Auf ihrer Reise nach China verirren sich Jim Knopf und der Lokomotivführer Lukas in der Wüste. Dort bemerken sie am Horizont eine riesige Gestalt. Jim hat Angst, aber folgt Lukas mit zitternden Knien. Als sie der Gestalt immer näherkommen, erweist sich der Riese als ein Mann von ganz normaler Größe, der sich als »Herr Tur Tur« vorstellt. Tur Tur ist ein Scheinriese, je weiter man sich von ihm entfernt, desto größer scheint er. Je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er, bis er – unmittelbar vor einem stehend – von ganz normaler Statur ist.

Der Tur Tur der Musikwelt ist die Musikvermittlung. »Musikvermittlung boomt«, heißt es in Pressemitteilungen des Deutschen Orchesterverbands. In deren Konzertstatistik haben sich musikpädagogische Veranstaltungen öffentlich finanzierter Orchester in den letzten zwölf Jahren mehr als verdoppelt, von 2.141 in der Spielzeit 2003/2004 auf 5.061 in 2015/2016. Diese Zahlen sind beeindruckend, aber auch veritables Blendwerk. Sie sagen nichts darüber aus, »wie der Zuwachs an Education und Musikvermittlung der Orchester zustande kommt, wer ihn mit welcher Qualifikation und damit auch mit welcher Qualität verantwortet und welchen Stellenwert er im jeweiligen Orchester respektive Haus hat«, wie Kerstin Unseld in ihrem Gastbeitrag in VAN schreibt. Je gründlicher man hinter die Statistik schaut, desto mehr fällt sie in sich zusammen. Oft stehen hinter den im Marketing prominent platzierten Education-»Programmen« idealistische Einzelkämpfer, die sich in ihrer Arbeit verbrennen, ausgestattet mit prekären Ressourcen und innerhalb ihrer jeweiligen Institution wenig bedacht mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Die Geschichte der Musikvermittlung ist bis heute für viele, die sich ihr widmen, eine des Kampfes gegen Windmühlen.

Das Netzwerk Junge Ohren zeichnet aus diesem Grund seit zwei Jahren auch einzelne Persönlichkeiten mit dem Junge Ohren Preis aus, »die mit fachlichem Know How, Leidenschaft und Hingabe ihre Ideen für ein modernes Musikleben verwirklichen und mit ihrer Begeisterung nicht nur das Publikum mitreißen, sondern auch ihre Kolleg/innen motivieren und ermutigen«. In diesem Jahr hat sich die Jury (in der der Autor dieser Zeilen Mitglied ist) für Rainer O. Brinkmann entschieden, der seit 2001 federführend ist für den Aufbau des Vermittlungsangebots der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Mit der Konzeption und Weiterentwicklung der Methode der Szenischen Interpretation, der Gründung des Instituts für die Szenische Interpretation ISIM und dem Aufbau des gleichnamigen Studiengangs an der Universität Mozarteum in Salzburg hat er darüber hinaus die wissenschaftliche Reflexion der Musiktheatervermittlung befördert. Seine Arbeit an der Berliner Staatsoper wird mit Ablauf der laufenden Spielzeit ein Ende finden: Sein Vertrag wurde vor kurzem gekündigt. Ich treffe Brinkmann in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg.

Sie sind jetzt seit 16 Jahren an der Berliner Staatsoper und waren einer der ersten Musiktheaterpädagogen an einem Opernhaus. Wie ist das heute?

Es ist seitdem ein starker Prozess in Gang gekommen. Die meisten Häuser haben mittlerweile Musiktheaterpädagogen eingestellt. Allerdings mangelt es nach wie vor an der Ausbildung. Die Theaterpädagogikausbildung hat sich stark entwickelt, es gibt mehrere Studiengänge und Qualitätsstandards. In der Musiktheaterpädagogik ist der berufsbegleitende Lehrgang an der Universität Mozarteum in Salzburg das einzige was es weit und breit gibt.

Woran liegt es, dass in diesem Bereich die Oper im Vergleich zum Theater ein Nachzügler ist?

