In seiner RTL-Sendung Mario deckt auf! Der Steuerverschwendung auf der Spur hat Mario Barth die Staatsoper Hannover besucht. Mit versteckter Kamera in einer Aufführung von Manon Lescaut prangt Barth an, dass hier Steuergelder verschwendet würden, vergleicht die Inszenierung der Zauberflöte mit dem Wiedergeben von Justin-Timberlake-Songs, stellt die Besucher als entrückte und alte Elite dar und gibt auch ansonsten den grinsenden Pausenclown einer stumpfen Massenkultur der Gewöhnung und des Reflexes.Tatsächlich gibt es einige Hinweise darauf, dass Barths vermeintliche Aufdeckung vorsätzlich ignorant, bisweilen höhnisch und regressiv ist. Denn tatsächlich deckt Mario Barth nichts auf, das vorher verdeckt war. In den Facebook-Timelines und Kulturmedien machten sich viele entsprechend lustig. Andere ließen tatsächlich bewusst oder unbewusst Zeichen der erkennen. Der deutsche Musikrat fuhr tatsächlich die Überschrift »Kulturbanause Mario Barth« auf. In Holger Kurtz’ biografischem Text geht es nicht um eine Bewertung von Barths Sendung, sondern davon wie es ist, zwei Seiten zu verstehen, die für das Gegenüber oft nur ein »Geht gar nicht« übrig haben.

Ich habe das große Glück, nicht in eine Akademikerfamilie hineingeboren worden zu sein. Dass dieser unverschuldete Umstand nicht etwa einen Nachteil für mich darstellt, wurde mir erst spät bewusst.

So schämte ich mich als erster der Familie für meinen Dialekt, als ich anfing, an einer Universität zu studieren. Überhaupt, studieren: »Wie willst du das denn finanzieren?« war eine Frage, die mich nach dem Abitur davon abbrachte, Universitäten außerhalb des Einzugsgebietes des sicheren, kostenfreien Hotel Mama in Betracht zu ziehen. Der Sinn eines Studiums war auch klar definiert. Es galt die Logik: »Wenn man studiert, dann um später mehr zu verdienen«. Aus der Chance wurde eine Aufgabe, weshalb ich anfänglich überlegte, eine duale Ausbildung bei REWE zu beginnen und mich dann sicherheitshalber in BWL einschrieb. Wofür die Abkürzung BWL stand, erfuhr ich auch erst, als ich mich für Studienangebote interessierte.

Dass es kurz vor Unibeginn dann doch Musikmanagement wurde, verdanke ich rückblickend meiner Klavier- und Gitarrenlehrerin, die für mich immer mehr war als eine Instrumentallehrerin. Sie zeigte mir alternative Lebensstile, Lebensziele und Vorstellungen von Reichtum. Sie machte mir Mut, etwas zu studieren, was mich interessierte, statt etwas, das mich interessieren sollte. Solche Begegnungen kommen, bei den Gründen, weshalb man ein Instrument lernen sollte, meist zu kurz.

Obwohl es meinen Eltern (wie wohl den meisten Eltern) sicher lieber gewesen wäre, wenn ich jetzt mit einem ersten Staatsexamen in Jura am Weihnachtstisch sitzen würde, stand ihr Stolz auf mich nie infrage. Auch wenn sie, wie der Rest der Familie, keinen blassen Schimmer davon hatten, was man in einem Studium »Musikmanagement« so treibt. Viel wichtiger war stets die Frage, wer man danach sein wird: »Dann wirst du jetzt sowas wie der nächste Dieter Bohlen?«. Es drängte mich in den ersten Semester, diese Frage tendenziell wutentbrannt zu erwidern. Erst mit der Zeit lernte ich, dass eine solche Aussage mich gerade deshalb so aufgebracht hat, weil ich selbst nicht wusste, was aus mir werden sollte. Ich fühlte mich ertappt wie jemand, in dessen Argumentationskette auf einmal ein großes Loch klafft. Diese Unsicherheit überspielte ich mit der gewollt ironischen Erwiderung, dass ich natürlich Taxifahrer werde, wie jeder andere Geisteswissenschaftler auch.

Auf diesen Abgrund, der mich von meinem Vorstudiumsleben trennte, reagierte ich eine Zeit lang mit der Arroganz eines Strebers, dessen Uni-Wissen weit über dem der Familie stand. In Anlehnung an den feministischen Begriff des mansplaining könnte man von sonsplaining sprechen. Man könnte aber auch einfach »Klugscheißer« sagen.

Ich wusste nach zwei Semestern »Einführung in die Betriebswirtschaftslehre« mehr über BWL als mein Vater, der sich vor Jahren als Handwerker selbstständig gemacht hatte. Natürlich wusste ich, dass die Schreibweisen »selbständig« wie auch »selbstständig« zulässig waren und sprach es an – auch wenn nie jemand danach fragte. Ich konnte nach einem halben Jahr WG-Leben besser kochen als meine Mutter, die 20 Jahre lang vier Menschen ernährt hatte.

