Ich habe Daniel Barenboim zwei Mal getroffen: zunächst bei seinem ersten Peking-Besuch 2008; nach einer Pressekonferenz haben wir uns kurz unterhalten. Ich war damals von seinen und Edward Saids Friedensbemühungen im Mittleren Osten sehr beeindruckt und hatte die chinesische Übersetzung ihrer Dialoge Parallelen und Paradoxien: über Musik und Gesellschaft gelesen. Auch seinen unorthodoxen Umgang mit der Kombination Richard Wagner und Jerusalem fand ich bemerkenswert (2001 dirigierte Barenboim in Jerusalem einen Auszug aus Tristan und Isolde als Zugabe, d. Red.), und so konnte ich einen chinesischen Verleger davon überzeugen, sich die Rechte an Barenboims damals aktuellem Buch Everything is Connected zu sichern und begann selbst, das Werk zu übersetzen.

Im letzten Sommer habe ich Barenboim ein zweites Mal getroffen, wieder nach einer Pressekonferenz, in London, auf der er ein neues Klavier vorgestellt hatte. Als wir danach die Treppe hinuntergingen, fragte er nach seiner Zigarre und sagte dann zu mir: »Die fehlende musikalische Früherziehung in den Schulen und die generell schlechte Ausbildung in Musikschulen haben die Musik in den Elfenbeinturm verbannt.« Dann änderte er die Richtung des Gesprächs nach China: »Die klassische Musik ist relativ spät nach China gekommen, aber sie hat sich wirklich entwickelt!« Er schlussfolgerte: »Musik gehört jedem, unabhängig von Talent, Herkunft.« Er schien es zu genießen, moralische Instanz zu sein.  

Pool in a Harem; Jean-Léon Gérôme, circa 1876
Pool in a Harem; Jean-Léon Gérôme, circa 1876

An eben diesem Abend hielt Barenboim einen Vortrag in Gedenken an Said. Er kam dabei auf unser Thema zurück, allerdings aus veränderter Perspektive: »Die europäischen Regierungen haben in den letzten 20 Jahren völlig falsch auf die Öffnungen von Ländern wie China, Indien, Brasilien reagiert. Wir wissen alle, wie gut das Kopieren in China funktioniert, dort werden Autos gebaut, so gut wie ein BMW oder Volkswagen, aber um einiges billiger … es ist viel besser, die Berliner Philharmoniker mit Beethovens 1. Sinfonie nach China zu schicken, denn das ist etwas, was sich nicht nachbauen lässt.«

In einer Kneipenrunde hätten mich solche Aussagen nicht weiter verwundert, aber wenn sie von einem angesehenen Dirigenten, Pianisten und Aktivisten bei der ›South Bank Centre Edward Said-Lecutre‹ – »dem musikalischen Zentrum der Welt«, so Barenboim – getroffen werden, muss es erlaubt sein, nachzuhaken. Ich bewundere Barenboims Engagemenet in der Friedensarbeit, und ich denke auch, dass es der klassischen Musik gut tun würde, ein breiteres Publikum zu erreichen, aber es kommt dabei doch auch sehr auf die Absichten und die entsprechende Haltung an.

Barenboims Schätzungen zufolge wird im Jahr 2050 die dann auf 1,5 Milliarden Menschen angewachsene afrikanische Bevölkerung »keinen blassen Schimmer von europäischer Kultur haben.« Das trifft den Maestro, denn die Möglichkeit, dass das Prestige, das die westlich-klassische Musik heute in der Welt innehat, nicht gehalten werden kann, wirkt bedrohlich. Barenboim hat sich entschieden, klassische Musik für den Rest seines Lebens in »Indien, Äthiopien, Iran und all diesen Ländern« zu fördern.

Das kommt mir sehr bekannt vor. Als Barenboim »China, Indien, Afrika und Brasilien« als Regionen anspricht, »die sich in den letzten 20 Jahren geöffnet hätten«, fällt mir sofort Chinas Kolonialgeschichte ein und das Aufstoßen der verschlossenen Türen der Qing-Dynastie durch das British Empire und die großen Mengen an importierten Opium. »Ich möchte jetzt gerne alle Orte erkunden, an die noch keine Musik gebracht wurde.« Barenboim behauptet, im Namen der Musik zu sprechen, ich werfe dabei allerdings einen Blick auf die Denkweise eines Kolonialisten.