Die Oper ist ja in vielem immer etwas hinterher, insgesamt ist die Perspektive konservativer. Dass Leute sich überhaupt getraut haben, in Opernhäuser reinzugehen, hat später angefangen. Die Theaterpädagogik hat sich angelehnt an das Sprechtheater entwickeln können und von dort immer die neuesten Strömungen aufgesaugt. Ein Text liefert immerhin noch klare Inhalte, damit kann man schnell umgehen. Musik braucht immer eine extra Entschlüsselung, die man finden muss. Einen Dramentext kann jeder sofort spielen, bei der Musik bleibt immer die Frage: wie setzt man sie um?

Foto © Junge Staatsoper
Foto © Junge Staatsoper

Sie haben für die Musiktheaterpädagogik den Ansatz der Szenischen Interpretation weiterentwickelt, können Sie mir den kurz erklären?

Szenische Interpretation versucht, einer Zielgruppe ein Werk anzubieten, über das sie sich mit sich selbst auseinandersetzen kann. Es geht nicht darum, das Werk mustergültig zu interpretieren, das ist immer nur ein Vehikel. Es geht darum, einen eigenen Zugang zu finden über Dinge, die im Werk eingelagert sind, die man für sich persönlich über das Spiel einer Figur herausholt. Dadurch kann man plötzlich eine ganz tiefe Verbindung herstellen, die etwas mit einem selbst zu tun hat, und die stärker ist, als wenn man distanziert draufschaut und ästhetische Urteile fällt. Es geht darum, dass Schüler die Inhalte und Bedeutung von Musik selber konstruieren, dass sie differenzieren können zwischen funktionaler Gebrauchsmusik, einlullender Musik, und einer Musik, die wirklich was will. Das kann Klassik oder Hip-Hop sein, überall gibt es Menschen, die mit Musik eine wichtige Botschaft transportieren wollen. Rauszufinden, dass das so ist, das ist doch eine wichtige Fähigkeit, nicht A-Dur oder e-Moll.

Welche Werke eignen sich dafür? Alle?

Alle nicht, aber fast alle. Probleme gibt es in der zeitgenössischen Opernliteratur, wenn Handlung oder Figuren dekonstruiert sind. Auch Barockopern, in denen Rollen als Allegorien angelegt sind, bereiten Schwierigkeiten. Supergut funktionieren immer Werke der Romantik, von Mozart, aus der klassischen Moderne.

Gibt es an Opernhäusern Vorbehalte, sich auf so eine Art dem ›heiligen Werk‹ zu nähern?

Es gibt natürlich ein gewisses Festhalten am Werk, das man geschlossen halten möchte. Jeder Eingriff in die Partitur wird argwöhnisch betrachtet.

Sie arbeiten mit vielen verschiedenen Zielgruppen, Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Senioren. Woran liegt es, dass es in der Musikvermittlung und Musiktheaterpädagogik diesen krassen Fokus auf Kinder gibt?

Kinder sind niedlich, und es herrscht der Common Sense, dass sie was lernen müssen. Sowie sie in die Pubertät kommen, hört alles auf. Das ist ein Thema, an dem ich wahnsinnig arbeite. Ich möchte mehr für Jugendliche tun. Das ist ganz, ganz schwer.

Foto © Thomas Bartilla
Foto © Thomas Bartilla

Weil die Zielgruppe schwieriger ist?

Gar nicht, man kann mit denen toll arbeiten. Man muss sich nur auf sie einlassen und darf sich nicht von deren ersten Vorurteilen abschrecken lassen. Sie werden erwachsen, sie machen die ersten Schritte in ein Leben hinein, das ihnen bis dahin ziemlich fremd vorkam. Für diese Schritte müssen sie unglaubliche Anstrengungen unternehmen, auf allen Ebenen: Mit dem Körper ist irgendwas, es wachsen Dinge, die da nicht waren, was immer auch ein bisschen peinlich ist. Das hat zur Folge, dass sie ihre Rückzugsräume brauchen, sich vom Rest der Gesellschaft abkapseln möchten. Man kommt an sie ran, wenn man will, wenn man ihnen ein gutes Angebot macht, das altersadäquat ist. Sie brauchen einen geschützten Raum, in dem sie singen, tanzen, spielen, ihre Gefühle zeigen können. Man kann sie dann halt nicht mehr in die Kinderoper stecken. In den Diskussionen, die ich habe, heißt es oft, ›na ja, bis 14 geht das doch‹. Nein! Es werden keine sinnvollen Zielgruppenanalysen gemacht in so einem Opernhaus. Alles, was man für Jugendliche tun will, muss man durchboxen. An der Stelle gab es immer die stärksten Widerstände.

