Übersetzung Liudmila Kotlyarova · Titelbild Gregor Klar (CC BY 2.0)

Seit den 1990er wird in Berlin über den Straßennamen »Mohrenstraße« im Bezirk Mitte gestritten. Viel Beifall gab es, als die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) Anfang Juli die Initiative ergriffen und mitteilten, den gleichnamigen U-Bahnhof in »Glinkastraße« umbenennen zu wollen, nach dem russischen Komponisten Michail Iwanowitsch Glinka, der während eines Studienaufenthalts in Berlin am 15. Februar 1857 gestorben war. Doch auch an der Wahl des neuen Namens gab es bald Kritik. In einem Artikel in der »Jüdischen Allgemeinen« wurden Glinka Antisemitismus und Nationalismus vorgeworfen. Darauf entspann sich eine Diskussion, die in ihrem Spektrum aus Aufgeregtheit, Uninformiertheit und Belustigung bisweilen sehr berlinerisch anmutete. Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Pop, die die Umbenennung zuerst als »klares Zeichen gegen Diskriminierung« bezeichnet hatte, sprach sich dann aber gegen »Schnellschüsse« bei der Neubenennung aus. Auch die Klassik-Experten der BILD schalteten sich ein. Der Tagesspiegel befragte die Ur-Ur-Enkelin Glinkas. Die BVG ist inzwischen zurückgerudert. Man habe sich für den Namen Glinkastraße entschieden, weil sich diese Straße eben in der unmittelbaren Umgebung der U-Bahn-Station befinde. Auf Wikipedia, wo man zum Komponisten recherchiert habe, habe »bis vor Kurzem noch nicht gestanden, dass er Antisemit gewesen sein soll«. Im Übrigen sei die Entscheidung noch nicht final. »Wir haben uns bislang lediglich gegen den Namen Mohrenstraße entschieden.« Die Diskussion, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt ist, Glinka als Antisemiten und Nationalisten zu bezeichnen, blieb unterwegs auf der Strecke. Der russische Komponist Vladimir Tarnopolsky hat für uns nicht bei Wikipedia, sondern in den Quellen nach Antworten gesucht. Und liefert den nötigen Kontext und einen vehementen Widerspruch.

Mit großer Überraschung las ich in einer Reihe deutscher Zeitungen zur Umbenennung einer Berliner U-Bahn-Station, dass Michail Glinka, ein Pionier der ernsten russischen Musik, der zeitweise in Berlin lebte, ein »russischer Nationalist und Antisemit« gewesen sei. Die in diesen Artikeln vorgebrachten Argumente sind für mich nicht nachvollziehbar.

Glinka kam nach Berlin, um beim Musiktheoretiker Siegfried Dehn zu studieren. »Es besteht kein Zweifel«, schreibt Glinka in seinen Notizen, »dass ich Dehn mehr verdanke als all den anderen meiner maestros; er… ordnete nicht nur mein gesamtes Wissen ein, sondern auch die Ideen über die Kunst im Allgemeinen, und nach seinen Vorträgen begann ich nicht tastend, sondern bewusst zu arbeiten.« Dehn, der als musikalischer Aufklärer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur mit Mendelssohn gleichgesetzt werden könnte, stammte aus einer traditionellen jüdischen Familie.

Foto Aleksandr Zykov (CC BY-SA 2.0)
Foto Aleksandr Zykov (CC BY-SA 2.0)

In dem vielen, was ich von Glinkas ziemlich umfangreichem Nachlass gelesen habe, kaum Hinweise auf Antisemitismus oder Rassismus. Hier zum Beispiel die Schilderung einer seiner Reisen: »Wir sind… von Dresden nach Frankfurt gefahren. Ein Student war mit uns unterwegs, anscheinend israelischer Herkunft, der Bass sang. Jedes Mal, wenn wir zum Mittagessen oder zur Übernachtung pausierten und ein Klavier dabei hatten, versuchten wir, zusammen zu singen… Bei den Trio- und Chorstücken aus dem Freischütz waren wir besonders gut, und die Deutschen in kleinen Städten kamen, um uns zuzuhören.«

