Die Saxophonistin Ruth Velten im Interview.

Text · Fotos © Vincent Stefan · Datum 23.1.2019

Es ist kalt und nieselt. Berlin zeigt sich nur bedingt von seiner Schokoladenseite an diesem Vormittag, während ich in einem Hinterhof im Prenzlauer Berg auf Ruth Velten warte. Die Saxophonistin fährt mit dem Auto vor, aus dessen Kofferraum sie zwei sehr große Gigbags befördert. Die Frage, ob ich ihr helfen kann, tut sie freundlich ab. Beim Betreten der Alten Wache muss ich ihr dennoch die Tür aufhalten, damit das Instrumentarium überhaupt durchpasst. »Augen auf bei der Instrumentenwahl«, denke ich. Scheinbar steht mir der Gedanke ins Gesicht geschrieben, sie lacht mit Blick auf ihr offensichtlich schweres Gepäck. Eigentlich wollen wir uns für das Gespräch in die Gemeinschaftsküche der kollektiv genutzten Alten Wache setzen, »da ist eigentlich immer Platz«. Heute sind wir allerdings nicht die ersten, die auf die Idee kommen, sich in der Küche zum Arbeiten zu verabreden. Also kocht Ruth einen Tee und wir ziehen in den Probenraum des 2010 von ihr und Silke Lange gegründeten Ensembles lux:nm um, das seit einigen Jahren in diesem Gebäude residiert. Zwischen einer Vielzahl von weiteren Gigbags, Instrumenten, Kabeln und ein paar Stühlen, befreien wir einen kleinen roten Tisch von Tassen und Noten und rücken ihn in die Mitte des Raumes.

VAN: 2019 ist das Jahr des Saxophons…

Ruth Velten: Endlich! (lacht)

Wie nimmst Du persönlich so eine Wahl wahr – ist das für dich positiv besetzt oder doch eine nervige Promo-Aktion?

Schaden kann es nicht. Schön wäre, wenn tatsächlich alle Facetten des Instruments dargestellt werden könnten. Es hat so viele Seiten, die dem Publikum gar nicht bekannt sind. Deswegen finde ich schön, dass es jetzt diese Aufmerksamkeit bekommt.

Was würdest Du Dir besonders wünschen, was fehlt Dir in der Wahrnehmung des Saxophons?

Grundsätzlich fehlt mir nichts, nur unterschwellig noch ein bisschen diese ›klassische‹ Seite, diese ›Neue-Musik‹-Seite des Saxophons. Das Instrument kann komplett unterschiedlich klingen, je nachdem, ob man einen klassischen oder einen Jazz-Saxophonisten hört. Manchmal sind das für mich wirklich zwei verschiedene Instrumente, weil die Klangästhetik und die Spielweise so anders sind. Gleichzeitig ist genau das das ganz große Plus. Die zwei Gesichter des Instrumentes, die sich auf bestimmten Ebenen dann auch wieder treffen.

Wie bist Du zwischen diesen Welten aufgewachsen?

Ich komme aus einem klassischen Musikerhaushalt, ich liebe es, Jazz zu hören, ich liebe es aber auch, Klassik zu hören. Das hat sich dann bei mir einfach so ergeben. Ich bin schnell in der Neuen Musik gelandet, da habe ich gemerkt: Das ist meins. Ich möchte mich aber gar nicht so festlegen lassen im Stil. Ich würde immer eher sagen: Ich bin Saxophonistin, und nicht: Ich bin klassische Saxophonistin.

Also begegnet Dir die Trennung dieser Genres im Alltag?

Ja! Man wird häufig gefragt, was man denn so macht, gerade im Orchester. Klar, man merkt schon an der Art zu spielen, aus welcher Schule man kommt. Auf der anderen Seite ist es ja bei uns Musikern so, dass wir uns in unserer eigenen Ästhetik bewegen. Jeder hat ein Klangideal oder eine Klangvorstellung oder eine Idee davon, was er machen möchte, diese intrinsische Motivation, warum wir überhaupt Musik machen, sodass sich jeder seinen eigenen Bereich oder seine eigene Ästhetik selber formt.

Im Grunde genommen hast Du Dich mit einer Art Nischeninstrument, wenn ich das klassische Saxophon jetzt einmal als solches bezeichnen darf, mit der zeitgenössischen Musik in einer weiteren Nische angesiedelt – empfindest Du es als Freiheit, darin aktiv sein zu können – gerade auch durch eine Ensemblegründung wie die von lux:nm?

