim Meno andante so schön »geweckt«. Klasse, wie Klarinette und Fagott dann das Allegro-molto-Thema blasen. Das Staccato passt, aber vor allem das kurze Ausruhen auf den längeren Akkord-Situationen sofort anschließend: folkloristisch, bordunartig – und dennoch (später) gleißend-modern. Die getragenen Streicherlinien nach knapp vier Minuten gehen einem dagegen ganz unerwartet zu Herzen. Wo vorher noch Sarkasmus und Volkslied waren, sind jetzt echte Cello-Sehnsucht und Schmerzenszerbröselung. Für mich die beste Aufnahme. ¶
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