Die entsprechende arrogante Haltung war nie wirklich ein Zeichen von echter Intelligenz, sondern immer eine Mauer, um mich selbst nicht ständig infrage stellen zu müssen. Um mich in die akademischen Kreise der Universität einzugliedern, meinte ich, verstecken zu müssen, dass wir zuhause sehr wohl RTL schauten. Dass wir alle über Atze Schröder lachten, Mario Barth lustig fanden und Ballett schwul. Genauso wenig empfand ich es als angebracht, in der Familie über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit oder die Trennung von Inhalt und Form zu sprechen. Ich dachte, ich würde auf taube Ohren stoßen. So wurde die eigene Schizophrenie immer ausgeprägter. Die Kluft war da.

Um den Spagat zu meistern, musste ich mich in den Kopf des anderen versetzen. Beide Seiten wertschätzen und nicht werten. Hier kommen wir nun dazu, weshalb ich es als Privileg betrachte, aus einer »normalen« Arbeiterfamilie zu stammen und mit dieser Kluft groß geworden zu sein:

Es fällt mir nämlich nicht schwer, beide Positionen zu verstehen. Die linke Seite der Kluft war meine eigene Position, meine eigene Sichtweise auf die Welt, und sie ist vor allem keine dumme. Es ist nur meistens eine, die nicht in drei Semestern inklusive Hausarbeit gereift ist, sondern durch andere Erfahrungen. Für Nicht-Akademiker besteht so wenig ein Anreiz, sich mit der Frage nach einer Legitimation für »Kultursubventionierung« zu beschäftigen, wie für Geisteswissenschaftler die Beschäftigung mit dem Handwerk zum täglichen Tun beiträgt.

Statt anzuerkennen, dass man sich für andere Dinge interessiert, bezeichnet man sich häufig als dumm. »Der Herr Doktor war leider zu dumm, den Nagel gerade in die Wand zu hauen, »Pegida-Demonstranten sind per se dumm.« Genau wie Nazis. Und Leute, die Mario Barth lustig finden, sind noch viel dümmer. Und wenn der Preisträger des Bayerischen Fernsehpreises in seiner RTL-Sendereihe Mario Barth deckt auf! behauptet, dass der Opernbetrieb so sei, „als würde Justin Bieber nach 90 Jahren immer noch die gleichen Songs spielen, nur in anderen Kostümen«, dann ist er skandalös dumm. Wer das genauso sieht, ist genauso dumm. Wer RTL schaut schon prinzipiell.

Ich muss dieses einfache Weltbild nun leider zerstören. Ich kenne einfach zu viele Menschen, denen der Justin-Bieber-Vergleich einleuchtet, die aber nicht dumm sind.

Als sich Carolin Kebekus in ihrem Song darüber lustig machte, wie dumm doch alle Neonazis seien und als Beweis einen Nazi zeigte, der die Deutschlandflagge falsch herum hält, so zeigte sie nur ihr eigenes voreiliges, vereinfachtes Weltbild. Auch ich habe darüber gelacht und erst später bemerkt, dass ich besser über mich selbst gelacht hätte. Wie ich in einem Vortrag von Arne Vogelgesang lernte, ist die umgedrehte Deutschlandflagge ein Code, den Neonazis untereinander verwenden. Sind wir jetzt alle dumm?

Nein, ich habe mich nur nie tiefergehend mit dieser Materie beschäftigt. Ein Beispiel: Weder Lehrer noch Schüler können für das Ergebnis einer Klausur zur Verantwortung gezogen werden. Beide sind für das Ergebnis verantwortlich. Bei einer schlechten Note versagte nicht nur der Schüler oder der Lehrer, sondern es versagte das Zusammenspiel. Vielleicht konnte der Lehrer es nicht einleuchtend erklären, vielleicht hatte der Schüler nicht genug Ehrgeiz. Das eine hängt aber vermutlich mit dem anderen zusammen.

Anstatt den Schüler als dumm zu bezeichnen, sollte der Lehrer ihm den Stoff auf anderem Wege nahebringen. Er wird ihn zum Denken anregen müssen und genau das sollte uns auch die oberflächliche Aussage von Mario Barth, der einem Millionenpublikum die staatlichen Zuschüsse für Hochkultur überspitzt als rausgeworfenes Geld für jene darstellt, die sich den Opernbesuch auch mehr kosten lassen könnten. »Das verstehst du halt nicht« ist keine gültige Reaktion. Die Beifallklatscher sollten uns dazu ermutigen, aufzustehen und von vorne anzufangen. Die Gründe für Kulturfinanzierung aufzuzeigen, aber auch die Gründe gegen Kulturfinanzierung aufzuzeigen, damit jeder ermutigt wird, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Denn es ist nicht Mario Barth der Dumme, der in seiner Sendung die Meinung des »kleinen Mannes« aufzeigt. Auch ist nicht die Kultur für ihr arrogantes Verhalten als alleiniges Problem festzunageln. Es muss hinterfragt werden, wie die Mario Barths dieser Welt auf ihre Erkenntnis kommen. Es muss auch hinterfragt werden, weshalb sich die Kultur in Arroganz flüchtet. Aber vor allem muss hinterfragt werden, wie es zur Kluft zwischen beiden Parteien kam. Ich habe sie im Kleinen zugeschüttet. Das sollten wir auch im Großen schaffen. ¶