Mit Michael Stegemann hat am Samstag der zweite Moderator der Sendung ›Klassik Forum‹ seinen Abschied von WDR 3 angekündigt. Wie sein Kollege Kalle Burmester vor zwei Wochen begründet auch Stegemann seinen Abschied mit der veränderten Ausrichtung des Senders. Er fühle sich wie ein Eisbär auf einer dahinschmelzenden Eisscholle, so Stegemann in seiner letzten Sendung. »Ich habe das Gefühl, dass auch mein Habitat als Autor und Moderator dahinschmilzt, oder sich zumindest so sehr verändert, dass ich nicht mehr Schritt halten kann.« Stegemann, der seit 2002 Professor für historische Musikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund ist, gehörte seit dem Start des ›Klassik Forum‹ vor 34 Jahren zum Moderationsteam der Sendung. Mit Hartmut Welscher sprach er über die Gründe für seinen Abschied und die Veränderungen bei WDR 3.

VAN: Was sind die Gründe für Ihren Abschied?

Michael Stegemann: WDR 3, und insbesondere auch das ›Klassik Forum‹, haben in den letzten sechs bis acht Monaten eine Entwicklung genommen, die mich, und auch einige andere Moderatorinnen und Moderatoren, in ihrer Vehemenz komplett überrollt hat. Ausgehend von einer Hörerbefragung, über die Sie in VAN berichtet haben, wurden Direktiven entwickelt, die von ganz oben, ich nehme mal an ausgehend von Valerie Weber als Hörfunkdirektorin, an die WDR 3-Wellenleitung, die Teamleitung Musik aktuell, die ›Klassik Forum‹-Redaktion und die Moderatoren weitergeben wurden. Die Inhalte dieser Vorgaben und die Entwicklung insgesamt halte ich für eine Katastrophe.

Es soll eine Neuausrichtung der Moderation und Musikauswahl geben. Worum geht es genau?

Der bisherige Moderationsstil sei viel zu lang, wir seien in der Voraussetzung von Vorkenntnissen viel zu anspruchsvoll, Begriffe wie Libretto oder Hammerflügel müssten wir immer erklären, weil sie keiner kenne. Viele Informationen, die zu einem musikalischen Werk gehören, wie Besetzung, Tonart, Werkverzeichnisnummer, Entstehungsdaten, und auch zu Interpretinnen und Interpreten gelten als verzichtbar. Musik wird als ›Emotion pur‹ definiert und soll als solche von uns vermittelt werden: viel mehr von sich selbst erzählen, viel mehr Anekdotisches, viel mehr leichtes Mitnehmen auf einen Rezeptionsweg des ›Easy Listening‹. Es soll alles vermieden werden, was irgendjemanden ›abschrecken‹ könnte, WDR 3 zu hören.

Basierend auf der von Ihnen erwähnten Online-Befragung wurde für die morgendliche Sendung ›Mosaik‹ neben der Moderation auch die Musikauswahl angepasst. Stücke mit Gesang sollen zum Beispiel nicht mehr gespielt werden, weil die im Geschmacksranking zu schlecht abgeschnitten haben. Gilt das auch für das ›Klassik Forum‹?

Das ›Klassik Forum‹ ist eine sogenannte Autorensendung, das heißt wir Moderatorinnen und Moderatoren sind für die Musikauswahl zuständig. Jetzt hat allerdings ein Prozess der Einflussnahme begonnen. Im Coaching wurde mir deutlich gesagt: ›Sie haben ja gesehen, dass bei der Hörerbefragung alle Arten von Gesang ganz unten angesiedelt sind, das sollten Sie ja doch mal bedenken.‹ Dann habe ich gesagt: ›Wie, keine Arie mehr?‹ ›Na ja, wenn’s denn unbedingt sein muss.‹ Ein Kollege hatte in seiner Sendung Revelge von Gustav Mahler gespielt, da hieß es: ›Das ist doch viel zu düster und dunkel, am Vormittag ein Stück, in dem es um den Tod eines Soldaten geht! Muss das sein?‹ Natürlich ist dann immer die Frage: Ist das eine Pflichtverordnung oder eine Anregung? Angeblich letzteres, aber der Druck wird immer stärker. O-Ton von unserer Teamleiterin: ›Natürlich müssen wir die neuen CDs von Jonas Kaufmann, von Anne-Sophie Mutter oder Igor Levit sofort senden.‹ Daraufhin habe ich gesagt: ›Ich muss das nicht.‹ ›Doch, dazu werden wir Sie verpflichten.‹

Warum?

