Über Nicht-Konzert-Besucher*innen und wie man auf sie zugehen könnte.

Text · Datum 14.8.2019

Was für eine Zahl: Die Bundeszentrale für politische Bildung geht davon aus, dass Kultureinrichtungen von lediglich 4,5 Prozent der in Deutschland lebenden Erwachsenen genutzt werden. Andere Studien sind leicht optimistischer, aber die Statistiken bleiben bitter.Dabei geht es immer um die Gesamtheit hochkultureller Einrichtungen, also Oper, Schauspiel, Tanz, Klassische Musik und Museen. Daten für Klassische Musik allein gibt es nicht.

Aber besser würde es in der Einzelbetrachtung sicher nicht werden. 95 Prozent der theoretisch möglichen Besucher*innen kommen nie – oder fast nie. Das muss man sich als Musiker*in, Veranstalter*in, Dramaturg*in oder auch begeisterte Besucher*in immer wieder klar machen. Auch wenn es schmerzt und vor allem viele Fragen aufwirft.

Der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle von der Zeppelin Universität Friedrichshafen hat nun eine umfangreiche Studie zu dieser bisher weitgehend unbekannten Spezies der 95% vorgelegt, die ein differenzierteres Bild zeichnet: »Nicht-Besucher-Forschung« ist der Titel des Buches. Insgesamt 1268 von Studierenden ausgefüllte Fragebögen wurden ausgewertet, bisher »explizite Kultur-Vermeider*innen« in Konzerte, Opern und Theater eingeladen und anschließend befragt.

Die Ergebnisse dieser Arbeit sind überraschend und ermutigend – einerseits. Weil Potentiale aufgezeigt werden. Andererseits zeigen sie, wie fern offenbar »wir« (Künstler*innen, Veranstalter*innen, Kulturproduzent*innen, Dramaturg*innen etc.) von unserem potentiellen Publikum agieren.

Zunächst wird deutlich, wie schmal der Grat zwischen Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen ist. Denn viele würden offenbar doch mal gehen, wenn sie zum Beispiel von einem Menschen ihres Vertrauens eingeladen würden. Begleitetes Kultur-Erleben für Vielleicht-doch-mal-Besucher*innen sozusagen. Denn eines der Studienergebnisse ist überdeutlich: Das Lesen einer Kritik im Kulturteil führt nur in 2 (!) Prozent aller Fälle zur Besuchs-Entscheidung, die Reputation der Künstler*innen beeinflusst potentielle Besucher*innen zu lediglich 3 (!) Prozent positiv. Aber überwältigende 46 Prozent sagen, dass die Empfehlung durch einen vertrauten Menschen den entscheidenden Impuls gebracht hat – egal, ob dieser Tipp analog in der Kneipe oder über einen Social-Media-Kanal empfangen wurde.

Andere, die zum Teil erstmalig zum Beispiel ein klassisches Konzert besucht haben, wundern sich, dass ihre Vorurteile so wenig bestätigt wurden. Dass sie sich weniger gelangweilt und viel weniger nicht-dazugehörig gefühlt haben, dass Publikum und Atmosphäre gar nicht so gewesen sind, wie sie vermutet hatten.

Insgesamt, so sagt die Studie, ist das Potential für neues Publikum für Kultureinrichtungen erheblich größer als angenommen: Circa 20 Prozent aus der Gruppe der »Selten-« oder »Noch-nicht«-Besucher*innen seien zu gewinnen – allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen.

Martin Tröndle schreibt: »Je näher die Kunst den Menschen ist, desto eher besuchen sie Kultureinrichtungen. Nähe muss hier als ein vieldimensionaler Begriff verstanden werden: er impliziert Nähe zur Kunst durch die Sozialisation im Elternhaus, die eigene Studienrichtung, durch die man immer wieder mit künstlerischen Themen in Berührung kommt, durch das Wissen über und den persönlichen Kontakt zur Kunst, eigene künstlerische Tätigkeiten, den Kontakt mit Kunst durch die Schule und den Besuch von Kultureinrichtungen. Aber er impliziert auch die Nähe durch den eigenen Musikgeschmack und Freizeitpräferenzen sowie den Freundeskreis. Je näher die Kunst an der eigenen, erfahrenen Lebenswirklichkeit ist, desto wahrscheinlicher ist auch der Besuch.«

Diesen weit gefassten Begriff der Nähe schlägt Tröndle als neues Dispositiv für das Nachdenken über Kulturangebote vor: »Es geht nicht darum, Barrieren abzubauen, sondern darum, Nähe aufzubauen.«

Konsequent weitergedacht, hätte dies weitreichende Folgen für die Programmentwicklung in Kultureinrichtungen. Denn im klassischen »Audience Development« – so der sehr nüchterne Fachterminus für das Gewinnen von Publikum – geht man bislang immer von einem fertigen »Produkt« aus, das nur besser vermittelt werden muss: Barrieren sollen abgebaut, Hürden genommen werden. Das eigene, mit Stolz präsentierte Angebot wird selten in Frage gestellt. Vermittlung und Marketing sollen den Erfolg bringen.

Die Frage, die die Studie aufwirft, ist aber: Müssen wir nicht auf eine ganz andere Art unsere Programmangebote entwickeln? Und welche Konsequenzen hätte das?

