Im Jahr 2020 wurde der britische Mathematiker Sir Roger Penrose mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet für seine Theorie, dass Schwarze Löcher »unausweichlich und perfekt« seien, wie die Kosmologin und Autorin Janna Levin in ihrer ZUsammenfassung seine Arbeit ausdrückt: »Ein Schwarzes Loch ist in seiner Makellosigkeit wie ein fundamentales Teilchen. Der Ereignishorizont verbirgt jede Individualität, sie sind nicht mehr zu unterscheiden.«
Ein Jahr zuvor veröffentlichte die Dichterin, Musikerin und Aktivistin Moor Mother das Album Analog Fluids of Sonic Black Holes. Es ist ein eher kosmisches als kosmologisches Werk, das sich durch die Geschichte windet, um Jahrhunderte von generationenübergreifendem Trauma, Unterdrückung und Hartnäckigkeit zu illustrieren. Whitney Wei beschreibt die Arbeit von Moor Mother treffend als »Sprengung des Mythos Amerika und Suche in den Trümmern, um die Stimmen der am stärksten entrechteten Menschen der Nation zu finden und das kollektive Gedächtnis der Schwarzen zurückzufordern und neu zusammenzusetzen«. Die Art und Weise, wie Moor Mother die Fäden des kollektiven und des individuellen Gedächtnisses, der Geschichte und der Soziologie verknüpft, ist ebenfalls unausweichlich wie perfekt. Die verschlungenen Pfade der Geschichte bilden einen Ereignishorizont, der den Individualismus zugunsten einer größeren, grundlegenden Wahrheit überwindet.
Am 16. September führt Moor Mother beim Beethovenfest Bonn Analog Fluids of Sonic Black Holes auf in einer von Ian Anderson (einem Mitglied des Streichquintetts Wooden Elephant) für Streichquintett und Orchester arrangierten Version. Dazu erklingt Bruckners 7. Sinfonie: epische Werke über Trauer und Verlust, voller Querverweise und mit einem ausgeprägten Bewusstsein für Geschichte. Ich treffe Moor Mother an dem Ort, den sie »Zoom Nation« nennt.
VAN: Wie kam die Zusammenarbeit mit dem Beethovenfest zustande?
Moor Mother: Ian [Anderson] hat mich kontaktiert, so ging es los. Ich hatte 2020, im Pandemiejahr, schon was zu Beethoven gemacht. Darum meinte ich: ›Ah, cool, mit Beethoven hab ich doch was gemeinsam.‹
Im selben Jahr wurde im Netz auch tagelang die Frage diskutiert, ob Beethoven nicht eigentlich Schwarz war.
Wenn einem die eigene Geschichte genommen und auseinandergerissen wird, dann kommt das irgendwann immer wieder hoch.
Wie eng haben Sie beim Arrangement von Analog Fluids of Sonic Black Holes mit Ian Anderson zusammengearbeitet?
Wir haben ein paar Mal telefoniert, um uns kennenzulernen und zu gucken, was wir machen können. Ich habe gerade ein paar klassische Kollaborationen am Laufen und wir sind über verschiedene Teile der Welt verstreut. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich mit Ian gesprochen habe, war er in Italien, also haben wir uns hauptsächlich in der Zoom Nation gesehen.
Auf dem Album ist ja alles sehr konkret und in eine feste Form gebannt. Was verändert sich da beim Übergang zu einer Live-Performance?
Schwierig ist natürlich, dass die Gäste vom Album nicht dabei sein können. Da muss man dann aushandeln: Wie kann ich das hinbekommen? Denn ich spreche wirklich nur meine eigenen Worte gerne. Ich mag es nicht, die Worte anderer zu präsentieren. Das war etwas, worüber ich gar nicht so viel nachgedacht habe, bis ich mit einem Kollegen gesprochen habe, der auch beim Album mitgemacht hat, und der meinte: ›Hey, ich wäre dafür auch zu dir geflogen‹, und ich meinte dann nur: ›Ach! Und ich habe nicht mal…‹ Aber das ist eben so eine Lektion, die man als tourende Musikerin lernt: zu sehen, was möglich ist, bei all diesen verschiedenen Parametern, die jeden Tag oder jeden Auftritt von außen mitbestimmen.
Auf Bandcamp schrieb Whitney Wei, Analog Fluids of Sonic Black Holes würde das kollektive Gedächtnis der Schwarzen neu zusammensetzen und dass Sie in dem Werk Themen berühren wie Rodney King, Latasha Harlins, die Unruhen in Chicago und Tulsa … Ändert die Aufführung dieses Werks mit Wooden Elephant und dem Beethoven Orchester Bonn, zwei größtenteils – wenn auch nicht ausschließlich – nicht-Schwarzen Ensembles, in irgendeiner Weise seine Bedeutung oder seinen Kontext? Ich fühle mich da ein bisschen an eine Szene aus American Utopia erinnert, in der David Byrne seine Coverversion von Janelle Monáes Hell You Talmbout vorstellt und selbst kommentiert, dass er da als mittelalter weißer Mann einen Black Lives Matter Protestsong singt.
