Ein Erlebnisbericht von den tschechischen Ostrava Days 2017
Die diesjährige Ausgabe der Ostrava Days war von einer derart toxischen Atmosphäre der Männlichkeit geprägt, dass ich die Musik selbst kaum wahrnehmen konnte. Das zehntägige Festival war Treffpunkt für Avantgardisten und solchen, die gerne »Risiken eingehen«. Von den 33 auf dem Festival gespielten Komponierenden in Residence waren 27 männlich und 23 weiße Cis-Männer. Trotz des Anspruchs der Internationalität kamen etwa ein Drittel dieser Männer aus Brooklyn, Boston oder New Haven. Das Festival, die neunte Ausgabe des zweijährig stattfindenden Zöglings von Petr Kotík, hatte mehr männliche Komponisten mit Abschlüssen aus Yale eingeladen als nicht-weiße Frauen.
Warum betone ich diese Statistiken überhaupt – wenn doch die mangelnde Diversität in der Welt der klassischen Musik längst schon ein alter Hut ist? Weil das Persönliche politisch ist. Ein Festival, dessen Teilnehmerschaft sich »zufälligerweise« aus unglaublich ähnlichen Leuten zusammensetzt, ist ein Beispiel für systemische Bevorzugung, wie es in einem Lehrbuch nicht besser beschrieben sein könnte. Die »Ästhetik von Ostrava« ist ein kontrollierter und fokussierter Musikstil, gleichzeitig aber auch eine eigene Welt: unbestreitbar weiß, männlich und akademisch. Einige der composers in residence haben sich mir als »Arschlöcher« vorgestellt: »Oh hi, ich bin eins von diesen Arschlöchern«. (»Schön, dich kennenzulernen.«) War das nicht ganz ernst gemeint, oder vielleicht ein oberflächlicher Versuch, schon im Vorfeld tatsächlich schlechtes Verhalten zu entschuldigen? Wie auch immer, die ständige Wiederholung führte mir jedenfalls das Cliquenhafte des Festivals vor Augen und das machte mich fertig. Schließlich sollte ich mir jede einzelne Komposition dieser »Arschlöcher« anhören.

In Sozialen Netzwerken stehen die »combrosers« des Ostrava-Festivals ein für die Rechte von Frauen, People of Colour oder Transsexuellen. Als ich aber mit einem der Komponisten allein auf einem Zimmer landete, zögerte er nicht lange, mir hinter verschlossenen Türen zu sagen, dass »sein Schwanz zusammenschrumpft, wenn er mir beim Reden zuhört«. Diese Aussage, die ich hier nur ungern mit mehr Kontext versehen will, um ihren Urheber nicht bloßzustellen, war weder ein vereinzelter Vorfall noch ein Beispiel für die Peinlichkeiten der hookup culture. Was in diesen Worten mitschwingt, ist mehr als eine tiefsitzende Objektifizierung von Frauen – sie stehen in einer Linie mit einem Verrat à la Joss Whedon, dem Verrat eines pseudoliberalen Individuums, dessen wahres Ich »aufgedeckt« wird und der nichts ist als ein weiterer respektloser weißer Mann, der weiß, dass er nicht praktizieren muss, was er predigt. Natürlich ist es unprofessionell und ethisch eher fragwürdig, eine romantische oder sexuelle Beziehung mit einem journalistischen »Subjekt« einzugehen. Ich gebe zu, dass ich es dennoch gemacht habe, um ein breiteres und anekdotenreicheres Bild des aktuellen Zustands der Neue-Musik-Szene zeichnen zu können. Wie auch immer sie sich öffentlich darstellen, diese Komponisten wissen genau, dass sie Frauen oder Marginalisierte eigentlich nicht respektieren brauchen.
O Sailor aus Kate Sopers Oper Here Be Sirens.
