Ich treffe Michael Succow an einem Sonntagnachmittag in seinem Haus in Wackerow, ein paar Kilometer nordwestlich von Greifswald. Es wird schon dunkel, die Hausnummern in der Einfamilienhaussiedlung sind nicht mehr leicht zu erkennen. Aber ein Vorgarten bringt mich auf die Spur: Mit Laub gemulchte Gemüsebeete statt Rasenkante und Zäune. Ulla Succow öffnet mir die Tür und bietet Pantoffeln aus der Mongolei an. Die beiden haben sich Anfang der 1960er Jahre während des Studiums in Greifswald kennengelernt. Michael Succow, Jahrgang 1941, ist in seinem Arbeitszimmer gerade dabei, die Termine der kommenden Woche zu sortieren. Ein Vortrag in Heidelberg, eine Veranstaltung des World Heritage Watch, die Verabschiedung des NABU-Präsidenten, eine Festveranstaltung in Wörlitz anlässlich 40 Jahre Biosphärenreservate in Deutschland, eine Klimakonferenz in Berlin … Gefragt ist Succow schon lange und immer noch, als international renommierter Moor-Experte, als Berater von Naturschutzprojekten, als Preisträger des Right Livelihood Award, mit dessen Preisgeld er 1999 seine Stiftung gründete, als Ikone der deutschen Umweltbewegung, der nach der Wende als stellvertretender DDR-Umweltminister das kurze Möglichkeitsfenster zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung für einen spektakulären Coup nutzte: das »DDR-Nationalparkprogramm«, verabschiedet im letzten Beschluss auf der letzten Sitzung des letzten DDR-Ministerrats am 12. September 1990. Darin wurden 4.882 Quadratkilometer unter Naturschutz gestellt – rund 4,5 Prozent des Staatsgebietes, fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate, drei Naturparks.Wir setzen uns bei Tee und Christstollen ins Wohnzimmer und reden zunächst über das Moor – ein Ort, der Succow seit der Kindheit nicht loslässt und dem beim Kampf gegen den Klimawandel entscheidende Bedeutung zukommt.

VAN: Herr Succow, wie sind Sie zum Moor gekommen?

Michael Succow: Meine Eltern hatten einen Bauernhof. Da gab es in einer Senke ein Moor – wie ich heute weiß ein Kesselmoor – mitten in unserem Acker. Das war in dieser großen Agrarlandschaft ein faszinierender Ort voll eigenwilligen Lebens, mit Torfmoosen, kleinen Kriechweiden, unbekannten Pflanzen, die es auf dem Acker nicht gab. Mit meiner älteren Schwester habe ich Bohlen und Weiden darübergelegt, um es zu überqueren. Diese völlige Andersartigkeit reizte, der schwingende Boden, das Einsinken. Dann habe ich dort besondere Vögel gefunden, eine brütende Rohrweihe, Sumpfhühner … Dazu kam, dass meine Mutter mir vom Moor als mystischem Ort erzählt hatte, von Moorleichen und den ganzen Geschichten. Beim Erkunden der Landschaft habe ich dann immer weitere Moore entdeckt, Quellmoore, ein kleines Bachtal mit einem Überflutungsmoor. Das war meine Kindheitslandschaft, die heute nicht mehr existiert. Erst kam die Zwangskollektivierung, dann die ungeheure Devastierung durch die Großagrarier mit ihrem Dauermais. Heute sind die Äcker meiner Kindheit ruiniert, die Teiche alle mit Sediment gefüllt, Biodiversität gibt’s nicht mehr.

War diese Kindheitserfahrung ausschlaggebend für Ihre spätere Beschäftigung mit Mooren?

Am Anfang stand als Kind sicher eine durch die Mutter geprägte tiefe Naturliebe und Naturerfahrung. Davon ausgehend wollte ich dann wissen: Was sind das für Arten, Vögel und Pflanzen, wie funktioniert das Ökosystem? Ich wollte erst Vogelkundler werden, dann entstand der große Wunsch, Biologie zu studieren.

Michael Succow wuchs auf einem Bauernhof in Brandenburg auf. Hier 1957 beim Hüten der Schafherde seiner Eltern.
Michael Succow wuchs auf einem Bauernhof in Brandenburg auf. Hier 1957 beim Hüten der Schafherde seiner Eltern.

War der Weg zum Studium für Sie als Sohn von Großbauern nicht versperrt?