Glinka war in der Tat ein leidenschaftlicher, fast kindlich neugieriger Reisender. Fast die Hälfte seines Erwachsenenlebens verbrachte er auf Fahrt durch Europa. Dieser Mann schrieb gleichermaßen wohlwollend über die Menschen in Spanien und der Ukraine, in Italien und Deutschland, Frankreich und Polen. Er lernte gerne Sprachen (nicht nur europäische, sondern etwa auch Persisch), machte sich mit den verschiedenen kulturellen Eigenheiten vertraut und vor allem natürlich mit der Musik anderer Länder. Darauf aufbauend komponierte er spanische Ouvertüren wie Jota Aragonesa und Die Nacht in Madrid, mehrere Variationszyklen zu den Themen der Italiener Bellini und Donizetti, das Lied von Margarita zu Goethes Faust, schottische Variationen, das finnische Lied aus der Oper Ruslan und Ljudmila, brillant geschriebene polnische Tänze – Krakowiak, Polonaise und Mazurka aus der Oper Iwan Sussanin (oder Ein Leben für den Zaren), zahlreiche Polka-Varianten und Stilimitationen Musik aus kaukasischen und asiatischen Gegenden.

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Während seines Aufenthalts in Berlin traf Glinka prominente Musiker:innen jüdischer Herkunft wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer. Letzterer schätzte Glinkas Musik besonders. 1857 spielte Meyerbeer Werke Glinkas bei einem umjubelten Konzert im Königlichen Schloss, unter anderem war ein Fragment der Oper Iwan Sussanin zu hören. Dazu schrieb Glinka: »Am 21. Januar wurde im Königlichen Schloss das bekannte Trio aus Ein Leben für den Zaren aufgeführt… Das Orchester wurde von Meyerbeer geleitet, und wir müssen zugeben, dass er in jeder Hinsicht ein ausgezeichneter Kapellmeister ist!« Dieses Konzert war das letzte im Leben des russischen Komponisten, einige Wochen später starb er. Bei seiner Beerdigung in Berlin eskortierte der gläubige Jude Meyerbeer den Sarg des russisch-orthodoxen Glinka.

Bei seinem ersten Berlinaufenthalt hatte Glinka sich in seine Gesangsschülerin Maria verliebt. In seinen Notizen schreibt er dazu: »Sie war ungefähr 17 oder 18 Jahre alt. Sie war etwas israelischen Ursprungs, groß, aber noch nicht geformt. Mit schönem Gesicht und sah wie eine Madonna aus… Ich fing an, ihr das Singen beizubringen, und komponierte Skizzen für sie… Ich sah Maria fast täglich und fühlte unmerklich eine Neigung zu ihr, die sie zu teilen schien.« Als Glinka nach Russland zurückkehrte, konnte er seine Geliebte nicht vergessen, er führte eine regelmäßige Korrespondenz und wollte unbedingt nach Berlin zurück, um sie zu heiraten. »Als ich nach Nowospasskoje [Glinkas Geburtsort] zurückkehrte, beantragte ich einen Reisepass und erhielt ihn im August. Meine Absicht war es, direkt nach Berlin zu fahren, um Maria zu sehen, an die und deren Familie ich ständig Briefe geschrieben habe.« Glinkas Leben verlief jedoch anders, seine Berlin-Reise kam nicht zustande und er heiratete später eine entfernte Verwandte.

Eine der Skizzen, die Glinka speziell für seine jüdische »Madonna« Maria schrieb, arbeitete er später in das berühmte Jüdische Lied um, das dann wiederum in Nestor Kukolniks Drama Fürst Cholmski, das Glinka vertonte und das heute von einigen deutschen Medien als antisemitisch bezeichnet wird, Eingang fand. Es lohnt sich kaum, die Handlung dieses umfangreichen, verworrenen und äußerst erfolglosen Werks (das mitnichten eine Oper ist, wie es die »Berliner Zeitung« schrieb) zu analysieren, die sich im 14. Jahrhundert in Pskow zwischen Russ:innen und dem Livländischen Orden entspinnt. Kukolnik bewies zwar äußerstes Geschick, wenn es darum ging, bereits geschriebener Musik von Glinka Texte hinzuzufügen, war als Dramatiker aber grauenvoll. Das Stück wurde von der russischen Presse zerrissen, unter anderem von Nikolai Gogol. Die Motive der Liebe und der Eifersucht, des militärischen Heldentums und des Verrats, der Intrigen und sogar der Hexerei, die in damaligen Theaterstücke gang und gäbe waren, werden hier auch durch das Prisma eines Konflikts des westlichen Christentums (dargestellt durch den Livländischen Orden), des Judentums (dargestellt durch Rachel und ihren Vater, einen Astrologen) und der monarchistischen Orthodoxie (Fürst Cholmski selbst) dargestellt. In all diesem Wirrwarr erscheint das jüdische Mädchen Rachel als einziger eindeutig positiver Charakter. Sie kann ihre unerwiderte Liebe zu Cholmski nicht ertragen und ertränkt sich. Der Protagonist selbst ist überhaupt nicht »vorbildlich«: Er verliebt sich in eine ihm zugesandte livländische Schönheit und spielt mit dem Gedanken, den russischen Zaren zu verraten.

