Klassische Kunstmusik in Trumps Amerika. Notizen zu einer möglichen Bewegung.

Text & · Datum 23.11.2016

Am 24. November des Jahres 1963, zwei Tage nach der Ermordung von John F. Kennedy, dirigierte Leonard Bernstein Mahlers Auferstehungssinfonie (die Zweite) mit dem New York Philharmonic Orchester in einer landesweiten Gedenkfeier für den toten Präsidenten. Drei Tage später richtete sich Bernstein an ein Publikum von 18.000 Menschen im Madison Square Garden und sprach die berühmten Worte: »Das wird unsere Antwort auf die Gewalt sein: Wir werden noch intensiver Musik machen, noch schöner, noch hingebungsvoller als jemals zuvor.«

Bernstein bekräftigte, dass wir im Angesicht der Tragödie nicht hilflos sind: Wir haben die Kunst, diesen extremen Ausdruck unseres Menschseins, mit der wir das Dunkel vertreiben können.

Am Morgen des 9. November, mussten wir eine andere Tragödie realisieren: Es war ein schwerer Schlag für Demokratie, Zivilisiertheit und Inklusion in den Vereinigten Staaten. Aber die Wahl von Donald Trump ist noch mehr als das: Sein Triumph ist eine ernstzunehmende Bedrohung für die Gewaltenteilung, die Verfassungsorgane und selbst für die Verfassung unseres Landes. Seine ersten Personalentscheidungen als gewählter Präsident haben unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Rassistischer Nationalismus, Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit, Frauenhass, Ausbeutung und ein autoritärer Regierungsstil werden dieses Land in den nächsten vier Jahren steuern.

Wir sind klassische Musikerinnen, eine Cellistin, eine Geigerin. Am Tag nach der Wahl waren wir nicht nur als Bürgerinnen sondern auch als Musikerinnen betäubt. Wir haben die Funktion unserer Kunst in Frage gestellt, unter einer Regierung, die unsere persönliche Sicherheit und unsere verfassungsmäßigen Rechte bedroht, von unserer Vision eines fortschrittlichen Amerikas ganz zu schweigen. In diesem Elend kam es uns wie eine unpassende Antwort vor, Musik wie bisher zu spielen. Bernsteins Worte, so edel sie waren, kamen uns jetzt wie eine Ausrede vor: Musik »kann keine Kriege stoppen, die Alten nicht jünger, das Brot nicht günstiger machen« (Quelle). Aber ist es nicht leider doch wahr? Musik kann viel tun, aber Bachs Chaconne bringt weder Leute zu den Wahlurnen, noch ändert sie das Wahlergebnis.

Klassische Musik ist nicht tot, aber vielleicht schläft sie. Wir bemerken öfter, dass das Umfeld, in dem unsere Musik gespielt wird, irgendwie quer zu unseren politischen Überzeugungen und Wünschen steht. Wir bestätigen die soziale Ungleichheit mit Programmen, deren Ticketpreise die Geldbörsen von allen außer den Reichen belasten; Streichquartette und Sinfonien werden runtergespielt auf Galaveranstaltungen. (Generell scheint sich die klassische Musik des Unterschieds zwischen Geld und Klasse nicht bewusst zu sein.) Wenn wir Aida, Madame Butterfly und andere exotisch-orientalistische Werke aufführen ohne sie zu kontextualisieren und obwohl wir von deren manchmal entmenschlichenden Tendenzen wissen, dann bestätigen wir die Auffassung, dass Musik nicht für alle ist, dass es uns genehm ist, Menschen auszugrenzen im Namen hochklassiger Unterhaltung. Die berühmtesten klassischen Ensembles sehen fast genauso aus wie immer: Die Musiker/innen schauen ernst, sind weiß oder asiatisch, die Dirigenten meist einfach ernst, weiß und männlich – vom Werke-Kanon ganz zu schweigen. Während wir uns weiterentwickeln, frustriert es uns manchmal, dass wir von der Klassikkultur aufgehalten und zurückgerissen werden. Also ist unsere Frage: Wie können wir uns politisch engagieren in- und außerhalb unserer Branche?

Die Schwierigkeit rührt unter anderem daher, dass unsere Arbeit automatisch Isolation bedeutet. Für einen bestimmten Teil des Tages befindet sich der Musiker auf Entzug von der Welt. Man erzählt sich über den Geiger Jascha Heifetz, dass er im Übezimmer eingeschlossen war und durch das einzige Fenster des Raumes gesehen hat, wie seine Freunde im Hof herumtollten. Musiker/innen zucken bei dieser Geschichte zusammen, vielleicht loben manche Hörer aber im Verborgenen die Einsamkeit, in der der Junge seine Tonleitern so perfektionieren konnte. Vieles an der klassischen Musik dreht sich um Zusammenarbeit, aber Musiker/innen werden im Proberaum gemacht, alleine, stundenlang.