Woran liegt das?

Scheinbar sind sie eine Gefahr. Ein interessantes Phänomen ist, dass in vielen Werken des dramatischen Repertoires Jugendliche ermordet werden. Die werden serienweise hingemeuchelt, oft junge Frauen zwischen 16 und 20, die müssen auf der Bühne stellvertretend für irgendwas sterben und dürfen in das Leben nicht richtig rein. Und parallel werden Jugendliche auch nicht so richtig ins Opernhaus gelassen. Das fängt schon bei der Location an. Wir haben jetzt das neue Staatsopern-Gebäude, in dem es keinen Raum für Jugendarbeit gibt, obwohl es nach außen hin so aussieht, als habe man da wahnsinnig viele Möglichkeiten. Es wäre toll gewesen, die Werkstatt im Schillertheater zu erhalten, die ist eigentlich eine optimale Spielstätte für Kinder-, Jugend- und Zeitgenössische Oper. Sowas ist weit und breit nicht in Sicht.

Wie anknüpfungsfähig an Jugendkultur muss man Angebote machen?

Es ist ganz gut, wenn man sich ein bisschen auskennt und weiß, worüber die gerade reden, was aktuell ist, um nicht völlig antiquiert dazustehen. Man muss erstmal viel zulassen, was die Jugendlichen mit reinbringen. Die wissen mittlerweile alle, wie Popgesang geht, und können das zum Großteil auch. Wir sagen nie, ›hör mal, in der Oper machen wir das ganz anders.‹ Das ist ja auch eine ästhetische Frage, die in dem Moment gar nicht interessiert. Wir wollen ganz woanders hin. Wenn eine Rolle entwickelt wird, ist unser Anspruch, dass sie gesungen wird. Wir lassen sie das improvisieren. Sie entwickeln erst den Charakter über Gehhaltungen, Sprechhaltungen, dann kommen irgendwann Singhaltungen. Aus einem gesprochene Satz heraus sollen sie versuchen so zu singen, wie die Figur das tun würde. Es geht darum, mit dem Gesang den Charakter zu treffen. Man sollte auf keinen Fall eine Anbiederung versuchen. Das ist ganz schnell die Gefahr.

…und wird vermutlich auch schnell von Jugendlichen demaskiert?

Genau, ich sage lieber, ›ich bin der Typ, der von Oper Ahnung hat, ich finde Oper super, und möchte euch daran teilhaben lassen. Wenn ihr was Anderes wollt, gibt es andere Institutionen.‹

Es gibt in der Klassikwelt oft so eine Verzückung am kindlichen Ernst, der ›Hochkultur im Kindskopf‹, was sich zum Beispiel im Phänomen des Wunderkinds zeigt. Ist Ihnen das in der Arbeit auch begegnet?

Das gibt es als ein Anforderungsprofil von außen, wogegen wir uns immer wehren, das zu bedienen.

Foto © Lisa Winter
Foto © Lisa Winter

Von außen heißt?

Viel von Eltern, durchaus auch innerhalb des Hauses, wo es immer mal die Tendenz gibt zu sagen, diese Kinder müssen wir besonders fördern. Da ist auch was dran, es gibt Kinder, die ganz früh entscheiden, ›Oper ist für mich genau das Richtige‹. Die kommen natürlich meist aus Elternhäusern, in denen Oper eine große Rolle spielt. Wer einmal diesen Funken erwischt hat, in dem kann es viel auslösen. Wir versuchen, diese Kinder dann auch besonders unterzubringen, weil es oft diejenigen sind, die als Zugpferde die anderen mitziehen und für eine gute Stimmung sorgen. Man soll ihnen was bieten, aber sie sollen nicht die Richtung vorgeben. Die ist eigentlich im Moment eher die, dass wir versuchen, uns möglichst breit zu öffnen, auch die Kinder und Jugendlichen mitzunehmen, die im Elternhaus und sozialen Umfeld weit davon entfernt sind, mit Oper in Berührung zu kommen.