Die zuletzt von Donald Trump heraufbeschworene Locker-Room-Rhetorik prägte das Festival, ist aber vor allem Teil eines größeren Problems, das sich weit über Ostrava hinaus erstreckt. Als ich letztens einer innerhalb der Neuen Musik tätigen Frau erzählte, dass mir ein weißer Komponist bei einem Treffen zu zweit sagte, dass er »mich gerne so richtig durchficken« wolle, war sie nicht überrascht. »Ach, das ist nur ein weiterer dieser pseudo-einfühlsamen combrosers… die haben keine Ahnung und keinen Respekt.« Andere Frauen innerhalb der Szene haben in der letzten Wochen meinen Posteingang mit ähnlichen Aussagen und anonymen Anekdoten über männliche Komponisten überflutet: »Pass auf bei dem, er ist ein ziemlicher Lustmolch.« »Er ist definitiv die Nummer eins der Misogynie-Shitliste der Neuen Musik.« »Ich höre viele Lippenbekenntnisse, wirkliches Zuhören aber gibt es kaum … Bei Frauen sind sie schnell dabei, aber nicht bei anderen marginalisierten Gruppen, was für mich heißt, dass sie uns nicht wirklich respektieren. Zu sagen, dass man selbst Feminist sei, hat mehr mit Selbstdarstellung zu tun als mit wirklicher Unterstützung.«
Nachdem eine nicht-weiße Frau einen weißen Mann wegen einer sexistischen Anmerkung angeprangert hatte, lehnte er es ab, die Aussage zurückzunehmen und verteidigte sich über Facebook. Die Frau fühlte sich verletzt und war frustriert: »Er ist ein selbstgerechtes Arschloch, der versucht, uns die Marginalisierung und den Rassismus zurück ins Gesicht zu schleudern… Als sei er ach so sensibel.« Tatsächlich mündet das Bloßstellen von »Arschlöchern« in der Neuen Musik selten in der Form von kritischem Denken, die man einem selbsternannten Feministen zutrauen würde. Es ist in Ordnung, wenn Männer sich selbst als Arschlöcher bezeichnen – wenn Frauen aber dasselbe tun, ob öffentlich oder im Privaten, ist es das nicht. (Während des Festivals in Ostrava habe ich einmal einen Mann, der sich mir als Arschloch vorgestellt hat, ehrlicherweise in seiner Aussage bestätigt. Später kam einer seiner Kollegen zu mir und meinte, ich solle mal etwas runterkommen und aufhören immer gleich zu »explodieren«.) Alle Äußerungen dieser Männer geschahen außerhalb der professionellen Sphäre des Konzertsaals. Trotzdem sollte ihnen ihre Wichtigkeit nicht abgesprochen werden: Nicht, um bestimmte Personen in der Öffentlichkeit bloßzustellen oder ihren Ruf zu ruinieren, sondern, um die öffentliche Rhetorik der Neue-Musik-Szene mit der Realität abzugleichen.

Trotzdem ging ich bei den Ostrava Days Beziehungen ein, romantische und andere, obwohl das Unterstützungsnetzwerk für die Komponisten und Musiker des Festivals nicht immer bis zu den Journalisten reichte. Zeit mit den Musikern zu verbringen, deren Handwerk ich über die Jahre lieben gelernt habe, war von unschätzbarem Wert und die Organisator*innen des Festivals leisteten fabelhafte Arbeit. (Um an dieser Stelle offen zu sein: meine Flüge und die Unterkunft wurden vom Festival finanziert.) Im Gegensatz zu den Komponist*innen oder Musiker*innen kam ich aber nicht nach Tschechien, um dort zu lernen oder zu spielen, sondern um Einsichten und konstruktive Kritik zu liefern. Es ist nicht einfach, solche Worte zu schreiben – so wie ich sicher bin, dass es auch nicht einfach ist, sie zu lesen –, Worte, die undankbar oder harsch erscheinen mögen. Aber die Atmosphäre in Ostrava war durchaus repräsentativ für die Neue-Musik-Szene der USA, wo es oft so scheint, als sei nicht der Stil oder der Inhalt der Musik eines oder einer bestimmten Komponist*in von Belang, sondern vielmehr, ob man die richtigen Leute kennt, am richtigen Ort wohnt oder die richtige Schule besucht. »Die Ostrava Days sind wie Familie«, sagte mir ein Musiker aus Brooklyn. »Alle zwei Jahre ist es wie ein großes Familientreffen«. Was die Frage aufwirft: Warum muss man nach Tschechien fliegen für ein »Familientreffen«, wenn man dieselben Leute jeden Abend einfach in Brooklyn treffen könnte?
Bei den Ostrava Days wurden Klassiker von Stockhausen, Cage und Feldman in Verbindung gesetzt mit Musik einer viel jüngeren Generation von Komponist*innen, den residents des Ostrava Institutes. Viele der Stücke bezogen sich auf die Klassiker, oft konzentrierten sie sich auf eine bestimmte musikalische oder instrumentale Idee. Die »Ästhetik von Ostrava« lehnt sich an die ausschweifenden, nur minimal veränderlichen Klangwelten von Feldman, Alvin Lucier, Phill Niblock und ihren Schützlinge an: Musik, die so sorgfältig kontrolliert ist, dass jeder noch so kleine Anklang an Veränderung wie eine Revolution daherkommt. Die Stücke waren meistens für sich allein betrachtet interessant, das Gesamtbild stellte sich aber zunehmend ermüdend dar. Zehn Tage mit jeweils etwa sechs Stunden Livemusik wurden zu einer kräftezehrenden musikalischen Erfahrung, die sich fortwährend in ihrer eigenen ästhetischen Homogenität bestätigte. Darunter war etwa ein 22-minütiges Streichquartett, das genauso gut auch sieben Minuten hätte dauern können. Der Komponist war von seinem Recht, Klang zu produzieren so sehr überzeugt, dass die Musik sich immer wieder unnötig wiederholte und in nur vage verknüpften Erzählsträngen vor sich hin quasselte, obwohl sie vermutlich einen viel stärkeren Eindruck hinterlassen hätte, wenn sie etwas mehr auf den Punkt gekommen wäre.