Auf der Bühne hoffen wir, dass sich das, was wir entwickelt und geschliffen haben, überträgt, dass unsere Kunst beim Publikum und bei uns selbst nicht ohne Spuren bleibt. Im Großen und Ganzen haben wir Erfolg. Klassische Musik ist nicht deswegen schon so lange lebendig, weil noch niemand den Mut besaß, sie zu erledigen. Wir spielen heute Bach und Brahms, weil deren Musik Jahr für Jahr die Grundlage unendlicher Erneuerung ist. Musik spendet uns Trost und Stärke, Nietzsche nannte sie »ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt.« Gerade öffentliche Darbietungen erlauben es uns, mit anderen gemeinsam zu fühlen, Zwiesprache zu halten. Womöglich gehen wir anders in die Welt hinaus, nachdem wir Brahms’ Requiem mit anderen gemeinsam gehört haben (»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.«): Wir sind dann bereit, uns mit Mitgefühl einzubringen.

Wir könnten natürlich auch hoffen, dass die Musik einfach so universell und transzendent ist. Aber dieser Wunsch kann ein Boomerang sein, und dann laufen wir in einer unpolitischen Endlosrille, die am Ende nur den Mächtigen hilft. Wir wollen Musik als Mittel des Eskapismus vermeiden, wir wollen auch über die Kartharsis hinausgehen und jetzt einen Weg des Engagements gehen.

Wir würden einer langen Tradition folgen, denn Revolutionen hatten immer auch Soundtracks. In Südamerika brachte der nueva canción, gespielt mit Instrumenten aus den Anden, die Leute in den 1970ern und 80ern auf die Straße, um gegen Armut und Imperialismus zu protestieren. In Russland versah Dmitri Schostakowitsch – der zeitweise unter der Treppe schlief, damit seine Familie nicht zusehen musste, falls er verhaftet würde – seine Musik mit codiertem Ungehorsam gegen das Regime. Pablo Casals spielte nicht in Ländern, die den Franco-Faschismus unterstützten.

Im Moment haben wir in der Kunstmusik wenig Rollenmodelle für koordinierten Widerstand. In der Zeit nach der Desaster-Wahl fanden wir Zuflucht und gewannen Widerstandsfähigkeit in den Privaträumen unserer Lehrer mit ein paar anderen Musikfreunden. (Jeremy Denk schreibt, dass »niemand einen unterrichtet, wie sehr das Unterrichten der Therapie gleicht»). Aber so weit wir sehen können, fehlt es an einem historischen Bezugspunkt.

Wenn Totalitarismus für die Auslöschung des Privatlebens unter der Überwachung eines gewaltbereiten Staates steht, dann kann eine Privatstunde oder eine Musik-Session ein Symbol des Widerstandes sein. In Roman Polanskis Der Pianist versteckt sich der polnisch-jüdische Pianist Władysław Szpilman in einer Wohnung, während sich der Warschauer Aufstand in den Straßen erhebt. Er sitzt am Klavier und tut so, als würde er Chopins Grand Polonaise spielen, sucht Freude auch im Eingesperrtsein. Wir werden diese Räume unter den Bedingungen einer Autokratie verteidigen. Aber wir wollen auch wissen, wie wir unsere Institutionen stärken können – Kunstvereinigungen, Orchester, Konservatorien – und wie wir reaktionsfähige, mutige Künster/innen im Angesicht des Terrors sein können. Unter einem gewählten Präsidenten, der seine Gegner gerichtlich verfolgt hat, der während seiner Wahlkampagne gedroht hat, seine politische Gegnerin ins Gefängnis zu bringen, würde es uns gut anstehen, uns zu koordinieren und gemeinsam unsere Stellung zu behaupten.

Wenn wir den Status Quo ändern wollen, können wir nicht davon ausgehen, dass die Musik für sich selbst spricht. Viele von uns sind bereit, sich für die Bewegung zu organisieren. Was heißt das für uns? Wie können wir unsere Kunst in den Dienst der Politik stellen? Wir können den Kampf als Bürger/innen aufnehmen, indem wir für Organisationen spenden, unsere Senatoren anrufen und demonstrieren. Aber wie können wir auch als Musiker/innen beitragen und diesen Angriffen auf unsere Werte innerhalb der Musikwelt die Stirn bieten?

Wir rufen euch alle auf, dies zu erforschen, Zeit und Raum für mutige Experimente zu beanspruchen, auch in dieser Notlage. Wir müssen gerade in diesen wirren Zeiten zusammenkommen, diskutieren, mit alten Freunden und neuen Bekanntschaften sprechen, uns auf der Straße versammeln. Was wird unsere Sprache sein, wenn wir über klassische Musik und fortschrittliche Politik sprechen, so wie es Autoren hier, hier, hier und hier getan haben? Geht da noch was? Wo passieren diese Diskussionen und musikalischen Äußerungen bereits? Wie können wir alle mit reinholen? Führt das zu Aktion?

In seinem Buch Music Quickens Time berichtet Daniel Barenboim davon, wie die Musik uns an Zusammenhang und Einheit erinnert, wenn unser Instinkt dazu neigt, unsere Erfahrungen zu atomisieren. »Wie oft denken wir, dass das Persönliche, das Soziale und das Politische voneinander unabhängig sind«, schreibt er. »Von der Musik können wir lernen, dass dies objektiv unmöglich ist, es gibt keine voneinander getrennten Elemente. Das logische Denken und die emotionale Intuition müssen ständig vereint werden. Die Musik sagt uns, dass alles verbunden ist.« Das ist ein wunderbares Statement, daran glauben wir als Musiker/innen; wir wollen es wahr machen für die, die uns zuhören.

Und dennoch haben wir das Gefühl: Nur die Instrumente zu erheben, ist nicht mehr genug. ¶