In dieser Rubrik kommentieren wir in jeder Ausgabe eine Nachricht, die uns in der vergangenen Woche beschäftigt, betrübt oder erfreut hat.
An kaum einer Musikhochschule hat sich das Thema Machtmissbrauch in den letzten Jahren so sehr manifestiert wie an der Musikhochschule in München: Auf Prozess und Urteil gegen den ehemaligen Präsidenten Siegfried Mauser wegen sexueller Nötigung – flankiert von irritierenden Reaktionen aus der Klassikwelt, die sexualisierte Gewalt zu einvernehmlichem Sex oder einem selbstverständlichen Teil eines ausschweifenden Künstlerlebens umdeuteten – folgte ein weiteres Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Kompositionsprofessor Hans-Jürgen von Bose. Leidtragende waren natürlich in allererster Linie die von der Gewalt direkt Betroffenen, darüber hinaus nahmen aber auch das Ansehen der Hochschule und die Zusammenarbeit im Kollegium, durch das sich immer tiefere Gräben zogen, deutlichen Schaden. Schon 2018 wurde darum zur Wiederwahl des noch amtierenden Präsidenten Bernd Redmann (der zur Amtszeit Siegfried Mausers bereits als dessen Vize gedient und seit der eigenen Studienzeit nur mit einer Unterbrechung in München gelernt und gelehrt hatte) laut Berichterstattung des BR der Ruf hörbar, man brauche zur Aufarbeitung der Gewalttaten und zur Neuausrichtung der Hochschule frischen Wind, den unvoreingenommenen Blick von außen – und vielleicht besser (zum ersten Mal in ihrer gut 170-jährigen Geschichte) eine Frau an der Spitze.
Bis diese Forderungen eingelöst wurden, sollten noch weitere vier Jahre vergehen – bis zum 12. Juli 2022, an dem der Rat der Münchner Musikhochschule die Kulturmanagerin, Musikvermittlerin, Wissenschaftlerin und Publizistin Lydia Grün zur neuen Präsidentin wählte. Schon zum Studienjahr 2022/2023, also ab Oktober 2022, wird sie die Leitung der Hochschule übernehmen. Die Entscheidung kam für viele überraschend, vielleicht sogar für die designierte Präsidentin selbst – man hatte damit gerechnet, dass sich in München der Status Quo und das »Weiter so« durchsetzen. Der aktuelle Amtsinhaber Bernd Redmann hatte sich um Veränderungen bemüht, wurde aber auch vielfach kritisiert: wegen »mangelnder Loyalität« zu Mauser von der einen und unzureichender Distanzierung und intransparenter Aufarbeitung der Taten von der anderen Seite, zudem noch von manch Lehrenden, denen Redmann mit seinen Versuchen, aus den Missbrauchsfällen zu lernen und eine Reihe von Reformen umzusetzen, vor den Kopf stieß.
Lydia Grün überzeugte den Rat der Hochschule laut Münchner Abendzeitung unter anderem mit ihrem Werben für eine offene Diskurskultur, eine breite Beteiligung und Transparenz sowie ihren Kenntnissen zu energiepolitischen Fragen bei der Sanierung der Hochschulgebäude – denn die Aufarbeitung der Machtmissbrauchsfälle ist in München nicht die einzige Baustelle. Die Konzertsäle der Stadt sind marode und das Hauptgebäude der Hochschule braucht eine Generalsanierung, bei der jedoch stets das historisch schwer belastete Erbe mitgedacht werden muss: Geschaffen als sogenannter »Führerbau« und Repräsentationsgebäude der NSDAP wurde in diesen Räumen unter anderem das Münchner Abkommen unterzeichnet.
Und wie alle anderen Hochschulen auch steht man in München außerdem vor der ungelösten Frage, wie das Musikstudium der Zukunft aussehen soll: Welche Ausbildungsinhalte nützen Musiker:innen heute im Berufsleben wirklich, und hat das Probespiel als Hauptziel für (fast) alle Studierende nicht vielleicht ausgedient? Welches Personal braucht ein lebendiges und zugängliches Kulturleben und was müssen diese Fachleute lernen? Wie hält man es mit dem Kanon und welche Wege gibt es, um Lehrinhalte zu diversifizieren? In welchen Formen ergibt Digitalisierung im Musikstudium Sinn? Wie können für Studieninteressierte mehr Chancengleichheit und breite Zugänge, eine Möglichkeit zum Musikstudium unabhängig von Bildung und Einkommen des Elternhauses geschaffen und gleichzeitig die Exzellenz der Ausbildung gewahrt werden?
Als bisherige Professorin für Musikvermittlung und stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte an der Hochschule für Musik Detmold scheint Lydia Grün hier in vielen Bereichen eine besondere Expertise mit nach München zu bringen. Als Geschäftsführerin des Netzwerk Junge Ohren e.V. hat sie außerdem über Jahre hinweg ein großes Kommunikationstalent, Durchsetzungsstärke und die Fähigkeiten zur Organisation vieler parallel laufender Prozesse bewiesen. Selbst äußern zur Wahl möchte Grün sich erst nach Abschluss der anstehenden Verhandlungen mit dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und erfolgter Vertragsunterzeichnung.
In München will man jetzt scheinbar einen echten Neuanfang. Das ist ein gutes Zeichen. Interessant wird allerdings, wie die neue Präsidentin sich bei den Verhandlungen mit dem Staatsministerium und im folgenden Hochschulalltag mit ihren Ideen wird durchsetzen können. Denn auch die beste Präsidentin tritt auf der Stelle, wenn zu viele Mitglieder der Institution, die sie führt, sich nicht mit ihr bewegen wollen. ¶