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VAN-Playlist zum Hören
Jan St. Werner (Mouse on Mars)

Protokoll Hartmut Welscher · Porträtfoto Mizuki Kin


Wir tauchen in subtile, verborgene Welten, hintergründig und mächtig. Die Playlist von Jan Werner ist so speziell, so präzise, dass nicht alle Stücke einfach so nachgehört werden können. Manchmal müssen wir auf Annäherungen, Nebenbeispiele ausweichen. Und jetzt ab in die Matrix.


Johannes Fritsch – Hochtöner

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Ein immer noch aktuelles und tolles Stück, sehr zeitgemäß. Johannes Fritsch war für mich einer dieser charakteristischen Kölner, die zwischen den Disziplinen spielten und dabei konsequent an ihren eigenen Entwürfen gearbeitet haben. Er ist kaum bekannt, aus meiner Sicht aber nicht weniger innovativ als die Abteilung Stockhausen. Und er hat mit seinem Feedbackstudio auch für andere einen Raum zum Experimentieren geschaffen.

Zu erwerben gibt es das Stück und mehr Musik von Johannes Fritsch bei Cybele Records.


David Tudor – Pulsers

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Für mich das wichtigste und konsequenteste Technostück, das je geschrieben wurde. Dazu muss ich eigentlich nicht viel sagen, das hört man und dann versteht man das.

Bei iTunes: Pulsers – Composers Inside Electronics – From the Kitchen Archives No. 4


Helmut Lachenmann – Interieur I

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Lachenmann hat natürlich viele erstaunliche Stücke geschrieben; Klänge, die von ihrem Klangkörper so entfernt sind, dass sie – für sich als Material begriffen – unendlich ausgestaltbar sind. Er schafft es ganz fein, zum Teil mit einem einzigen Instrument, so ein Spektrum aufzuziehen und den Klang vom Instrument zu befreien, so dass man es dabei vergisst. Er dekonstruiert dabei auf eine sehr sensible Weise und schafft es durch Geduld und Einfallsreichtum, Spannungen über lange Zeit zu halten.

Auch bei iTunes zu kaufen: Interieur I – Percussion Concertant


RLW – Silent Calculus

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RLW ist Ralf Wehowskys Pseudonym. Ein Frankfurter Musiker, der ursprünglich aus dem Projekt P16.D4 kommt. Seine früheren Projekte gehören eher zum Punk. Er ist, glaube ich, beruflich Staatsanwalt (Bundesanwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, Anm. d. Red.). Dieses Stück von ihm ist wirklich ein tolles Beispiel für ein extrem genau ausgearbeitetes elektroakustisches Stück, dem man anhört, dass es aus einem undogmatischen Musikverständnis heraus entstanden ist und das trotzdem mit akademischer Genauigkeit ausgearbeitet wurde.


Michael von Biel – Fassung

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Ähnlich wie mit Johannes Fritsch verhält es sich auch mit Michael von Biel, auch er wieder ein ganz radikaler eigener Kopf, der, wenn ich mich richtig erinnere, aus der Kölner Fluxus-Bewegung kommt. Ganz wenig von ihm wurde veröffentlicht. Dies ist ein Stück, das eine ganz erstaunliche spannende und ungewöhnliche Konfrontation von Elektronik, Akustik, Tape-Musik und gespielten Passagen kunstvoll ausarbeitet, und doch doch so locker aus dem Ärmel daherkommt. Man hört hier auch den Kunsteinfluss. Für mich ein Klassiker. Es ist veröffentlicht auf einer Zusammenstellung des wunderbaren Labels Edition RZ, von dem man eigentlich alle Veröffentlichungen blind kaufen kann.


