Plagiate sind aktuell in aller Munde, vor allem, was die politikseitige, wahlkämpferische Nutzbarmachung von kleineren und größeren Vergehen aus den ausgeleierten Themenbereichen »Quellen nicht richtig angegeben« und »schlichtweg anderswo ohne Kennzeichnung abgeschrieben« angeht. Was aber bedeutet das Thema »Plagiate« für die klassische Musik? Arno Lücker hat nachgeschaut – und sich von Forscherinnen und Forschern helfen lassen.

Ob nun Pharrell Williams in Zusammenarbeit mit Robin Thicke, Megastar Beyoncé Knowles oder die Beach Boys: Die Liste der Musiker:innen, die sich schon einmal anderswo zu sehr haben inspirieren lassen, könnte noch weit fortgeführt werden. Im Musikgeschäft häufig gang und gäbe, müssen sich nicht selten auch die Gerichte mit dem Thema Song-Diebstahl befassen – das zeigen auch aktuelle Plagiatsfälle.

Diesen Absatz hätte ich in Anführungszeichen setzen müssen. Denn er stammt nicht von mir, sondern von dem Autor Alexander Schölzel. Dabei: Anführungszeichen tun nicht weh, sie müssen sein. Man klaut nicht! Inspirieren lassen ist okay, aber journalistisch und wissenschaftlich verpflichtend ist dann die Nennung der Quellen. Bei Texten ist manchmal recht einfach festzustellen, wer wo wann wie abgeschrieben hat. Bei »musikalischem Material« wird es komplexer.

Beschäftigt man sich intensiv mit Musik, so passiert es gefühlt täglich, dass man sich bei der Audio-Lektüre von klassischen Stücken von einer Melodie, von einem Rhythmus oder etwa von einer Harmoniefolge an ein anderes Werk erinnert fühlt. Dieses Gefühl kann als »reine Einbildung« sozial bei der jeweiligen Person verbleiben – im Sinne von: »Niemand anderes erinnert Takt x von Werk x an Takt y in Werk y!« Im krassesten Fall dagegen kann es – wie oben zitiert – zu juristischen Konsequenzen kommen.

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Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus (1928–1989) war geradezu davon besessen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir bis heute Musik nach ihrer (vermeintlichen) Individualität, ihrer Originalität, ihrer Geniehaftigkeit beurteilen. Erst im 19. Jahrhundert entstand der Gedanke, »große Musik« entspränge jeweils einem einzigen unvergleichlichen Gehirn, welches sich musikalische Strukturen, Verläufe (und, ja, auch: Melodien) in stiller Einzelarbeit in der Wuthöhle menschenentrückter Tintenfässchenarbeit welteinmalig abringt. Dahlhaus: »Einzig das Ungewohnte sollte als ästhetisch authentisch gelten; Nachahmung wurde nicht mehr, wie in früheren Jahrhunderten, als Pietät gegenüber der Tradition, dem ›alten Wahren‹ gerühmt, sondern als Epigonentum, dessen Hervorbringungen trotz technischer Makellosigkeit geistig nicht zählen, abgetan und verworfen.« (Carl Dahlhaus: Die Idee des Nationalismus in der Musik, in: Gesammelte Schriften, Band 6, Laaber 2003, S. 486 f.).

Das im Barock beispielsweise total normale »Ausleihen« (»Borrowing) motivischer Teile anderer Werke anderer Komponistinnen und Komponisten, die »Allusionen« bei Mahler, vermeintliche Zitate, die die Sphäre anderer Musik (etwa die der Volksmusik) betreten, ohne diese wirklich 1:1 aufleben zu lassen – etwa die imitations- und karikierfreudigen Maskenspiele von Saint-Saëns, Fauré und Schostakowitsch, die (ziemlich unlustigen, weil sehr gewollten) »Stücke« des Komponisten Peter Schickele, dem Erfinder von »P.D.Q. Bach«… 

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Die Themen »Zitat«, »Anleihe«, »Parodie« führen in der E-Musik nicht selten ins absolut Uferlose, in ein Meer aus Andeutungen, laut geäußerten Überzeugungen, Übertreibungen, Empfindlichkeiten – und (wirklich unwitzigen) Narzissmen. Der 2014 verstorbene Komponist Konrad Boehmer, so erzählte mir mal ein Freund, gefiel sich darin, sich beim Besuch in den Behausungen von komponierenden Bekannten zwischendurch ins fremde Arbeitszimmer zu stehlen, um dort in der aktuellen Partitur ein »eigenes« Vor- oder Auflösungszeichen an einem einzelnen (wehrlosen) Nötchen zu hinterlassen. Boehmer, so heißt es, habe dann nach Drucklegung des jeweiligen Werkes geschaut, ob die Komponistin oder der Komponist den Fehler bemerkt habe – und sich vermutlich gefreut, wenn nicht. 