Am 17.3.1952 enthüllte der Ost-Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert das halbplastische Portraitrelief am damaligen Hause des Zentralvorstands der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Glinkastraße 9-11. • Foto Aleksandr Zykov (CC BY-SA 2.0)
Am 17.3.1952 enthüllte der Ost-Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert das halbplastische Portraitrelief am damaligen Hause des Zentralvorstands der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Glinkastraße 9-11. • Foto Aleksandr Zykov (CC BY-SA 2.0)

Ich bin mir nicht sicher, ob die, die nun Vorwürfe gegen Glinka erheben, den Text des Stücks oder zumindest den Text des erwähnten Jüdischen Liedes sorgfältig gelesen haben. Die für Maria geschriebene Skizze basiert auf einem Gedicht Lord George Byrons aus dessen Reihe Hebräische Melodien (Hebrew Melodies) in einer freien Übersetzung von Kukolnik.

Kritiker der »Berliner Zeitung« verstehen Fürst Cholmski als eine Geschichte über eine jüdische Verschwörung, die die russische Regierung durchdringen und zerstören soll. Aber aus dem Text des Schlüsselgesangstücks geht etwas völlig Gegenteiliges hervor: Ein jüdisches Mädchen träumt davon, in ihre historische Heimat zurückzukehren, nach Palästina. Dieser Text ist im Wesentlichen eine poetische Darstellung der Idee der Rückkehr jüdischer Menschen in den Nahen Osten, die 55 Jahre später von Theodor Herzl proklamiert werden sollte. Hier sind nur einige der letzten Textzeilen – in freier Übersetzung:

Staub der Väter

wartet auf die Jahrhundertwende.

Nach den Nachtschatten

kommt der Tag der

Rückkehr.

Und das Silber,

Und das Gut

bringen wir aus der Fremde

nach Palästina heim.

Insgesamt unterscheidet sich der »nationale Konflikt« in Kukolniks Stück kaum von dem »nationalen Konflikt« der Ägypterin Amneris und der Äthiopierin Aida bei Verdi.

Bei der Musik zu Fürst Cholmski handelt es sich in keinem Fall, wie die Bild-Zeitung behauptete, um Glinkas berühmtestes Werk. Nach nur drei Aufführungen wurde das Stück abgesetzt und nie wieder aufgeführt. Damit blieb auch Glinkas Musik lange vergessen. Heute ist sie praktisch unbekannt, sie wird nicht einmal in den Sonderkursen der Konservatorien für die russische Musik des 19. Jahrhunderts unterrichtet und erklingt kaum in Konzerten, obwohl Tschaikowsky sie als »symphonisches Wunder« bezeichnete. Schön, dass sie wenigstens dem Bild-Korrespondenten bekannt ist! (Wenn Sie mehr über dieses Stück und Glinkas Musik dazu erfahren möchten – und zudem russisch verstehen, empfehle ich einen Vortrag des wunderbaren St. Petersburger Musikwissenschaftlers Josef Raiski – »Fürst Cholmski ist ein symphonisches Wunder«.)

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Bei meiner Lektüre der Tagebücher und Briefe Glinkas, kann ich die in den Medien zitierte beleidigende Bemerkung des Komponisten gegenüber Anton Rubinstein als »frecher Zhid« nicht finden. Hier wäre eine genauere philologische Angabe wünschenswert. Zwar ist die Benutzung des das Wortes »Zhid« im modernen Russisch eindeutig antisemitisch, es hatte aber zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert völlig andere Konnotationen – wie ein Artikel des russischen Nationalkorpus besagt. Demzufolge »existierten die Wörter Zhid und Jude und ihre Ableitungen in der literarischen Sprache im 18. und 19. Jahrhundert parallel, wobei die Form ›Zhid‹ bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die bevorzugte war; in den 1870er Jahren wurde dann ›Jude‹ zur Hauptform.« Glinka starb 1857. Im Polnischen lässt sich das Wort »Jude« immer noch als »Żyd« übersetzen. Glinka verwendete das Wort »Zhid«, wie auch der berühmte Schriftsteller Alexander Puschkin, wahrscheinlich ohne jede Abfälligkeit. So schreibt Glinka in seinen Notizen: »Mit Dolores Garcia, meiner Sängerin, sind wir [von Granada nach Madrid] mit einer Galeere gefahren. Einem Fahrzeug… wie ein großer Zhidenwagen mit einem Baldachin, ich erinnere mich nicht, ob aus Leder oder Leinwand. Es ist voller Gepäck, mit den Matratzen der Passagiere darauf…«