Luc Ferrari – Visages V

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Luc Ferrari ist für mich ein Vorbild. Er hat mit Humor und Akribie lockere und dennoch radikale Stücke geschrieben, geschnitten und assembliert. Visages ist eines seiner ganz frühen. Ich habe es einmal als Single für teures Gel
d im Second-Hand-Laden gekauft. Mittlerweile ist es vermutlich noch viel teurer – Wertsteigerungsrate noch weit über Immobilien in Mitte –, aber in diesem Fall gerechtfertigt, also ganz fantastische Tape-Musik, die in der Zeit seiner Zusammenarbeit mit Pierre Schaeffer entstanden ist, aber viel undogmatischer ist, als die strenge Elektroakustik von Schaeffer, da er dem elektronischen Material immer wieder Field Recordings und autobiographische Aufnahmen gegenüberstellt.

Auch bei iTunes: Visage V – An Anthology of Noise and Electronic Music, Vol. 2


Gottfried Michael Koenig – Funktion Gelb

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Funktion Gelb von Gottfried Michael Koenig ist für mich ein Rock ’n’ Roll Klassiker aus der stochastischen Musik, also: gerechnete Musik, die aus präzisen Algorithmen heraus zu ganz überraschenden Ergebnissen führt.

VAN: Wir hören hier gerade Funktion Blau …

… das geht auch, aber wenn man Funktion Blau geil fand, dann muss man unbedingt noch Funktion Gelb kaufen. Diese ganze Funktionen-Reihe arbeitet ganz stark mit Ringmodulationen, hat einen recht rauen Klangcharakter, ist sehr stringent im musikalischen Material, aber trotzdem abwechslungsreich. Das ist für mich ein Beispiel dafür, dass elektronische Musik mindestens so brettert wie elektrische Gitarre.

Bei iTunes: Funktion Blau – Acousmatrix – The History of Electronic Music I–II


Karlheinz Stockhausen – Kontakte

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Stockhausen muss einfach mit drin sein. Kalle ist einfach einer der coolsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, keine Frage. Obwohl hier eigentlich, was meine musikalischen Vorlieben angeht, vielleicht eher Morton Feldman stehen müsste … Aber Stockhausen ist eben ein überraschender Typ gewesen und hat wirklich brilliante Einfälle gehabt. Ihm schuldet man einfach sehr viel, deshalb muss er bei so einer Liste einfach mit dabei sein. Es gibt einen wunderbaren anarchistischen Virus, der seit Karlheinz Stockhausen diesen Globus nicht mehr verlässt. Der Mann hat für mich viel zum Weltfrieden beigetragen. Hier sehr schön die Gegenüberstellung akustischer Instrumente mit elektronischen Klängen. Beides roh gekocht und dennoch symbiotisch ineinandergeflochten ohne zu verkleben.

Hier noch ein WDR-3-Beitrag über Kontakte.


Olivia Block – Pure Gaze

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Dann die zeitgenössische Komponistin Olivia Block, deren Arbeit ich sehr schätze; sehr exakt collagierte und trotzdem offene Kompositionen, die auch ganz vorurteilsfrei diese Welten der field recordings und Fehlermusik – also Musik mir »Stör«geräuschen wie Handyknacken, Kabelbrutzeln, fehlerhafte Wiedergabe – zusammenbringt, mit ganz fein ausgearbeiteten orchestralen Passagen. Sie ist wirklich Komponistin, kann aber auch improvisieren und live spielen. Es gibt ein paar Stücke, die man hätte nehmen können, Pure Gaze ist vielleicht ein ganz guter Einstieg in die Welt von Olivia Block.


Iancu Dumitrescu – Soleil Explosant

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Soleil Explosant ist, wie der Name schon sagt: eine Explosion; das sind Klangwelten, die aufeinander prallen; wie Blitzeinschläge und Donnergrauen, und trotzdem nah am musikalischen Material, also keine kitschhafte Naturvertonung. Es gibt dazu wunderschöne seismographische Partituren von Ana-Maria Avram und ihrem Partner Iancu Dumitrescu, die eigentlich schon beim ansehen Musik evozieren. Ihr eigenes Label Edition Moderne ist auch absolut empfehlenswert, man sollte wirklich mindestens 25 ihrer Platten zuhause haben, zur Sicherheit. Vereint Krach, Spektralmusik und Improvisation im besten Sinne.