Ja, das war eigentlich ausgeschlossen, weil wir als ›Überbleibsel des Kapitalismus‹ zur ›Ausbeuterklasse‹ gehörten. Außerdem weigerte ich mich, nach der Oberschule drei Jahre zur Armee zu gehen. Ich hatte mich damit abgefunden und dachte daran, Schäfer zu werden. Nachdem wir dann 1960 zwangskollektiviert wurden, und ich von der ›Klasse der Ausbeuter‹ in die ›progressive Klasse der werktätigen Genossenschaftsbauern‹ gewechselt war, bekam ich – völlig unerwartet – meinen Wunschstudienplatz in Biologie an der Universität Greifswald. Nach wenigen Wochen kam dann allerdings die Vorladung bei der Stasi. Ich sollte dabei helfen, den ›Klassenstandpunkt der Kommilitonen zu festigen‹. Ich habe geantwortet, das käme nicht in Frage, dann würde ich lieber wieder Schäfer. Sie wurden wild und böse, aber Konsequenzen gab es keine. Als ich nach der Wende meine Stasiakten einsah, war die erste Eintragung: ›Der Student Succow ist unbrauchbar für diese Aufgabe, weil er blauäugig ist, unzuverlässig und geschwätzig.‹ Der Kelch ist an mir vorübergegangen und sie haben einen anderen gefunden.

Als Sie sich dann 1968 weigerten, die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion zu begrüßen, ging es weniger glimpflich aus für Sie.

Wir sollten unterschreiben, dass mit dem Einmarsch der Sozialismus gerettet worden sei und der Kapitalismus eine entscheidende Niederlage erlitten habe. Wir waren eine Handvoll Leute, vor allem Naturwissenschaftler, die die Unterschrift verweigert haben. Es gab dann eine Inquisition, die Kaderleitung teilte mir mit, dass an einer sozialistischen Hochschule kein Platz für mich sei. Wir mussten dann mit zwei kleinen Kindern in einer kalten, feuchten Hinterhofwohnung wohnen, mit Außenklo, das im Winter einfror. Ich bekam Lungentuberkulose und durfte nicht mehr in der Geobotanik forschen. Später kam ich dann in das VE Meliorationskombinat Bad Freienwalde. Statt das zu machen, was ich eigentlich wollte – Natur schützen, Leben erhalten –, musste ich nun Landschaft homogenisieren, intensivieren, eigentlich zerstören. Ich schrieb damals gerade meine Dissertation über das Recknitztal und habe dabei ein Flusstalmoor in der bäuerlichen extensiven Kulturlandschaft erlebt, ohne Dünger, ohne Gifte, ohne schweren Maschinen. Ich wusste, dass das nach mir keiner mehr so sehen würde. Denn dann kam die Melioration, neue Kanäle wurden gegraben, die Moore mussten ausbluten, wegen des Programms ›Milchader Berlin‹ – intensive Rinder- und Milchproduktion, eine ungeheure Intensivierungswelle. Das waren vier harte Jahre, aber ich konnte einige Moorstandorte, die melioriert werden sollten, retten.

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Warum sind Moore klimarelevant?

Die Effizienz der CO2-Speicherung ist bei den Mooren am allerhöchsten. Moore nehmen nur 3 Prozent der Landfläche der Welt ein, enthalten aber in ihren Torfen – mit 500 Gigatonnen – zweimal mehr Kohlenstoff als die gesamte Biomasse aller Wälder der Erde. Deshalb sind sie ganz entscheidend. Indem wir die hocheffizienten Moore entwässert, Gräben gezogen und kultiviert haben, gelangt Sauerstoff in den Moorboden. Dadurch beginnt ganz schnell der Prozess der Mineralisierung, was dann CO2 freisetzt. Die Kulturlandschaft hat eine halbe Million Jahre gebraucht, um den Kohlenstoff zu binden, den ein trockenes Moor jetzt in einem Jahr als CO2 freigibt.

Wie kann ein entwässertes Moor wieder nass werden?

Es gibt immer Möglichkeiten des Heilens, wenn das entwässerte Moor noch einen Torfrestkörper hat, aber es sind neue Bedingungen. Wenn ich dem entwässerten Moor Wasser gebe, wandert es nicht mehr durch den Boden, weil der zu fest geworden ist. Das Wasserdurchsickern, von Wasser getränkt sein wie in einem wachsenden Moor mit lockerem Torf, wo ich einsinke, das ist alles verspielt. Es sind jetzt Moore, die nicht mehr durchströmt werden, sondern die nur noch überfluten können. Aber in den Überflutungsmooren, die wir heute schaffen, wachsen Pflanzen und Bäume wie die Erle, das große Schilf, die Großseggen, die mit ihren Wurzeln, Blättern und Stümpfen wieder Torf bilden. Das geht erstaunlich schnell. Das führt dann auf einmal wieder zu einem System, das dann über diesem geschundenen mineralisierten Moor wieder Torfdecken ausbildet.