Während unzählige Eltern ihre Kinder in die Maschinerien der »Musikstar«-Produktion stecken und die Kleinfamilie immer mehr zum Löwenanteil des chinesischen Konzertpublikums wird, behauptet der Eurozentrist, »die Hoffnung der klassischen Musik liege im Osten.« In Barenboims Idealvorstellung sollten Musiker aus der ganzen Welt zusammenkommen und sicherstellen, dass die europäische Kultur »erhalten« bleibt. Seine zwei »berührendsten« Momente in den letzten Jahren: der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers in Ramallah, und – mit Beethovens 9. Sinfonie – das erste Klassik-Konzert in Ghana überhaupt:

»Sie hatten keine Ahnung was wir da spielen, hörten aber gebannt zu. Ich bin mir sicher, dass sie nichts von der Sinfonie verstanden haben, wie auch, aber, viel wichtiger: sie waren Zeugen eines wichtigen menschlichen Moments.« Und dann plädierte er dafür, dass alle großen europäischen Orchester an die Orte müssen, »wo man Musik nicht versteht.«

La Pêche chinoise; François Boucher, 1742
La Pêche chinoise; François Boucher, 1742

Seltsamerweise sollte der Vortrag eigentlich Saids Lebenswerk ehren. Wir kennen den späten Said, Barenboims akademischen Freund, vor allem durch seine Prägung des Begriffes ›Orientalismus‹: Damit meint er eine bevormundende Haltung aus dem Westen gegenüber Gesellschaften weiter östlich. 1999 gründeten die beiden zusammen das West-Eastern Divan Orchester, und ihre Gespräche über Musik und Gesellschaft, veröffentlicht unter dem Titel Parallelen und Paradoxien haben seither viele beeinflusst. Dass östliche und afrikanische Gesellschaften, beide mit reichen, Tausenden von Jahre alten musikalischen Traditionen, mit westlicher Musik beliefert werden müssen, entspricht ziemlich genau Saids Definition von Orientalismus.

Die Orchester, denen Barenboim anrät, in neue Märkte zu ziehen, stoßen dort keineswegs auf unbestellte Felder. Vielmehr konkurrieren sie mit lokal ansässigen Ensembles und reichen, klassischen Traditionen, in manchen Fällen ersetzen sie diese sogar.

Jedes Mal, wenn in China ein neues Opern- oder Konzerthaus gebaut wird, kommen auf Einladung der Regierungen oder Unternehmen die großen europäischen und amerikanischen Superstars. Die mediale Öffentlichkeit sieht darin dann den Beweis für einen »aufstrebenden Markt für klassische Musik«.

Vor drei Jahren haben die großen Konzerthäuser in Peking ausgiebig das »Gustav Mahler Jahr« gefeiert. Im NCPA, dem großen Nationalen Zentrum für Darstellende Künste in Peking, spielten sieben große europäische Orchester die zehn Mahler-Simfonien. Im gleichen Monat war das gleiche Programm – zehn Mal Mahler, interpretiert von verschiedenen Orchestern aus Europa – im Rahmen des jährlich stattfindenden Beijing International Music Festival gleich noch einmal in der Stadt zu hören. Es war faszinierend, dass einem »schwierigen« Komponisten wie Mahler eine solche Aufmerksamkeit zuteil wird, zumal in einem Land, in dem es nach wie vor einen Markt für das kitschige Neujahrskonzert gibt, in dem europäische Musiker/innen, die eigentlich als Touristen unterwegs sind, spielen und das stets für ein volles Haus sorgt und dem frenetisch applaudiert wird.

The Chinese Garden (detail); François Boucher, 1742
The Chinese Garden (detail); François Boucher, 1742

Anders bei den drei großen chinesischen Orchestern, dem China Symphony Orchestra, den China Philharmonic und dem Beijing Symphony Orchestra – alle drei bemühen sich nach Kräften, klassische europäische Stücke mit zeitgenössischen chinesischen Werken zu kombinieren. Sie leiden unter der Abwesenheit einer treuen Hörerschaft, Besserung ist nicht in Sicht.

Unter anderem solche Entwicklungen sorgen dafür, dass außer-europäische klassische Musik marginalisiert wird, darunter auch die chinesische pentatonische Musik, die auf eine mindestens 2.600 Jahre umfassende Geschichte zurückblickt. Ich bin davon überzeugt, dass die klassische Musik aus Europa für die Entwicklung der Menschheit sehr bedeutsam war, aber genauso bedeutsam und inspirierend sind auch andere Arten von Musik. Als Liebhaberin der westlichen klassischen Musik freue ich mich, dass auch diese Art von Musik in China immer mehr Zuhörer findet; trotzdem schaue ich auch ein wenig neidvoll auf den afrikanischen Kontinent, wo die diversen musikalischen Traditionen im täglichen Leben noch eine große Rolle haben. Musik spricht nicht in Genres und Klassen, sie lebt. Und dafür braucht sie keinen europäischen Messias. ¶