Ich liebe es einfach, meine eigenen Projekte zu machen. Ich mache Musik nicht, weil ich sage: ›Ich möchte das und das Stück spielen.‹ Ich habe den Drang, etwas entwickeln zu wollen. In jedem anderen Beruf wäre ich eher jemand gewesen, der in der Forschung gelandet wäre. Für mich ist es sehr reizvoll, neue Dinge anzustoßen, nach vorne zu arbeiten und nicht zu gucken: ›Was gibt es schon? Das möchte ich gerne spielen.‹ Diese Momente gibt es auch. Natürlich hat man ein Repertoire, das man liebt und das man einfach gerne spielt, aber für mich ist ganz klar der Faktor, dass ich etwas entwickeln möchte. Das ist eigentlich die treibende Kraft.

Hast Du einen Hörtipp für jemanden, der keine Ahnung vom klassischen  Saxophon hat?

Ein ganz typisches Repertoirestück ist Alexander Glasunows Saxophonkonzert. Glasunow ist unser klassischer Komponist. Und ansonsten gibt es in der moderneren Musik eben relativ viel: das französische Repertoire – Jean Francaix oder Jaques Ibert –, Edison Denisov, Luciano Berio, Stockhausen, die jungen Komponisten, wie zum Beispiel Gordon Kampe. Ich finde ja immer, dass das Saxophon mit den moderneren Komponisten mehr zur Geltung kommt als Instrument. Ich hatte zum ersten Mal bei einer Berio-Sequenza das Gefühl: ›Boah, jetzt kann ich mein Instrument so ausspielen, jetzt öffnet sich ein Horizont.‹ Bei klassischeren Werken habe ich mich immer eingeschränkter gefühlt, relativ begrenzt in Ambitus oder Stilistik.

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Im Grunde sind die Saxophon-Parts in Orchesterwerken ja auch klanglich eher begrenzt, wenn man jetzt mal an Saxophonstellen in der klassischen Orchesterliteratur wie Rachmaninoffs Symphonische Tänze oder ähnliches denkt.

Zum Beispiel. Und sonst haben wir ja immer die kleinen Soli, die dann mal reinkommen, wie bei Das Alte Schloss aus den Bildern einer Ausstellung oder Boléro. Aber es stimmt schon: Es ist immer mehr dieser Zusatz. Es ist häufig noch nicht so, dass das Saxophon so richtig eingebettet, sondern diese solistische Zusatzfarbe ist.

Gibt es ein Orchesterwerk, in dem Du das Saxophon als vollständig integriert empfindest mit dem, was das Instrument aktuell bietet?

Ich fand ja – aber das ist schon ein bisschen älter – Charles Ives‘ Vierte Sinfonie toll, weil das Saxophon da im Orchesterklang verwendet wird, oder Péter Eötvös’ Atlantis, Thomas Adès’ Powder Her Face. Da ist das Saxophon in diesem – man kann fast sagen – Salonorchester als Farbe mit drin.

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Wenn Du eigene Sachen machen und realisieren möchtest und Dich mit Komponist*innen in eine Zusammenarbeit begibst – jetzt bald bei der Uraufführung von Gordon Kampes Il capello magico [für Sopran-, Tenor- und Baritonsaxophon und Orchester] Anfang Februar – wie arbeitet ihr zusammen?

In Gordons Fall ist es so, dass wir uns einfach schon so lange kennen, dass man dieses ganz Intensive vor einer Stückentstehung nicht nochmal braucht, sondern dass ich weiß: Wir haben schon sehr viel an Kompositionen probiert. Und er weiß, was er mir zumuten kann. Wir hatten jetzt seit Mitte Dezember wie eine Art Pingpongspiel via Messenger: Er schickt mir was, ich kommentiere das, schick’s zurück, dann kommt wieder was und so weiter. Aber an sich hatten wir wirklich schon so viele Aufeinandertreffen, wo wir Dinge probiert haben, dass es mittlerweile ein bisschen was wie blindes Vertrauen gibt.

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Jetzt ist das Stück ja für drei Saxophone – ist das auf seinem oder auf Deinem Mist gewachsen?