Das Mannhagener Moor südwestlich von Miltzow in Mecklenburg-Vorpommern.
Das Mannhagener Moor südwestlich von Miltzow in Mecklenburg-Vorpommern.

Wie fühlt sich ein gesundes Moor an?

Ein gesundes Moor ist ein Standort von höchster Reinheit. Moore sind Nieren der Landschaft, weil sie filtern und festhalten. Das Wasser, das aus diesem System herauskommt, ist bräunlich, weil Huminstoffe darin sind. Aber von den Nährstoffen ist alles aufgebraucht. Es sind große Filter, Festlegesysteme, Speicher, aber auch Verdunstungsräume, die kühlen. Also Ökosysteme voller Biodiversität, die ganz viele ökologische Leistungen bringen, die wir heute dringender denn je brauchen.

Wie groß ist das politische Bewusstsein für die Bedeutung des Moores im Kampf gegen den Klimawandel?

Mittlerweile sind die Moore in allen großen Weltklimakonferenzen als effizientester Klimasenker ein Thema. Hier in Mecklenburg-Vorpommern, wo wir relativ wenig Verkehr und Industrie haben, emittiert der überwiegende Teil an CO2 aus den sich mineralisierenden, degradierten und vertrockneten Mooren. Der Klimawandel läuft. Nach allem, was wir wissen, haben wir nur noch ganz wenig Zeit. Jede weitere Erwärmung zerstört riesige Ökosysteme dieser Erde irreversibel. Um die im Pariser Klimaabkommen festgelegten Ziele bis 2030 zu erreichen, dürfen die Moore, die wachsen, nicht angetastet werden, und die, die entwässert sind, müssen wieder wasserdurchtränkt sein. Nass lassen sich diese Flächen auch nutzen, das nennt man Paludikultur von lateinisch Palus (Sumpf) und cultura (Bewirtschaftung).

Michael Succow im Bollwinfliess • Foto © Michael Succow Stiftung
Michael Succow im Bollwinfliess • Foto © Michael Succow Stiftung

Wie argumentieren Sie gegenüber den agrarwirtschaftlichen Interessen- und Lobbygruppen, die sagen: ›Ist ja alles schön und gut, aber wie sollen wir von überfluteten Flächen leben?‹

Ein ganz wichtiges Argument gegenüber den Agrariern ist: Ich kann, muss und darf diese Landschaften nutzen. Ich kann in den Überflutungsmooren die Biomasse abschöpfen, ich kann sie mähen, aus Schilf oder Rohrkolben Dämm-, Baustoffe oder Papier machen, aus den Seggen Mulch herstellen, also Kompost, und das auf die Äcker bringen, kann dort Wasserbüffel halten. Wir brauchen eine klimaneutrale Landwirtschaft, denn der Boden muss wieder, wie die Natur es vorgesehen hat, CO2-Senke sein, das Moor wieder wachsen. Äcker brauchen Humus. In meinem Garten ist alles mit Laub bedeckt, denn ich füttere damit die Regenwürmer. Nach 15 Jahren ist aus dem Gülleacker hier, wo kein Regenwurm lebte, ein ganz fruchtbares, stabiles Ökosystem entstanden. Hier ist der Boden immer – wie die Natur es vorgesehen hat – bedeckt, und hier wachsen die besten Früchte, die nicht faulen.

Das ist ziemlich weit entfernt vom Status Quo in der Landwirtschaft, wo, gemessen an Fläche und Umsatz, ökologischer Landbau immer noch eine sehr kleine Nische ist.

Das ist so irrwitzig, deshalb bin ich so verzweifelt. Wir brauchen jetzt eine Agrarwende, die nur noch einen Ackerbau zulässt, der Humusmehrung betreibt. Das ist möglich, indem ich so arbeite wie die Ökolandwirte, mit Zwischenfrucht, mit Fruchtwechsel, mit Lupinen. Sie mehren den Humus. Sie haben einen Drittel weniger Ertrag, aber unter ihren Äckern entsteht trinkfähiges Wasser. Ich konnte früher als Kind aus den Bächen trinken. Die Landschaft war sauber, Gifte gab es nicht, Mineraldünger auch nicht. Diese gesunde Landschaft, die gesunde Nahrung liefert, und damit gesunde Menschen, ist möglich. Wir müssen nicht das billigste Schweinefleisch der Welt produzieren und nach China exportieren, ein eigentlich zukunftsloses System mit ungeheurer Übernutzung der Natur, gesteuert von ganz kleinen Lobbygruppen. Das ist für mich das Problem.