Vermutlich weil das die populären Namen der klassischen Musik sind, die auch einem ›nicht-klassischen‹ Publikum etwas sagen, und die daher – mit Blick auf eben dieses Publikum – sofort im ›Klassik Forum‹ bejubelt und gehypt werden müssen. Ich habe nichts dagegen, Aufnahmen solcher Künstler:innen zu senden und mich in meiner Moderation unter Umständen auch kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, aber darum geht es ja nicht. Wir sollen die großen Prachtexemplare präsentieren, weil ›die Hörer‹ das vermeintlich erwarten.

Ich war vor ein paar Jahren mal bei der Echo Klassik-Preisverleihung in Essen. Zwei der Preisträgerinnen waren die Pianistinnen Olga Scheps und Alice Sara Ott. Die kamen auf die Bühne und wurden von Thomas Gottschalk mit ›Hier kommen Germany’s Next Topmodels‹ angekündigt. Ich war peinlich berührt und fassungslos. Das ist genau das, was ›Klassik Forum‹ und WDR 3 jetzt offenbar haben wollen. Die wollen eine Art von ›Ach, das ist aber nett, das hat er aber schön gemacht.‹

Was passiert denn, wenn Sie sich einfach nicht dran halten?

Am Tag nach einer meiner Sendungen im Dezember letzten Jahres bekam ich von der Teamleiterin eine Mail, sie müsste dringend mit mir reden. Ich wurde bei dem Gespräch regelrecht ›zusammengefaltet‹: ›Das geht nicht, das war zu lang, das war zu anspruchsvoll, wir haben doch besprochen, dass …‹ Ich habe mich gewehrt und dann wortwörtlich gesagt gekriegt: ›Hier wird nicht diskutiert, wir bezahlen Sie dafür, dass Sie das tun, was wir von Ihnen verlangen. Wenn Sie dazu nicht bereit oder in der Lage sind, müssen wir entsprechende Konsequenzen ziehen.‹ An dem Punkt habe ich gedacht: Wie weit gehe ich in meiner Kompromissbereitschaft? Dann hat es Anfang Februar ein ›Feedback- und Entwicklungsgespräch‹ mit der Teamchefin Musik, aktuell Wibke Gerking, gegeben, das auch protokolliert wurde. Dort wurde mir auf eine sehr unmissverständliche Art und Weise gesagt, dass mein Moderationsstil den neuen Vorgaben nicht genug folge, und ob nicht mein 65. Geburtstag Ende des Monats ein geeigneter Zeitpunkt wäre, das Feld Jüngeren zu überlassen. Der nächste Schritt wäre dann wohl gewesen, dass der Sender mir sagt: ›Wir möchten nicht mehr.‹ Also bin ich von selber gegangen.

Wie werden die neuen Vorgaben begründet?

Uns wurde gesagt, wir müssten die Sendung ›retten‹. Der gesamte Sender WDR 3 habe an Einschaltquote verloren. Wenn wir uns jetzt nicht anpassten, sei unsere Existenz bedroht. Wenn der Kulturrundfunk überleben wolle, müssten wir mehr Hörerinnen und Hörer bekommen. Wir müssten die ›Wechselhörer‹ krallen und festhalten und an das Programm binden. Und die dürfe man keinesfalls überfordern. Dazu fällt mir ein Bonmot meines viel zu früh verstorbenen Freundes Hans Winking ein, der jahrzehntelang Redakteur und Moderator des ›Klassik Forum‹ war: ›Jede Hörerin und jeder Hörer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat Anspruch darauf, wenigstens einmal am Tag überfordert zu werden.‹

Wird dieser ›Wechselhörer‹ irgendwie genauer definiert?

Es geht insbesondere um die Hörerinnen und Hörer von 1Live, WDR 2, WDR 4 oder Radio NRW, die angeblich ›Klassik‹ hören, aber dann abschalten, wenn es zu kompliziert wird oder die Musik zu anspruchsvoll. Als Idealtypus wurde uns auch mehrfach die ›Tchibo-Hausfrau‹ genannt, oder ›der Metzger, der abends im Konzert sitzt, aber keine Kenntnis von Musik hat‹. Mein Einwand, dass eine Sendung mit bis zu 300.000 Stammhörer:innen – was für klassische Musik in der ARD unglaublich ist – eigentlich keine Korrekturen in so radikaler Weise brauche, wurde mit dem Verweis auf die neuen Zielgruppen abgeschmettert.