Kotík wurde in der Tschechischen Republik geboren und lebt heute in New York. Seine »sommerlichen Familientreffen« verlagern im Prinzip eine seiner Welten (die Welt von NYC, FOMO, YOLO und SEM – dem wegweisenden Ensemble, das Kotík gegründet hat und das er leitet) in die ruhigere Welt, in der seine Wurzeln liegen. Ostrava war lange als verschlafener Bergbaustandort bekannt – jetzt versucht die Stadt, sich zunehmend als osteuropäisches Kulturzentrum zu vermarkten. Die neun vom Festival eingeladenen Journalist*innen (von denen ich die einzige Frau war und unter denen niemand war, der nicht weiß war) bekamen auch einen Einblick ins Ostrava außerhalb der Days: Wir machten eine Tour zu den Landek Park Kohleminen und der Galerie für Bildende Kunst, fuhren mit dem Bus zu Janáčeks Geburtshaus und sahen uns die Burg von Hukvaldy an. Die Ortsansässigen waren meistens eher amüsiert als begeistert vom Festival; ein deutscher Journalist versuchte unseren Tourguide davon zu überzeugen, wenigstens zu einem der kürzeren Konzerte, dem einstündigen Piano-Solo The People United Will Never Be Defeated!, zu kommen – ohne Erfolg.

Kotíks Biennale gehört zu den ambitioniertesten Initiativen, um Ostrava ein neues Image zu verschaffen. Vielleicht könnte aber eine intensivere Öffentlichkeitsarbeit mehr Stadtbewohner dazu bewegen, das Festival zu besuchen. Denn nicht nur aus Brooklyn kam die Crème de la Crème, auch die in Ostrava ansässigen Musiker des ONO (Ostrava New Orchestra) spielten in einigen Konzerten. Avantgarde-Enthusiasten besuchten Konzerte an zahlreichen Orten der Stadt, angefangen von der höhlenartigen Dreifachhalle von Karolina über das traditionellere Dvořák Theater bis hin zu Hipster-Locations wie den Provoz Hlubina (»Kohlebergwerksbädern«) oder »Cooltour« (wo das Publikum während des Konzerts Bier trank und draußen auf der Treppe, aneinandergereiht wie Dominosteine, Zigarettenpausen einlegte.) Deshalb erstaunte mich die Einstellung unseres Tourguides und anderer Ortsansässiger etwas, die eine deutliche imaginäre Trennung vom Festival widerspiegelte: das ist für euch, nicht für uns.
Olga Neuwirths Trurliade — Zone Zero für Percussion und Orchester.
Die Konzerte waren gut besucht – aber nicht von Leuten aus Ostrava oder Touristen von außerhalb, sondern von den Komponisten des Festivals, den Musikern und den Fellows, die sich die gesamte Bandbreite des Gebotenen ansahen. Man kann die Ostrava Days nicht halbherzig durchziehen. Sie gehören zu der Sorte von Familientreffen, die ohne Pause und ohne sich überschneidende Veranstaltungen, ohne Treffen in kleineren Gruppen und ohne Zeit zum Runterkommen funktionieren. Ein Konzert in der St. Wencelas-Kirche dauerte etwas länger als geplant – danach strömte eine Herde von Musikern, Komponisten, Journalisten und Musikenthusiasten quer durch die Stadt zu »Cooltour«, wo kurz nach unserer Ankunft das nächste Konzert begann, ganz so, als hätte es kein anderes Publikum gegeben, das erwartet hätte, dass das Konzert pünktlich beginnt. So viel Musik hören zu können war zu Beginn noch aufregend, wurde aber schnell erschöpfend und zermürbend. Wie können die anderen Zuhörer nur so konzentriert bleiben? Diese Frage ging mir durch den Kopf, als ich gerade einer besonders lähmenden Episode des Hochstapler-Syndroms unterlag.