Für diese Agrarwende braucht es Anreize, die die derzeitige Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU nicht setzt, im Gegenteil: Im Fall der Moore sind Paludikulturen zum Beispiel nicht förderfähig, während für entwässerungsbasierte, klimaschädliche Moornutzung Gelder bereitgestellt werden.

Zu einem Politikwechsel hin zu einer klimaneutralen Landwirtschaft sind die konservativen Parteien nicht in der Lage. Ein konservativer Mensch will seinen Reichtum festhalten, oder noch reicher werden. Ökologisches Denken bedeutet, sich den Gesetzen der Natur unterzuordnen. Das sind Dinge, die kann ein Konservativer nicht. Er will die Natur überlisten. Er will schlauer sein. Ich traue dem Kapitalismus mit seinen Prinzipien diese notwendigen Reformveränderungen nicht zu. Es geht nur über Bürgerbewegungen und eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Ein Begriff, den wir in der Wendezeit hatten, das ›ökologisch‹ wurde dann aber schnell rausgeworfen.

Wenn man mit Ihrem Blick durch die Welt geht, den Mangel und die Zerstörung sieht, auch akustisch wahrnehmen kann, wie Vielfalt abnimmt …

… der stille Frühling, ja.

Wie vermeiden Sie, dabei depressiv und zynisch zu werden?

Bis vor einem Jahr war ich wirklich resigniert und habe mich machtlos gefühlt. Dann kamen Fridays for Future, diese jungen, klugen, nicht von der Gier erfassten Leute. Die geben mir Hoffnung. Ich fühle mich jetzt wie befreit, es ist wie 1989, keine Partei, kein Forschungsinstitut hat so eine Bewegung vorausgesehen.

Die aber gleichzeitig auch wieder diskreditiert wird …

Ja, das ist klar. Früher hieß es, sei wachsam, der Klassenfeind schläft nicht. So ist es jetzt auch, denn sie passen nicht ins System. Gleichzeitig sehe ich aber überall in der Welt viele ganz einfache Bewegungen, in der Mongolei, in Äthiopien, vor allem initiiert durch Frauen. Was ich immer wieder sehe: Es braucht Spiritualität, eine Naturverehrung, Naturachtung. Ich treffe auch immer mehr Bauern, deren Böden mit Dauermais und Glyphosat ruiniert sind und die jetzt, nach zwei Dürrejahren, merken, dass es mit dieser Form der Landwirtschaft nicht weitergeht. Ich sage dann oft: Ihr dachtet, Ihr seid die Sieger, aber eigentlich seid Ihr die Opfer. Ihr seid missbraucht worden, Ihr habt Euch verschuldet, und jetzt, wenn Ihr pleite seid, kaufen Euch die Banken auf. Das ist eine Situation, in einer Härte, wie es sie noch nicht gab. Aber das Projekt Natur geht weiter, mit unbekanntem Ausgang. Die Saurier sind auch ausgestorben. Ich denke, wenn unsere Zivilisation sich selbst zerstört, wird neues Leben wieder ausgehen von den Pilzen, Myxomyceten, also Zwischenwesen, die pflanzliche und tierische Merkmale haben.

Die Apokalypse ist erst dann erfahrbar, wenn es zu spät ist. Vielleicht ist das Szenario zu abstrakt für den erfahrungsbasierten menschlichen Geist?

Das ist richtig, ohne Katastrophen geht’s nicht, das ist schlimm, erst dann wird die Reißleine gezogen. Andererseits habe ich gelernt: Es kommt auf Menschen an wie Greta Thunberg, die aus dem nichts heraus Menschen bewegt. Da reichen schon fünf, zehn Prozent aus, um eine Bewegung zu initiieren. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen. Aber ich sehe, dass immer mehr Menschen aussteigen, Dinge in Frage stellen und sagen: Ich will nicht länger Teil eines verantwortungslosen Systems sein. ¶


Michael Succow begleitet mich zum Abschied vor die Tür. Mittlerweile ist es dunkel geworden und die laubbedeckten Beete liegen dort wie Gräber. Leben und Tod, der Kreislauf, die Regenwürmer, der Humus. »Der Garten ist mein Sanatorium«, sagt Succow zum Abschied, und als ich mich nach einiger Zeit umdrehe, sehe ich ihn immer noch vor seinem Haus stehen.

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com