Wie gut gelingt Ihnen das? Der Ort Oper, und die ›Hochkultur‹ insgesamt, sind ja sozial nicht sehr durchlässig.

Viel funktioniert in der Kooperation mit Schulen, in denen die Lehrer sagen, die Klasse muss zumindest einmal in die Oper. Am Gymnasium gehört das noch dazu, an anderen Schulformen wieder nicht, die muss man oft konkret ansprechen. Ich glaube, dass wir noch nicht besonders weit in die bildungsfernen Schichten kommen, sondern dass es relativ stark das bildungsbürgerliche Milieu ist. Der Randbereich sind dann Eltern, die selbst nicht interessiert an Hochkultur sind, aber irgendwie ein Bewusstsein dafür haben, dass ihre Kinder das doch mitkriegen sollten, weil es ihnen selbst abgegangen ist.

Ist es schwierig, einen künstlerischen Anspruch und den Wunsch, möglichst viele einzubeziehen, unter einen Hut zu kriegen?

Das hängt davon ab, ob man eher auf den Prozess oder das Produkt wert legt. Die Szenische Interpretation ist ganz eindeutig prozessorientiert. In diesem Prozess nimmt man das Werk als ein Hilfsmittel. Man hat den guten Nebeneffekt, dass die Teilnehmer das Werk kennenlernen und vielleicht auch ganz interessant finden. Und ein paar wenige finden es sogar gut. Die produktorientierte Seite läuft bei uns dann über den Jugendklub oder die Kooperation mit dem Kinderopernhaus Lichtenberg, wo mit einer Gruppe ein Stück inszeniert werden soll, das hinterher sichtbar wird auf der Bühne.

Sind in den Kinderopern, die in der Staatsoper laufen, auch Kinder in der Erarbeitung dabei?

Nein, in der Regel sind Kinder aber in den frühen Endproben dabei, um einen kritischen Blick auf die Inszenierung zu werfen und dem Regieteam zu sagen, was sie nicht verstanden haben, gut oder nicht gut finden. Dass es einen Feedbackprozess von Kindern gibt, war mir immer total wichtig, und das hat in den meisten Fällen auch geklappt.

Was ist denn die beste Kinderoper?

Rotkäppchen von Georges Aperghis ist das avancierteste Werk, das ich für Kinder kenne. Es hat eine Erzählstruktur, die immer wieder anfängt, permutierend nach vorne geht, in der die Handlung immer wieder auf neue Art dargestellt werden muss. Das ermöglicht ganz andere Fokussierungen. Die Musik ist wahnsinnig schillernd, sie hat keine hörbare Melodie, keinen hörbaren Rhythmus, sie erzeugt immer nur eine Atmosphäre von Angst, eine Dreiviertelstunde lang. Dass das als Oper für Kinder durchgeht, finde ich phänomenal. Als ich sie das erste Mal in Mannheim gehört habe, war das ein ganz großer Moment, weil man sehen konnte, es funktioniert! Kinder sind gebannt dabei und lieben es, sich mit dieser Musik zu gruseln. Es hat lange gebraucht, das Stück bei uns ans Haus zu kriegen. Ich habe es drei Jahre vorgeschlagen, im vierten Jahr hat es geklappt, gegen Vorbehalte in der Dramaturgie und Leitung. Es gab sehr unterschiedliche Reaktionen. Kinder gehen ganz stark mit, Erwachsene, vor allem Lehrer und Erzieher, haben unendliche Schwierigkeiten damit gehabt.

