Als mir ein Freund ein Youtube-Video von Helmut Lachenmanns neuestem Stück Marche fatale für Orchester schickte, schrieb ich zurück: »Heilige Scheiße, ist das ein Witz?« Der Komponist, der mit beinahe beängstigender Geschicklichkeit und Intelligenz geräuschhafte Werke schreibt, der im Alleingang wahrscheinlich mehr neue Instrumentalklänge erfunden hat als jeder andere im Laufe der Musikgeschichte, hat einen tonalen Marsch mit eingängiger Melodie und einem musikalischen Furz-Witz geschrieben. Der Intellektuelle mit dem weißen Bart, der berühmt ist für die Dekonstruktion des klassischen Repertoires durch unglaublich raffinierte Instrumentaltechniken und Spielweisen, hat etwas geschrieben, das klingt wie ein Cousin der ultimativen Cartoon-Musik, des Radetzky-Marsches von Johann Strauss.

YouTube Video

Die Online-Reaktionen auf Lachenmanns Stück lassen sich in einem Wort zusammenfassen: »What?!?« Lachenmann ist, vor allem für die in den USA lebenden Avantgarde-Komponisten, die sich gegen eine Flut von sanftem Post-Minimalismus stemmen, so etwas wie eine Ikone. Darum auch die roten T-Shirts mit Che Guevara-Lachenmann und die Helmut Hard Core Total Devotion Group auf Facebook. Es ist nicht so, dass die Fans sich hintergangen fühlten, vielmehr wollten sie wissen, was der Grund für die Marche fatale war – denn bei Lachenmann gibt es immer einen Grund. Nur, dass diesmal niemand auch nur eine Ahnung hatte, was dahinter stecken könnte.

Ich habe Lachenmann gefragt, was man ihm nach der Uraufführung der Marche fatale in Stuttgart zum Stück zurückgemeldet hat.

Ich weiß nicht, ob das so wichtig ist – und vor allem, wer ist ›man‹: meine Kinder, mein Steuerberater, mein Arzt, oder der Konzertbesucher neben mir? Natürlich erlebe ich lauter Freundlichkeiten, wie immer, mehr oder weniger ehrlich gemeint… Ich freue mich, dass das Orchester es gerne und engagiert gespielt hat. Wer sagt schon einem Komponisten, dass er enttäuscht, verwirrt  oder abgestoßen  ist. (Auf YouTube schrieb einer: ›Shocking!‹ Immerhin…)

Als ich Lachenmanns Streichquartett No. 1 Gran Torso das erste Mal hörte, irgendwann im Jahr 2008, war ich auch schockiert: Es schmerzte beinahe in meinen Ohren, durch den radikalen Erfindergeist fühlte ich mich unwichtig und wütend, weil ich vom Wandel der Dinge offensichtlich überrollt worden war wie der Bergarbeiter in einer Reportage über Trump-Wähler. Marche fatale schockiert auf dem genau entgegengesetzten Weg.

»Marche fatale – ist eine unvorsichtig gewagte Eskapade, sie dürfte den Kenner meiner Kompositionen mehr irritieren als meine früheren Werke, von denen nicht wenige sich erst nach Skandalen bei ihrer Uraufführung durchgesetzt haben«, schrieb Lachenmann ins Programmheft für Stuttgart. Die musikalische Sprache ist für Lachenmanns Œuvre völlig ungewöhnlich. Das Gefühl, komplett ohne Fixpunkt zu sein, ist es nicht.

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Die Musikgeschichte hat in Lachenmanns Schaffen immer eine große Rolle gespielt.