Das ist auf seinem Mist gewachsen und ich habe gedacht: ›Ich geb ihm jetzt einfach mal einen Freifahrtschein.‹ Es ist natürlich heikel, man verlässt da total seine Komfortzone. Es ist nicht nur so, dass man diese ganzen Materialsachen beachten muss, man muss auch ziemlich flexibel umschalten. Ich hoffe einfach nur, dass die Blätter nicht auf der Bühne austrocknen (lacht). Aber ich habe wirklich gedacht: ›Eigentlich möchte ich bei Komponisten und auch bei Gordon, dass er das schreibt, was er schreiben und hören will.‹ Wenn ich jetzt sage: Mach mal nur dieses oder nur jenes, dann begrenze ich ihn schon und eigentlich möchte ich wissen, wie er die verschiedenen Teile hört und wie er sie ausgestalten würde. Es ist mit einer Herausforderung verbunden, diese drei Instrumente, es wird ein halber Umzug auf der Bühne. Aber ich mach das jetzt, auch die Instrumente alle in einem Werk zu bedienen, weil es – das sage ich jetzt mal so ganz kitschig – einfach im Dienste der Musik ist. Ich möchte, dass Gordon die Klangfarben an der Stelle nutzt, wo er sie nutzen möchte, und nicht sagen: ›Komponier bitte nur für Sopran- und Altsaxophon, wegen der Handlichkeit.‹ Oder ›Mach lieber nur ein Instrument.‹ Gordon arbeitet ja unglaublich viel über Klangfarben, wir hatten das auch in den letzten Stücken schon, sodass ich einfach gedacht habe: Wenn er jetzt ein Saxophonkonzert schreibt, dann möchte ich auch, dass er aus dem Vollen schöpfen kann. Als er angefragt hat vor anderthalb Jahren, ob wir das zusammen machen wollen, da hatte er auch schon diese Vorstellung von den drei Instrumenten, wie das farblich sein könnte. Das wusste ich von Anfang an und im Grunde kann ich mich seit anderthalb Jahren mental darauf einstellen (lacht). Man kriegt das schon irgendwie so hin. Es ist natürlich anders, als wenn du die ganze Zeit auf einem Instrument spielst – und ich wechsle oft. Es gibt jetzt nicht einen ersten, zweiten, dritten Satz, es ist ein durchgehendes Werk, wo ich dann tatsächlich Bariton – Sopran – Bariton – Sopran – Tenor spiele. Ich glaube, danach kann einen nichts mehr umhauen, was Instrumentenwechsel und Ansatz betrifft.

Ensemble LUX:NM • Foto © Vincent Stefan
Ensemble LUX:NM • Foto © Vincent Stefan

Im Grunde genommen ist es ja auch ein großer Vorteil der Neuen Musik, dass man plötzlich Dinge möglich macht, bei denen man sich in seiner Vorstellung vorher vielleicht limitiert hat.

Ich glaube, dass man diese Schranke einfach fallen lassen muss. Man kann vieles machen und man muss auch mal ein Risiko eingehen – ein bisschen. Und wenn’s dem Stück dient, dann sowieso immer (lacht).

Gibt es trotzdem Momente, in denen Du sagst: ›Ok gut, hier ist die Grenze jetzt erreicht‹?

Bei technischen Sachen, die nicht gehen. Oder Tempi, bei denen ich sage: Das lass ich jetzt lieber einen Computer abspielen, als dass es noch instrumental möglich wäre. Dann würde ich das Gordon sagen. Er kommt ja selbst von der Klarinette, deshalb kann er manche Dinge schon ganz realistisch einschätzen. Als Bläser muss man auch atmen. Das ist etwas, das man Komponisten hin und wieder nochmal sagen muss. Aber ansonsten ist es bei Gordon gar kein Problem, er kennt sich so gut mit Instrumenten aus. Falls irgendein Triller über irgendein bestimmtes Intervall nicht geht, gucken wir gemeinsam: ›Was liegt gut, was geht gut?‹ Manche Sachen eignen sich einfach nicht, und wenn es wirklich ungünstig liegt, dann sag ich auch mal was. Ansonsten natürlich über die Empfehlung ›Guck mal, das klingt gut‹ oder ›Das geht gut‹ so unterschwellig überstülpen (lacht).

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Ihr arbeitet ja schon sehr lange zusammen, und auf Deinem Album gibt es auch einen Titel von ihm, der Deinen Namen trägt – was schätzt Du besonders an der Zusammenarbeit mit Gordon Kampe?

Eigentlich alles. Wenn man mit einem Komponisten gut befreundet ist und ihn musikalisch sehr schätzt, ist es einfach eine tolle Zusammenarbeit, weil sie sehr direkt ist. Ich liebe das ja, wenn ich einfach sagen kann, was Sache ist, und er einfach sagen kann, was Sache ist. Und er weiß, dass man sich total ins Zeug legt und das ohne Kompromisse macht. Es gibt ein gegenseitiges Vertrauen, man kennt sich gut und er weiß wie ich spiele. Er kennt meine Künstlerpersönlichkeit ganz gut.

Ist das ein Gefühl, dass sich auch bei lux:nm eingestellt hat, dieses gegenseitige Vertrauen und sich kennen und dass ihr wisst, was ihr voneinander wollt?