Es gab herausragende Konzerte. The People United Will Never Be Defeated! von Frederic Rzewski wurde gespannt erwartet und erfüllte die großen Erwartungen. Nach vielen Stunden voller selbstverliebter Kunst, die keinen anderen Existenzgrund zu haben schien als die Kriterien für die residency zu erfüllen, war es ungemein erfrischend, ein ungeniert politisches Werk zu hören, in dem Rzewski den singenden Demonstranten im Nachklang des chilenischen Putsches von 1973 eine pianistische Stimme verleiht und Ortegas Protestsong in 36 Variationen verarbeitet. Der Pianist Daan Vandewalle spielte das Stück leidenschaftlich, aber trotzdem präzise (und gab zwei Zugaben, eine von Rzewski und eine von Alvin Curran – als Rausschmeißer). Gegen Ende des einstündigen Werkes war das Widerstands-Thema in mein Bewusstsein eingemeißelt, auch wenn die 36 Variationen es vorher in alle möglichen Richtungen gedreht und gewendet hatten.
Frederic Rzewski spielt sein The People United Will Never Be Defeated! für Piano solo.
Zu Beginn des Festivals hatte Kate Sopers Oper Here Be Sirens eine wunderbare Reise in das Alltagsleben der homerischen Sirenen bereitet. Soper dekonstruiert geschickt gegenderte Vorstellungen von Stimme und Identität, obwohl ihr geistreiches Libretto – in dem ihre eigene Stimme sich mit denen von Homer, Sappho, Dante, Edna St. Vincent Millay und anderen vermischt – bei Teilen des Publikums immer wieder großes Gelächter hervorrief. Die große Schlussnummer eine Woche später war Olga Neuwirths Trurliade – Zone Zero. Die musikalische Sprache Neuwirths ist ebenso lustig und klug wie auf eine komplexe Art und Weise schön. Über mehr als eine halbe Stunde waren wir umgeben von Klangknoten, die immer wieder gedehnt, entwirrt und gestrafft wurden. Das war keine Musik, die nur um ihrer selbst Willen existierte, sondern die Musik einer Künstlerin, die etwas zu sagen hatte und lange und hart arbeiten musste, um ihre Stimme hörbar zu machen.
Zwischen Soper und Neuwirth wurden wir mit den Klängen und Texturen von Jennifer Walshe verwöhnt, deren eindringliches Stück Zusammen I Stille, Klänge, Stimmen und Bewegung umfasste. Die Musiker*innen schwankten und stolperten in einer aufreibenden, vorsichtigen Choreographie um das in der Mitte sitzende Publikum der Galerie für Bildende Kunst. Kaija Saariahos Stück Folia kehrte die Schönheit und unmögliche Körperhaftigkeit des Kontrabasses hervor und Rebecca Brutons Evening Cream, kunstvoll vorgetragen vom unnachahmlichen Momenta Quartet, war ein weiterer Höhepunkt. Von den 104 Werken, die im Laufe des Festivals aufgeführt wurden, waren 13 von Frauen komponiert. Als ich das Geschlechterverhältnis zum ersten Mal auseinanderdividierte, war ich begeistert über das hohe Maß der Repräsentation, aber im Laufe des Festivals machten sich meine Spielverderber-Instinkte bemerkbar. Wenn sich ein Achtel schon so aufregend anfühlt, wie würde sich dann erst die Hälfte anfühlen? Mussten Frauen acht Mal so gut sein wie Männer, um ihren Weg in diese Konzertprogramme zu finden?
Diese Fragen sind bedeutungslos für die Familie, die Kotík und seine Mitarbeiter in Ostrava über die letzten Jahrzehnte aufgebaut hat. Die engmaschigen Strukturen der Ostrava Days schaffen Zusammenhalt, nicht aber Gleichheit. Diese Männer sind zu sehr von ihrer eigenen fragilen Größe überzeugt: einer Größe, die sie nie näher unter die Lupe nehmen würden, weil das unter Umständen ein Hinterfragen der Strukturen nach sich ziehen würde, die sie selbst in ihre Position gebracht haben. Als feministische Musikkritikerin in diese homogene Masse einzutauchen, hat sich so angefühlt, als sei man ein Tropfen Essig auf einer großen Menge Öl. In Brooklyn sehe ich viele derselben »Arschlöcher« und höre ihre Musik, danach aber kann ich die Spielstätten der Avantgarde-Elite verlassen und mich an anderen Orten entspannen, zwischen Gesichtern und Stimmen, die mir keine Gefühle der Objektifizierung, des Herausstechens aus der Menge oder des Verrats bereiten. In Ostrava wurde diese dysfunktionale Familie für zehn Tage zu meiner Welt, zu einer Welt, die so sehr geprägt war von Selbstbesessenheit und Misogynie, dass ich nach Hause fuhr ohne jegliche Pläne, irgendwann einmal zurückzukehren. Aber natürlich wusste ich tief in mir: Sobald ich meine Füße wieder auf den Boden in Brooklyn setze, würde ich schon wieder zurück sein.¶