Judith Kessler von der »Jüdischen Allgemeinen« wirft Glinka auch andere Beleidigungen gegenüber Anton Rubinstein, dem Gründer der Russischen Musikgesellschaft und des ersten russischen Konservatoriums in St. Petersburg, vor – Stichworte »Zhid-Musikverein« und »Piano-Synagoge«. Rubinstein stieß bei der Gründung neuer Kulturinstitutionen in Russland auf erheblichen Widerstand. Die meisten Schwierigkeiten wurden ihm tatsächlich aufgrund seiner Herkunft bereitet (er war ein getaufter Jude), und die angeführten antisemitischen Äußerungen wurden so getätigt – allerdings nicht von Glinka, denn der starb zwei Jahre vor der Gründung der Gesellschaft und vier Jahre vor der Gründung des Konservatoriums.

Eine weitere Kritik an Glinka: Er sei Nationalist gewesen. Glinka lebte in einer Zeit der europaweiten Suche nach nationaler Selbstidentifikation. Diese war für fast alle herausragenden europäischen Komponisten dieser Epoche, egal welcher Nationalität, charakteristisch: für Weber, Chopin, Smetana, Grieg. Sind sie alle Nationalisten?

Ebenso ist die heroisch-patriotische Handlung der ersten russischen Oper Iwan Sussanin nicht nationalistischer als die der meisten Opern Verdis. Übrigens war der Librettist dieser Oper der deutsche Baron Karl Georg Wilhelm Rosen. Obwohl die Dramaturgie der Oper bemerkenswert ist (der Autor war ein brillanter Experte für Literaturgeschichte), bietet der ungelenke Einsatz der russischen Sprache seit langem Anlass für vielerlei Witze.

Wenn wir auf Teufel komm raus Leichen in den Kellern historischer Persönlichkeiten finden wollen, ohne den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen – bitteschön.  Doch dann müssten wir nicht nur alle Richard-Wagner-Straßen umbenennen, sondern auch die, die nach Kant und Hegel, Fichte und Brentano, Hauff und den Gebrüdern Grimm benannt sind.

Aber es scheint mir richtiger, unsere Welt und die gesamte Geschichte in all ihren dramatischen Widersprüchen und Entwicklungen wahrzunehmen. So scheint Glinkas Jüdisches Lied den Grundstein für eine gewisse Tradition des Komponierens in Russland zu legen, die sich über das wunderbare Jüdische Lied von Modest Mussorgski – bei dem der Fall wirklich kompliziert wird, weil er sich einerseits deutlich antisemitisch äußerte und sich andererseits für jüdische Kultur begeisterte – und das gleichnamige Lied von Rimski-Korsakow bis hin zu Schostakowitschs Vokalzyklus Aus jüdischer Volkspoesie zieht.

Taugt Glinka als Namenspate für eine U-Bahn-Station? Oder war er Antisemit und Nationalist? Ein Gastkommentar von Vladimir Tarnopolsky in @vanmusik.

Die Suche nach nationaler Identität – eine in der frühen Phase der Nationalstaatsbildung fortschrittliche Bewegung – wurde im Laufe der Zeit immer reaktionärer. So beschreibt noch Carl Maria von Weber in seinem unvollendeten Roman »Künstlerleben« mit leichtem Sinn für Humor nicht nur die Klischees der italienischen Oper seria und der zeitgenössischen französischen Oper, deren Fesseln er loswerden wollte, sondern ironisiert auch witzig seine eigene Suche nach dem »Nationalen«. Schon einige Jahrzehnte später, bei Wagner, wurde die Suche nach dem »Nationalen« zum Wüten gegen alles, was nicht in das ideologische Konzept des Musikers passte. Wie sich diese Suche nach dem »Nationalen« in der folgenden Periode der deutschen Geschichte entwickelte, ist ja bekannt.

Glinka aber war nicht nur kein Nationalist, er kann vielmehr als eine Art musikalisches Symbol des russischen Europäismus gelten. Der Komponist hat der russischen Musik ihre ernste Form gegeben und dabei vieles von einem Europa integriert, das er gut kannte und liebte. ¶