Ja, doch doch! Das ist total wichtig. Gerade bei lux:nm. Dieses Ensemble ist ja nicht entstanden um einfach nur ein Ensemble zu haben, sondern weil wir damals im Kern fünf Freunde oder Musiker waren, die zusammen Musik machen wollten. In der Neuen Musik ist ja alles möglich, man muss Klangfarben finden und die Besetzungen. Jetzt sind wir mittlerweile acht und es kommt immer der dazu, der reinpasst, egal welches Instrument der spielt. Wir gucken natürlich schon: Welche Klangfarben könnten passen oder wo könnte man experimentieren? Aber letztendlich ist es ein Ensemble, das sehr auf dieser Basis gewachsen ist, dass man sich blind versteht. Das macht auch den ganz großen Unterschied zu anderen Formationen, die ich manchmal schon hatte. Man weiß bei lux:nm wirklich, wie die anderen atmen, man weiß, wie die anderen Töne abnehmen. Du musst überhaupt nichts erklären, es funktioniert total gut. Das sind Luxuszustände, die man sich als Musiker in Proben nur wünschen kann. Dass man dieses blinde Verständnis hat und auch weiß, wie der andere auf der Bühne reagiert.

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Ihr seid ein festgelegter Klangkörper, nicht wie andere moderne Ensembles, die immer mal projektweise jemanden reinholen…

Das machen wir auch, je nach dem was wir brauchen und was die Projektbudgets hergeben. Die Sache ist ja: Man hat so seine Träume und Visionen (lacht), wenn die Fördergelder noch steigen würden, dann könnte man das letzten Endes alles machen, aber vieles liegt dann auch am Geld. Aber klar, die Projekte, die wir im Kopf haben, denken wir auch immer gleich für eine bestimmte Besetzung. Es ist schwierig, gleich was für 20 Leute zu organisieren, da brauchst Du andere Budgets. Wir bewegen uns eher in einem kammermusikalischen Bereich. Aber wir haben auch mal Gäste, wenn wir uns das wünschen. Beim nächsten Projekt in Ludwigshafen sind zum Beispiel erstmalig eine Trompete, eine Bratsche und eine Sängerin mit dabei. Bei den letzten beiden Projekten haben wir mit Schlagzeug gespielt.

»In jedem anderen Beruf wäre ich in der Forschung gelandet.« Über Entdeckungen, Vertrauen und Umzüge auf der Bühne – Saxophonistin Ruth Velten in @vanmusik.

Was wäre denn so ein Traum von Dir?

Für das Saxophon oder generell? Also ich wünsch mir ja, dass man in fünfzig Jahren nicht mehr sagt: ›Das ist eine Nische.‹ Dass man nicht mehr sagt: ›Das ist aber was Besonderes.‹ Dass es sich so etabliert hat, dass viele neue Stücke entstanden sind. Dass viele junge Saxophonisten, die jetzt aktuell arbeiten, dabei bleiben und neue Dinge anstoßen. Und dass das Saxophon sich in der Neuen Musik als eigenständige Stimme etabliert, als ein ganz normaler Part von Ensembles. ¶

Seine Stücke sind schon mal besetzt für Raviolidosen oder Haushaltshandschuhe und tragen Vortragsbezeichnungen wie »immer feste druff« oder »volle Möhre«. Gordon Kampe studierte Komposition bei Hans-Joachim Hespos, Adriana Hölszky und Nicolaus A. Huber, seit 2017 lehrt er an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. In einem Porträtkonzert am 8. Februar wird der Komponist in Ludwigshafen vorgestellt. Außerdem steht die Uraufführung von Kampes Konzert für Sopran, Alt-, Tenorsaxofon auf dem Programm des Sinfoniekonzerts (mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Strauss und Mozart) am 6. und 7. Februar. Bei beiden Konzerten ist auch Saxophonistin Ruth Velten dabei, einmal als Solistin, einmal mit ihrem Ensemble LUX:NM. Weiteres von Kampe gibt’s mit Sechse kommen durch die ganze Welt, einem Musiktheaterstück für Kinder am 9. Februar und im Rahmen des Konzerts des Shalamov Piano Duos am 10. Februar. (Das Gordon-Kampe-Porträt ist damit trotzdem nur ein kleiner Teil der über 60 von BASF Kunst & Kultur in 2019 in der Rhein-Neckar-Region organisierten Kulturveranstaltungen). In dieser Sonderveröffentlichung lassen wir Kampe und Velten zu Wort kommen.

… lebt und arbeitet als freie Oboistin und Instrumentalpädagogin in Berlin. Darüber hinaus leitet sie die Jugendmusiziergruppe »Michael Praetorius« in Leipzig. Ihr musikalisches Interesse gilt insbesondere der (ganz) Alten Musik und dem Musiktheater. Nach ihrem Abschluss in Instrumentalpädagogik begann sie außerdem ein Stadt- und Regionalplanungsstudium an der TU Berlin.