Henry Brant – Ghost Nets / Quombex

Henry Brant, ein Schüler von Charles Ives, hat aus einem romantischen Musikverständnis heraus recht eigenartige musikalische Elemente zueinandergesetzt und in seinen Aufführungen räumlich inszeniert. In seinen Kompositionen spielen oft mehrere Orchester gleichzeitig, was zu ganz speziellen Konzerterlebnissen führte, die man in der Tradition der Renaissancemusik stehend, als perspektivische Revolution verstehen kann. Und man findet da auch diese entspannte amerikanische Art, mit Genres umzugehen: es gibt Jazz-Elemente, Kaffeehaus-artige Passagen, dann wieder ein 12 Ton. Dies hier bietet einen guten Einstieg in seine Werke. Zwar kann man in der Stereo-Version etwas schwieriger nachvollziehen, dass es räumlich gedacht ist, aber wenn man sich konzentriert, kann man es sich vorstellen.

Bei iTunes: Ghost Nets – The Henry Brant Collection, Vol. 2


Conlon Nancarrow – Studies for Piano Player

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Nancarrow, das ist auch einer der Allergrößten, der aber leider nicht genug bekannt ist und mindestens auf einem Treppchen mit Feldman und Stockhausen stehen sollte. Es ist natürlich ein Klischee, gerade wenn man elektronische, sequenzierte Musik macht, dass man auf diese Player Piano Sachen abfährt. Ich finde an ihm aber fantastisch, dass er sowohl rhythmisch, als auch von der Komplexität her, sehr viel rausgeholt hat aus seiner Musik. Diese Dynamik, diese Geschwindigkeit und diese Resonanzen, die er da ausgelöst hat; es gibt auch bereits Elemente der spektralen Musik, die in seiner Musik angelegt sind.

Bei iTunes: Studies for Player Piano – Conlon Nancarrow


Olivier Messiaen – Quatuor pour la fin du temps

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Die Playlist endet mit Olivier Messiaen wunderbar melancholisch. Für mich steht er wirklich an einer wichtigen Schnittstelle: Ich höre zu Hause sehr viel Musik, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich geschrieben wurde, Debussy, Ravel, Poulenc. Ich finde, dass Messiaen genau zwischen diesem musikalisch so ausgearbeiteten 19. Jahrhundert und dem suchenden, radikalen 20. Jahrhundert steht und hineinreicht in so ein völlig neues Musikverständnis, was natürlich auch durch die harten politischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts geprägt war. Er hat immer eine sehr versöhnliche und eine sehr integrative Radikalität gepflegt. Das finde ich an Messiaen eben bewundernswert und herausstechend und das ist sicher auch durch seinen tiefen Glauben geprägt. Er hat dieses Stück als Kriegsgefangener geschrieben. (Messiaen vollendete das Quartett als Insasse des Kriegsgefangenenlagers Stalag VIII-A Ende 1940/Anfang 1941, wo er es am 15. Januar 1941 mit anderen Häftlingen uraufführte) Es ist ein schönes und trauriges Stück, es ist aber auch unglaublich intelligent und souverän, weil es sich in diese Gefühlswelt nicht komplett fallen lässt, sondern immer noch diesen Blick darüber hinaus wirft, über das eigene Befinden oder das eigene Elend oder die eigene Glückseligkeit hinaus. Es gibt viele, die sagen, er sei wichtiger als Cage gewesen. Vielleicht, weil er gerade diese Welten in Balance halten konnte. Auf jeden Fall eines meiner Lieblingsstücke aller Zeiten.

Bei iTunes: Messiaen, Quatuor pour la fin du temps – Trio Wanderer & Pascal Moraguès