Damit sind wir dem Thema »Plagiat in der E-Musik-Geschichte« immer noch nicht auf den Leib gerückt. Boehmer liebte es eben, Kolleginnen und Kollegen zu ärgern. Weil ihm selbst größerer Ruhm versagt blieb. So kommen wir der Sache schon näher. »Plagiate« haben eventuell mit dem Gedanken zu tun, berühmt zu werden oder den Ruhm anderer irgendwie zu unterminieren, infrage zu stellen, lapidar und doch durch bloßes Handwerk als eben »nicht genial« (Stempel der Behörde!) zu entlarven. Man könnte meinen, die »Originalitätsdoktrin« (Ebd., S. 487), die »Herrschaft der Originalitätsidee« (Carl Dahlhaus: Zur Problemgeschichte des Komponierens, in: Gesammelte Schriften, Band 6, Laaber 2003, S. 456) habe – ausgehend von dem Standpunkt, Genies hätten im 19. Jahrhundert tatsächlich ewig ewige Geniestreiche komponiert – eine Art narzisstische Plagiatssucht ausgelöst. Oder, eine Nummer kleiner: eine Art Lust daran, Großes zumindest etwas kleiner zu machen… Vielleicht auch die Möglichkeit eines gesamtausgabenergänzenden Photobombings: Endlich einmal mit Haydn auf dem Bild zu sehen sein! Denn es ging ja hier nicht – wie bei anderen Werken – um die durchaus erstaunlich häufige falsche urheberische Zuordnung einer Forscherin oder eines Forschers. Nein, die Musikwelt sollte getäuscht werden.

Haydn-Forscher Armin Raab berichtete in VAN von einer angeblichen »Wiederentdeckung« von sechs »verschollenen« Klaviersonaten Haydns. Dahinter steckte der Blockflötist Winfried Michel. Die Haydn-Sonaten-Plagiate sind natürlich nicht ganz schlecht gemacht. Aber viel zu häufig kommen für Haydn typische Sept-Einstreuungen in der Melodie, lustige Schleifer, ausgewälzte Modulationsstrecken und witzige Generalpausen hintereinander. Das perfekte Plagiat? Nein! Vielmehr eine eher traurige Aneinanderreihung von nur allzu Bekanntem. Bekannt – und dadurch verdächtig!

Schumann-Forscher Armin Koch schildert mir den Fall des aus dem Harz stammenden Musikschriftstellers Gustav Schilling (1805–1880). Schilling kupferte nicht bei Schumanns Musik ab. Vielmehr gab Robert Schumann Schilling und anderen in seiner von ihm herausgegebenen Neuen Zeitschrift für Musik Platz, etwaige Plagiatsdiskussionen bezüglich kopierter Texte an Ort und Stelle auszutragen. Wie sich später herausstellte hatte Schilling tatsächlich in großem Stil bei anderen Schriftstellern abgeschrieben – und sich auf diese Weise lange durchgemogelt. Schilling fälschte überdies Wertpapiere, bezahlte seine Schulden nicht und wurde in Nebraska zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb 1880 ebendort.

Michael Struck von der Brahms-Forschungsstelle Kiel schreibt mir auf meine Frage, wie es um die Plagiats-Historie im Zusammenhang mit Brahms aussieht: »Johannes Brahms war gegenüber kompositorischen Ähnlichkeiten, die in den Ruch des Plagiats geraten konnten, eher leger eingestellt: Die Bemerkung eines spitzfindigen Hörers, dass das Hauptthema aus dem Finalsatz seiner ersten Symphonie ja auffallend dem Freude-Thema aus dem Finale von Beethovens neunter Symphonie ähnele, konterte er mit der Bemerkung, noch auffallender sei, dass das ›jeder Esel höre‹. Für Brahms war nicht so sehr die Originalität und Einzigartigkeit eines musikalischen Gedankens wichtig, sondern das, was ein Komponist daraus machte. Als Clara Schumann 1891 die von ihr jahrzehntelang bei Aufführungen gespielten Kadenzen zu Mozarts Klavierkonzert in d-Moll KV 466 im Druck herausgeben wollte, stellte sie erschrocken fest, dass Teile daraus aus Kadenzen des jungen Brahms stammten. Sofort schrieb sie ›aufgeregt‹ an Brahms: ›Es ist schrecklich, daß einem so gewissenhaften Menschen, wie ich bin, so etwas passieren kann!‹ Doch Brahms beruhigte sie sofort, bat sie, ›die Cadenzen ohne Weiteres mit Deinem Namen in die Welt gehen‹ zu lassen, und fügte hinzu: ›[…] ich könnte Dir manches neuere Werk zeigen, an dem mehr von mir ist als eine ganze Cadenz!‹«