Im Kern sind die meisten Kulturinstitutionen von strengen Hierarchien geprägt, die im Inneren manchmal anmuten wie die letzten Inseln der Monarchie. Der Intendant bestimmt die Richtung. Dann gibt es Dramaturgen, Marketing- und Kommunikationsspezialisten sowie in zunehmendem Maße Menschen, die Vermittlungsprogramme entwickeln. Manchmal dürfen die auch mitreden.

Wenn die Studie Recht hat und die gezogenen Schlüsse zutreffen, steht das eigentlich alles in Frage. Nähe aufzubauen hieße nämlich, als Kulturinstitution eine völlig neue Haltung einzunehmen: Fragen stellen, zuhören, abholen, einbinden. Die Kontaktaufnahme mit dem Publikum dürfte nicht erst bei der Vorstellung des fertigen Programms starten, sondern mit einem ergebnisoffenen Entwicklungsprozess, der Kooperationspartner, Netzwerke und potentielle Zielgruppen einlädt: Was sind (eure) aktuellen Themen? Welche Aufführungssituationen und Formate sind geeignet? Welche Räume können genutzt werden? Was fördert das Erleben, was hindert es?

Nun höre ich schon den Aufschrei des Entsetzens: Kunst braucht Hierarchien! Einer muss bestimmen! Wäre ja noch schöner, wenn alle mitreden könnten! (siehe Barenboim-Debatte)

Natürlich ist es nicht förderlich, wenn jeder Orchestermusiker in einer anderen Geschwindigkeit spielt. Aber anzunehmen, dass sich der Großteil der Menschheit selbstverständlich für das angebotene Programm interessiert und es relevant findet, ist auch falsch. Kunst und Kultur wird zu oft als top-down verstanden: Wir hier oben auf dem sprichwörtlichen oder tatsächlichen Hügel (oder Freitreppenende), ihr da unten als Publikum, die die Kunst (und uns) bewundern sollt.

Aber warum sollte das selbstverständlich jemand interessieren? Die gefühlt beherrschende Berichterstattung über die diesjährigen Bayreuther Festspiele fand über die Absage von Frau Netrebko statt. Und das Abendkleid von Frau Merkel, sowie die auffallende Tatsache, dass sie zunächst ohne ihren Ehemann erschien. Kunst? Inszenierung? Worum ging es noch mal?

Ich fände es tatsächlich interessant, anstatt immer wieder das Gleiche mit neuen Gesichtern und noch teureren Hochglanzbroschüren zu verkaufen, über Kunst und Kultur zu diskutieren, zu streiten. Über Sinn und Unsinn, über Essentielles und Existentielles. Und darüber, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat und sich ständig weiter verändert – denn das ist die Voraussetzung.

Auch zu diesem Thema liefert das Buch von Martin Tröndle spannende Erkenntnisse:

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu entwickelte auf der Basis verschiedener Untersuchungen Mitte der 60er Jahre das Bild von der Hochkultur als Distinktionsmerkmal für die besser ausgebildete und besser verdienende Gesellschaftsschicht. Die aktuellen Daten widersprechen dem: Das kulturelle Interesse ist durchaus breiter gestreut und unabhängig von der Einkommenssituation. Und der Besuch klassischer Kultureinrichtungen wie Oper und Sinfoniekonzerte gehört schon lange nicht mehr zum gesellschaftlichen Konsens. Im Gegenteil. Interessen sind extrem diversifiziert, Gruppenzugehörigkeiten werden flexibel gewechselt, der Einfluss sogenannter Leitmedien schwindet ständig. Seit den 60er Jahren hat sich eben doch einiges geändert.

Die Gegenwart erscheint vielen, jedenfalls vielen Jüngeren, erheblich interessanter als die Vergangenheit. In vielen Seminaren mit angehenden Kulturwissenschaftler*innen habe ich immer wieder die Frage gestellt, warum der Besuch eines Konzertes mit Klassischer Musik für die meisten von ihnen so unattraktiv ist. Die häufigste Antwort war: »Das hat nichts mit mir zu tun.« Bach, Schubert, Brahms – alle schon lange tot. Da haben sie Recht. Aber da ist sie wieder, die Nähe – oder ihr Fehlen. Doch das Ringen um oder, wie Martin Tröndle schreibt, »das Aufbauen von« Nähe hat nichts mit musikalischer Dramaturgie oder kuratorischen Entscheidungen von wer spielt was zu tun. Obwohl wir uns als Akteure einbilden, dass wir mit unseren klugen Programmstrategien Alleinstellungsmerkmale, Feuilleton-Relevanz und Publikumserfolge gleichermaßen erreichen.

Folkert Uhde über Nicht-Konzert-Besucher*innen und wie man auf sie zugehen könnte in @vanmusik.

Vielleicht ist alles ganz anders, mit zunehmender Tendenz. Vielleicht geht es um andere Fragen und ein ganz anderes Selbstverständnis: Beim Abbauen von Barrieren verharrt man an einem Ort und auf seinem Standpunkt. Zum Aufbauen von Nähe muss man sich aktiv auf den Weg machen. Weniger Ego, vielleicht mehr: Und ihr so? ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.