Rotkäppchen von Georges Aperghis an der Berliner Staatsoper. Foto © Stephanie Lehmann
Rotkäppchen von Georges Aperghis an der Berliner Staatsoper. Foto © Stephanie Lehmann

Es braucht für Kinder also nicht unbedingt eingängige Melodien zum Mitsingen und kitschige Illusionen?

Auf gar keinen Fall. Das ist ja Kindertümelei. Die ist leider verbreitet, aber man muss sie gar nicht bedienen. Ich finde es gut, wenn man eine Mischung hat. Ich möchte Kindern jetzt auch nicht nur Zeitgenössisches anbieten, sondern genauso eine Bandbreite abdecken wie in der Erwachsenenoper. Dort wird auch alles von Barock bis 21. Jahrhundert gemacht. Wir müssen doch eigentlich da hinkommen, dass ein Kind in jeder Altersgruppe altersadäquat was sehen kann und mit unterschiedlichen Stilen und Inszenierungsweisen in Berührung kommt, damit es die Vielfalt von Musik und Theater erleben kann. Wenn das dann bei den Jugendlichen weitergeht, werden die später sagen, ›ich gehe da jetzt weiter hin, bin ich ja schon mein ganzes Leben.‹ Aber es läuft leider nicht so. Es läuft so, dass ihnen bis sie ungefähr 10 Jahre sind eine Märchenoper angeboten wird und dann kommt nicht mehr viel.

Es gibt in den letzten Jahren einen Boom an neuen Kinderopern, gibt es neben Aperghis schon genug gutes Repertoire?

Da muss noch viel passieren, aber es gibt ein paar gute Sachen. Das tapfere Schneiderlein von Wolfgang Mitterer ist eine total zukunftsweisende Geschichte, Sneewitte von Jens Joneleit finde ich ganz spannend, aktuell wird das Zweipersonenstück Gold! von Leonard Evers landauf und landab gespielt, das ist sehr gut. An der Deutschen Oper machen sie gerade Das Geheimnis der blauen Hirsche, das mag ich auch sehr.

Was kann die Institution Oper von Kindern lernen?

Vor allem die Unmittelbarkeit, die sich eigentlich auch jeder Erwachsene wünscht. Da ist die Kinderoper sehr weit, weil es eine Grundvoraussetzung ist: Kinder müssen es beim ersten Sehen verstehen. Bei Erwachsenen nimmt man immer an, dass das nicht so sein muss.

Foto © Thomas Bartilla
Foto © Thomas Bartilla

Bei Musikvermittlungsaktivitäten großer Orchester und Konzerthäuser fällt auf, dass diese zwar in der Außenkommunikation prominent platziert werden, aber innerhalb der Institution oft miserabel mit Ressourcen ausgestattet sind und auch wenig Wertschätzung erfahren. Wie ist das bei Ihnen?

Das ist ein großes Thema. Klar möchte man im Zuge des Hypes um die Kulturelle Bildung auch sagen, ›wir sind dabei‹. Im Haus gibt es aber immer den Kampf um mehr Kapazitäten, auf allen Ebenen. Da wird dann erstmal das abgesichert, was auf der großen Bühne stattfindet, also im Zweifelsfall lieber ein Maschinist, ein Requisiteur oder eine Maskenbildnerin als eine Theaterpädagogin.

Glauben Sie, dass das Problem finanzieller Druck und mangelnde Ressourcen sind, oder eher fehlender Wille und Wertschätzung auf Leitungsebene?

Ich glaube, letzten Endes ist es der Wille. Ein wirkliches Interesse an theaterpädagogischer Arbeit habe ich eigentlich noch nie groß erlebt. Die Zahl der Menschen aus dem Haus, die sich mal so einen Workshop angeschaut haben, tendiert gegen Null. Alle reden drüber, wollen auch überall mitreden, sind aber in der konkreten Arbeit nie gewesen.

Das heißt, Jürgen Flimm und Daniel Barenboim gucken sich das nicht an, wenn sie Workshops mit Jugendlichen machen?