Bei einem Orchester ist es etwas anders, weil die Musiker:innen die Musik ja von einem Blatt Papier ablesen. Und sie sind darauf trainiert, einfach nur die Musik zu spielen, die auf dem Papier steht; sie sind nicht darauf trainiert zu lächeln, sie sind nicht darauf trainiert zu tanzen, sie haben sogar mit den improvisatorischen Teilen deiner Arbeit nichts zu tun. Ich will das nicht kleinreden, aber das ist einfach die Realität dessen, wozu sie ausgebildet sind.
Ich bin eine improvisierende Musikerin. Ich arbeite eigentlich nicht so peinlich genau. Selbst wenn ich Stücke für Orchester komponiere, gibt es immer Raum für Improvisation. Aber ich habe das Gefühl, dass es in dieser Art von Kontext wegen des Albums so sein muss. Ich habe 2019 ein Stück mit dem London Contemporary Orchestra gemacht, in dem es um die Befreiung von der Sklaverei ging [1833 nahm die britische Regierung einen 20-Milliarden-Pfund-Kredit auf, um britische Sklavenhalter zu entschädigen, der schließlich 2015 abbezahlt wurde] mit dem Titel The Great Bailout, und es waren alles weiße Musiker:innen. Zwei von ihnen waren asiatischer Abstammung, das ist dann vielleicht nochmal was anderes, aber eigentlich war es für alle dasselbe: Sie alle sind in London. Wir sind alle ein Teil dessen, niemand ist dem entkommen; die Versklavung der Afrikaner:innen, der Imperialismus – niemand von uns ist dem entkommen. Wir sind dadurch alle miteinander verbunden.
Ich habe das Gefühl, dass dieser Sinn für Geschichte sich auch in den Samples zeigt, die Sie in Analog Fluids verwenden und die so vielschichtig sind. Sie verwenden nicht irgendeine Aufnahme von Nobody Knows the Trouble I’ve Seen, sondern eine Aufnahme von Paul Robeson, was angesichts von Robesons Biografie eine weitere Bedeutungsebene hinzufügt.
Das ist ein bisschen schwierig, denn während der Arbeit an einem Album hat man all diese Einschränkungen in Bezug auf das Sampling … Was ich sagen kann, ist, dass es darum geht, die Zeitverläufe zu schließen. Es geht darum, alles einander näher zu bringen. Das ist ein großer Teil der Arbeit meines Kollektivs Black Quantum Futurism: diese Neuinterpretation der Landkarte; die Neuinterpretation und Neukonfiguration des Verlaufes von Raum und Zeit. Darum geht es also wirklich. Ich versuche wirklich, diese Zeitachse zu schließen oder zu verkleinern und uns alle zusammenzubringen, weil wir alle miteinander verbunden sind und alle dieselben Dinge sagen, die manchmal beschönigt, manchmal abgekoppelt oder vergessen werden.
Viele von uns erinnern sich an Paul Robesons Vermächtnis als Sänger, der rassistische Schranken durchbrach; sehr viel weniger bekannt ist die Hölle, die er mit dem HUAC oder dem MK-Ultra Programm durchmachte.
Es geht nicht um die Werke, die die Menschen schaffen, sondern darum, wer sie sind. Ihr Mitgefühl, die Geschichten ihrer Kämpfe, ihre Mühen, die harten Wege, die sie gehen – darum geht es. Deshalb hinterfragen wir diese Normen, die festlegen, was ein Song ist. Diese Normen, was ein Genre ist oder welche Art von Werk von uns erwartet wird – ich spreche zumindest für mich selbst. Das basiert auf dem, was so viele vor uns durchgemacht haben. Da komme ich her, und die Verbindungen zu bestimmten Leuten, ihr hoher Stellenwert für mich, liegt in dem begründet, was sie durchgemacht haben, und nicht so sehr in ihrem Schaffen. Wenn das einen Sinn ergibt.
An wen denken Sie da zum Beispiel?
Billie Holiday. Für mich ganz oben auf der Liste. Und dabei habe ich vielleicht zwei Platten von Billie Holiday. Aber ihre Geschichte, was sie durchgemacht hat – darüber denke ich jeden Monat nach. Es gibt so viele Frauen, die ich einfach liebe: Blues-Musikerinnen, Gospelsängerinnen, die ich immer mag. Mahalia Jackson. Nina Simone, natürlich. Ein Genie.
Apropos Gospel und Blues: Sie haben diese Genres als eine ›liberation technology‹ bezeichnet. Wie meinen Sie das?
›Liberation technologies‹ nenne ich diese sehr wichtigen Säulen meiner Arbeit: Free Jazz, Gospel und Blues. Damit meine Arbeit das erreichen kann, was ich mir zum Ziel gesetzt habe, nämlich, wie ich eben beschrieben habe, die Zeitachse teilweise zu schließen, arbeite ich mit dieser Idee, diese Arten von Beschwörungen oder Flüchen durch die Zeit wandern zu lassen. Ich nutze Klang als Zeitreise. Und damit das klappt, brauche ich diese Säulen als Teil des Gewebes. In meinem Album Circuit City sage ich, dass man ohne Free Jazz keine Zeitreisen machen kann. Ich spreche ständig von diesen Elementen und bringe sie in meine Arbeit ein, ob es nun meine Stimme ist oder meine Samples. In meiner Arbeit wird es mehr und mehr in diese Richtung gehen.