Weiter berichtet Brahms-Forscher Struck: »Seine Ungarischen Tänze gerieten gleich auf doppelte Weise in den Lichtkegel von Plagiats-Diskussionen. Einerseits stellten melodienkundige Musiker und Musikjournalisten fest, dass Brahms in den 1869 erstmals veröffentlichten Tänzen Nr. 1–10 fremde Melodien verwendet habe. Das stimmte zwar, aber nicht ihre Anschlussbehauptung, dass er diese Melodien als sein Eigentum ausgegeben habe. Denn auf dem Titel der gedruckten Erstausgabe stand nicht: ›komponiert von Johannes Brahms‹, sondern: Ungarische Tänze für das Pianoforte zu vier Händen gesetzt von Johannes Brahms. In diesem Sinne hatte er sie bereits seinem Verleger Fritz Simrock angekündigt: ›Es sind übrigens  e c h t e  Pußta- und Zigeunerkinder. Also nicht von mir gezeugt, sondern nur mit Milch und Brot aufgezogen.‹ So war er denn auch juristisch letztlich nicht angreifbar – ganz im Gegensatz zu Konkurrenten, die später ähnliche Tänze veröffentlichten. Dass diese aus den von Brahms ›gesetzten‹ Tänzen ›abgekupfert‹ waren, konnte man schon daraus schließen, dass sie die gleichen  u n t e r s c h i e d l i c h e n  Melodien in  e i n e m  Stück kombinierten wie Brahms in einigen der Ungarischen Tänze. Gegen solche Trittbrett-Komponisten ging der Verleger denn auch juristisch vor. Und Brahms selbst baute in die 1880 erschienenen Tänze Nr. 11–21 gleich schon Plagiatoren-Fallen ein: Denn hier ist, wie er an Simrock schrieb, ›manches ganz meine Erfindung‹. Wer diese Tänze nachgedruckt hätte, wäre juristisch also ohne Weiteres zu überführen gewesen…«

Der Projektleiter der Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss und zugleich Leiter der Forschungsstelle der Richard-Strauss-Gesamtausgabe Hartmut Schick wiederum schildert mir zwei Richard Strauss betreffende Fälle aus dem hier kaum einzugrenzenden Themenkreis »Plagiate«. Ein prominenter Fall im Zusammenhang mit Richard Strauss ist der Streit um Vittorio Gnecchis Oper Cassandra, die angeblich von Strauss plagiiert wurde. Strauss wurde 1909 vom Musikwissenschaftler Giovanni Tebaldini ernsthaft vorgeworfen, er habe in seiner Elektra die 1905 erschienene und uraufgeführte Oper Gnecchis kopiert. Tebaldini erklärt diese »telepatia musicale« mit den Ähnlichkeiten des Stoffs (Cassandra lässt sich als eine Art »Vorgeschichte« zu Elektra verstehen) und verweist auf die Nähe musikalischer Motive. Roswitha Schlötterer wies jedoch 2002 in einem Aufsatz nach, dass Tebaldini die Notenbeispiele in seinem Aufsatz so manipuliert hatte, dass diese »Nähe« überhaupt erst entstehen konnte. Der eigentliche Plagiatsvorwurf ist letztlich unhaltbar.

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Doch es geht noch etwas kurioser: In seiner symphonischen Fantasie Aus Italien op. 16 zitiert Richard Strauss im letzten Satz (Neapolitanisches Volksleben) das Lied Funiculì, Funiculà. Dieses hatte der Komponist Luigi Denza 1880 aus Anlass der Eröffnung der Vesuv-Standseilbahn vorgelegt – und im Kompositionsjahr von Aus Italien (1886) sang man das Lied offenbar schon an jeder Straßenecke Neapels. Dorthin war Strauss damals gereist – und hielt Funiculì, Funiculà für ein waschechtes Volkslied. Entsprechend fand es als »neapolitanisches Volkslied« (so der Text-Kommentar in der Partitur) bei Strauss Verwendung.

Strauss muss hier unbedingt zugutegehalten werden, dass er weder Luigi Denza kannte, noch wusste, dass dieses »Volkslied« ein sehr neuer »Hit« war. Auch wusste Strauss nicht um den Werbelied-Ursprung. Bisweilen wird dagegen behauptet, Luigi Denza habe Strauss eine Plagiatsklage angehängt, doch dafür gibt es keinerlei Belege. Auch wäre eine solche Klage aufgrund der damaligen Rechtslage aussichtslos gewesen. Denn Strauss gründete schließlich erst im Jahr 1903 – zusammen mit anderen – den Vorläufer der heutigen GEMA und hätte sich somit auf irgendwie witzige Weise spät zur »Selbstanzeige« bringen können. Und das wäre tatsächlich einmal lustig gewesen… ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.