Während sich sein Accanto für Klarinette, Orchester und Tonband mit »Verehrung und qualvoller Liebe« auf Mozarts Klarinettenkonzert bezieht, verortet er die Marche fatale innerhalb einer Art ›Kanon des Banalen‹: Mozarts Musikalischer Spaß, Beethovens Bagatellen Op. 119, Kagels 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen, Ligetis Hungarian Rock und Stravinskys Zirkuspolka, die einen Schubert-Marsch zitiert. Aber Lachenmann ist von der Geschichte besessen – es käme ihm nie in den Sinn, ein schlechtes Stück zu schreiben, selbst, wenn es sich um eine bittere Satire wie die Marche fatale handelt. Als ich ihn fragte, ob er, was die tonale Musik betrifft, etwas aus der Übung geraten sei, antwortete er:

Sie kennen nicht meine Sakura-Variationen in C-moll, nicht meine  Variationen über einen Schubert-Ländler in Cis-moll. Ein Komponist, der nicht auf dem Hintergrund der von ihm studierten historischen Kompositions-, Tonsatz- und Instrumentationspraktiken wohin auch immer seinen eigenen Weg sucht, ist ein Dilettant, sollte das Komponieren lieber lassen.

Die Marche fatale hat also sehr viel mehr Lachenmann-Typisches, als es beim ersten Hinhören scheint. In den Schubert-Variationen sind viele Klänge atonal – in diesem Kontext also vertrauter – aber auch in ihnen wird deutlich, wie sehr Lachenmann sich, wie auch in der Marche fatale, für Dekonstruktion interessiert. In den Variationen wird ein akzentuiertes, begleitendes Motiv in der rechten Hand herausgenommen und übertrieben bis hin zu etwas sehr Entschiedenem, Martialischem und damit Perversem. In Marche fatale rückt die Absurdität und Banalität von Marschmusik in den Fokus.

»Ist ein Marsch mit seinem kollektiv in kriegerische oder festliche Stimmung zwingendem Anspruch nicht a priori lächerlich?«, fragt Lachenmann. »Ist er überhaupt ›Musik‹? Kann man marschieren und zugleich hören?« Egal, ob sie wunderbar geräuschhaft oder aufdringlich tonal sind, Lachenmann möchte mit seinen Stücken ernstgemeinte Fragen stellen.

Die Marche fatale brachte mich stellenweise zum Lachen, und lustige Kunst kann tiefe Fragen über den Zustand der Menschheit aufwerfen. In diesem Werk jedoch macht Lachenmann einen Unterschied zwischen Humor und dem, was er »Heiterkeit« nennt. Beide hätten wenig miteinander zu tun, schreibt er. Der Unterschied liege in einer latenten Gefahr, die bei »Heiterkeit« mitschwingt:

»Ich habe mir irgendwann vorgenommen, das ›Lächerliche‹ als entlarvendes Wahrzeichen unserer am Abgrund stehenden Zivilisation ernst – vielleicht bitter ernst – zu nehmen. Der – wie es scheint – unaufhaltsame Weg ins schwarze Loch alles lähmenden Ungeistes: ›das kann ja heiter werden‹«, schreibt Lachenmann.

In seiner Mail an mich fügt er hinzu:

Humor im Alltag mit seinen Tücken ist weiß Gott hilfreich, gar unverzichtbar. In der Musik  und beim Komponieren interessiert er mich so wenig, wie er einen Koch beim Zubereiten der Speisen oder einen Chirurgen beim Operieren interessieren sollte. Das schließt nicht aus, dass ich – nicht nur in Proben – selbst gelegentlich lachen muss, über das, was ich da angerichtet habe. Wer  – nicht nur in der Kunst  – nicht unterscheiden kann zwischen Humor und Heiterkeit, dem ich sowieso nicht zu helfen. Die Politiker sagen: ›die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos‹.  Nicht ich – denn ein Komponist hat nichts zu sagen – sondern meine Marche sagt:  ›Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst‹.

Dies ist, was die Marche fatale unter der klanglichen Oberfläche zu einem typischen Lachenmann-Stück macht – vielleicht sogar zu einem archetypischen.

Hör es dir noch mal an: Fängt es dann nicht an, weniger lustig als vielmehr apokalyptisch zu klingen? Ein Marsch hinab in die Hölle anstelle eines Marsches bergan?

»Wie konnte das passieren?«, fragt Lachenmann in seinem Programmheft, und meint damit das Stück selbst. Es ›passierte‹, weil selbst ein tonaler Marsch von den unverzichtbaren Elementen des Lachenmannschen Stils durchdrungen sein kann: Wissen, Vorsicht, Ironie, Bitterkeit und der Angst vor der Zukunft. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.

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