In einem Interview meinten Sie mal: ›I really wanna fuck up classical music.‹ Wie sieht das für Sie aus?
Es gibt da ein paar Sachen von mir, die nächstes Jahr Premiere haben werden. Ich suche auf jeden Fall nach mehr Möglichkeiten, im klassischen Bereich aufzutreten. Ich glaube, es geht einfach darum, Perspektiven auf eine wirklich aggressive Art zu präsentieren; Ideen auf diese nicht-lineare Weise voranzubringen. Es geht darum, wirklich mutig und aggressiv zu sein und diese Art von Energie in die klassische Musik zu tragen. Und natürlich brechen wir alle Regeln, die besagen, dass man nicht fühlen oder Werken etwas hinzufügen kann. Bei dem Stück, das ich für das Beethovenfest geschrieben habe, haben der Chor und das Orchester sich richtig ausgetobt: gelacht, geweint.
Ich arbeite an der USC in Kalifornien in einer Abteilung für klassische Musik, und ich weiß, dass einige dieser Studierenden wirklich innovativ sind und die Grenzen dessen, was klassische Musik innerhalb der nächsten 100 Jahre sein wird, verschieben. Und ich möchte ein Teil davon sein, auf die experimentellste Art und Weise. Wenn wir nur John Cages Silence beschwören könnten. Oder diese Momente, in denen klassische Musiker:innnen diese Grace-Jones-Präsenz haben; diese Futurismus-Präsenz. Und das kann ständig lebendig sein, nicht wie diese Art von steinernen Monolithen. Ich sage nicht gerne ›tot‹ oder so was, ich sage lieber ›Stein‹ oder ›gefroren‹. Ich möchte etwas, das gefroren ist und gleichzeitig schmilzt. Etwas, bei dem wir vielleicht darüber nachdenken, wie wir das Schmelzen aufhalten können, oder wie wir es besser damit umgehen können. Diese verschiedenen Elemente der Freiheit, der Verantwortung, der Absicht mit so vielen Instrumenten. So viele Möglichkeiten des Klangs als Protest, Klang als Heilung und Aktivismus auf einmal. Zusammenhängend. Nicht diese getrennten Ideen von Vergangenheit und Zukunft. Tiefere Bahnen. Verstehen, dass es mehrere Ebenen gibt.
Und ich möchte so viele Aspekte dessen einbringen, was die Menschen sich für die Zukunft vorstellen. Ich möchte auf jeden Fall die Arbeit von Black Quantum Futurism einbeziehen. Wie ich schon sagte: Das sind alles keine getrennten Geschichten, wir haben schon so viele Verbindungen hergestellt. Manchmal haben die Leute das Gefühl, dass sie die erste Person sind, die jemals nach Europa gereist ist. Aber … nein! Wir Jazzmusiker:innen, wir Bluesmusiker:innen, wir sind schon immer nach Europa gegangen, bevor es die Mauer gab wie danach.
Es geht also darum, zu verstehen und nicht zu vergessen – und weiterzumachen. Nicht diese Idee von ›Wir machen hier Neues‹. Wir müssen das Neue loswerden. Das Alte untersuchen und schauen, was davon wirklich gut ist… Ich denke, das ist ein zentraler Punkt der Spaltung in der klassischen Musik, in der es einerseits eine Ehrfurcht vor der Vergangenheit gibt, andererseits aber auch ein Gefühl der kollektiven Amnesie.
Klassische Musik muss in der Lage sein, sich vom Papier zu lösen. Ich sage nicht, dass wir es komplett abschaffen sollen, aber … Ich denke ständig darüber nach. Wie viele Bücher brauchen wir noch über Abraham Lincoln? Wie viele Bücher brauchen wir noch über Benjamin Franklin? Wie viele Weihnachtskonzerte brauchen wir mit Musik von Beethoven? Wie viele? Wohin drängt es uns als kollektiver Geist, als soziales Bewusstsein? Wohin hat es uns als Gemeinschaft getrieben? Manchmal ist es in Ordnung, eine Pause einzulegen, es ist ja nicht so, als ob wir vergessen würden. Keiner kann vergessen.
Erleben Sie als Dozentin, dass auch Ihre Student:innen sich mit diesen Fragen beschäftigen?
Das tun sie auf jeden Fall. Kreative stehen gerade weltweit an einem wichtigen Punkt in der Geschichte. Vieles wird immer fortschrittlicher, zum Beispiel durch KI-Technologie und was die Nachhaltigkeit angeht… Aber für uns als Musiker:innen wird es nicht einfacher. Es wird bald wirklich wichtig werden, dass man eine eigene Definition von Erfolg hat. Denn in der Welt der Unterhaltung, in der Welt des Kapitalismus, ist oft das ein großes Geschäftsmodell, das nicht auf Gemeinschaften zugeschnitten ist. Und es ist auch nicht für gegenseitige Fürsorge geeignet. ¶