Nein, es ist auch niemand aus der Dramaturgie, der Operndirektion oder dem Marketing für längere Zeit da gewesen. Die komplette Leitungsebene, für die es eine Bedeutung haben müsste, ist nicht bei dieser Vor-Ort-Arbeit dabei. Sie gucken sich vielleicht an, wenn etwas auf die Bühne kommt, die Produkte, aber den Prozess gar nicht. Das finde ich jedoch das Wichtigere an der partizipativen Arbeit, zu sehen, dass die Kinder und Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten hier einen Ort finden, an dem sie mit Kunst in Berührung kommen, da kommt die Breite der Zielgruppen rein. An der Komischen Oper finde ich supertoll, dass sie soweit gehen, zu sagen, wir machen Angebote für die türkische Community, auch wenn die vielleicht gar nicht so stark wahrgenommen werden. Sie setzen damit ein großes Zeichen. Über Themen wie Diversity, Gender und Rassismus wird bei uns im Haus selten gesprochen.

Foto © Eike Walkenhorst
Foto © Eike Walkenhorst

Ihr Vertrag bei der Staatsoper läuft mit Ende dieser Spielzeit aus und wurde nicht verlängert. Mit welcher Begründung?

Nicht-Verlängerung wegen Intendantenwechsel. Ein neuer Intendant kann – wenn er möchte – Leute relativ leicht entlassen, um ein neues künstlerisches Profil einzuführen. Mit Matthias Schulz [dem jetzigen Co-Intendanten, der im März 2018 Jürgen Flimm als Intendant ablöst] hatte ich überhaupt das allererste Mal einen regelmäßigen Jour Fixe mit einem Intendanten, der interessiert nachfragte. Es gibt aber schon länger Differenzen zwischen der jetzigen Leitung und mir. Lange Zeit habe ich mich einschüchtern lassen, aber irgendwann hat es mir gereicht und ich habe mich entschieden, mir Respektlosigkeiten nicht mehr bieten zu lassen. Ich bedauere, dass meiner langjährigen Aufbauarbeit durch die Kündigung ein Ende gesetzt wurde.

Sie waren dann 17 Jahre an der Staatsoper. Was hat diese Entscheidung bei Ihnen ausgelöst? Können Sie sich vorstellen, an ein anderes Opernhaus zu gehen?

Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, ich habe das jetzt einmal ganz intensiv gemacht und will mich nicht wiederholen, auch wenn jedes Haus natürlich andere Strukturen und Anforderungen hat. Ich möchte dann eher nach vorne gehen und andere Dinge entwickeln, Leute ausbilden, die diesen Job machen können. Die Kündigung stellt viel in Frage und hat schon eine Sinnkrise ausgelöst. Habe ich noch Lust, für eine Institution zu arbeiten, die in ihrer Grundstruktur problematisch ist? Es gibt immer die Trennlinie zwischen pädagogisch und künstlerisch, da sollte man sich auch keine Illusionen machen, die ist nicht zu verhindern. Mein Wunsch ist aber immer, die pädagogische Linie stark zu unterstützen, dafür zu kämpfen, dass sie ihre Berechtigung hat und an so einem Haus wertgeschätzt wird. In der Frage ›wieviel Hochkultur braucht man‹ würde ich immer sagen, ›viel‹. Wir müssen das halten in unserer Gesellschaft, wenn wir die aufgeben, ebnen wir den Weg in die Verflachung. Aber um Oper lieben zu lernen, muss man zunächst einen Abstraktionsprozess durchlaufen. Man muss es schaffen, zwei drei Stunden ruhig dazusitzen, man muss sich auf eine problematische Textebene einlassen, darauf, dass man extrem viel nicht verstehen kann, dass die Handlungen total überzogen wirken, weil sie alle durch diesen Komprimierungsprozess durch mussten, der notwendig ist, damit es auf die Bühne kommt. Wenn man da durchgegangen ist, ist es hammergut, dann merkt man, wie sich das alles zusammenfügt, wie die eigene Wahrnehmung geöffnet wird. Es wird immer schwer sein, da hinzukommen, es geht nicht sprunghaft, sondern man muss sich auf einen Weg begeben und dieser Weg muss Spaß machen. Das ist das Ziel unserer Arbeit. Mit Spaß an die großen Themen. ¶