Wenn man mit der Quote argumentiert, dann muss man tatsächlich sagen, dass die der Kulturradios sehr klein ist.

Natürlich grenzt das ›Klassik Forum‹ so, wie es bisher existiert hat, bestimmte Leute aus. Das sehe ich absolut. Aber was soll daran so schlimm sein? Ist es nicht richtig und notwendig, auch Minderheiten gerecht zu werden? Wobei Hunderttausende von Stammhörern eine ganz schön große ›Minderheit‹ sind, finde ich… Der Sender verscherbelt jetzt sein Tafelsilber, um sich einer imaginären Hörerschaft anzudienen, die sie meiner Meinung nach eh nicht kriegen werden. Ich glaube nicht, dass der 1Live-Hörer je ›Klassik Forum‹ hören würde, selbst wenn die Moderation keine Jahres- und Opuszahlen mehr nennt.

Über den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird bei diesen Veränderungen nicht diskutiert?

Der Begriff ›Bildungsauftrag‹ wurde in den verschieden Klausuren von uns Moderator:innen immer wieder ins Spiel gebracht und weggewischt.

Gleichzeitig kann WDR 3 Veränderung ganz gut brauchen, auch die Fragen, wen man erreichen will, wie man die Ansprache verbessern kann, schaden ja nicht. Manche Moderationen kommen schon arg steif rüber.

Pardon, aber diese Phantom-Debatte kenne ich seitdem ich Radio mache – und das sind jetzt mehr als 40 Jahre! Es hat im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte auch im ›Klassik Forum‹ immer wieder Coaching-Prozesse gegeben, auch Strukturreformen und Formatdiskussionen, bei denen aber die Moderatorinnen und Moderatoren immer gefragt wurden, wie sie das sehen, ob sie eigene Ideen oder Vorschläge haben, was sie für gut und schlecht halten. Das wurde nicht immer alles befolgt, aber es war ein Prozess auf Augenhöhe, bei dem man eine Art von Wertschätzung erfahren hat vonseiten des Senders, die für die Arbeitsatmosphäre extrem wichtig und hilfreich ist. Das ist jetzt anders. Wir werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Im erwähnten ›Feedbackgespräch‹ meinte unsere Teamleiterin, dass die neue Ausrichtung nicht diskutierbar sei, sondern eine Vorgabe, an die man sich zu halten habe. Ich hätte das alles zähneknirschend mitgemacht und mich bemüht, aufrecht zu halten, was ich für richtig halte und wofür ich mich einsetze, mich aber auch anzupassen. Aber der Umgangston und die Art und Weise des direktiven Anweisens ist eine echte Zumutung. Wie Lehrer:innen, die ihre Schüler:innen herbeizitieren und sagen, ›was hast du da wieder ausgefressen‹.

Michael Stegemann über seinen Abschied von WDR 3 und die veränderte Ausrichtung des Senders. In @vanmusik.

Glauben Sie, dass der Widerstand gegen die Programmreform, der sich jetzt bildet, etwas ändern wird?

Leider nein, das war auch einer der Gründe, warum ich aufgehört habe. Es wird nichts ändern, fürchte ich. Sie sitzen es aus. Der WDR 3-Wellenchef Matthias Kremin hat mir eindringlichst erklärt, dass alles gar nicht so dramatisch sei wie ich es empfinde und darstelle, dass es um Evolution und nicht um Revolution gehe, dass viele der bei WDR 3 in Gang gesetzten Veränderungsprozesse ausdrücklich nicht das ›Klassik Forum‹ beträfen, dass niemand die Autonomie und Souveränität der Autor:innen und Moderator:innen in Frage stelle. Auch die laufende Diskussion darüber, ob denn im ›Klassik Forum‹, dessen Alleinstellungsmerkmal unter anderem immer die Ausstrahlung großer, mehrsätziger Werke in ganzer Länge war, nicht auch Einzelsätze zulässig seien, wurde uns als ›Vorschlag‹ oder ›Möglichkeit‹ vermittelt. Steter Tropfen höhlt ebenso den Stein wie stete Coaching-›Empfehlungen‹ den Moderator. Die Erosion hat schon begonnen, und schlimmstenfalls wird der WDR dann in einigen Jahren feststellen, dass diese in ihrem unverwechselbaren Kern ausgehöhlte Sendung keiner mehr hört, und dann wird man sie einstellen, weil sie niemand mehr hört. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com