»Es gibt tatsächlich so etwas wie das ideale Novitätenprogramm im Genre der Kammermusik«, stellte Volker Hagedorn neulich im Konzert in Hannover fest und meint damit: Die Kooperation des Kuss Quartetts und Mojca Erdmann, für die Aribert Reimann sechs Kirchner-Lieder bearbeitet hat. Kombiniert wurden Die schönen Augen der Frühlingsnacht im Konzert mit noch mehr Reimann, Kurtág und Beethoven.

Die Empfehlung hat etwas von einem Geheimtipp – obwohl das Kuss Quartett seit dem Beginn seiner professionellen Karriere vor gut 15 Jahren regelmäßig in großen Häusern spielt, neben Mojca Erdmann mit Künstler_innen wie Miklós Perényi, Kirill Gerstein, Paul Meyer, Juliane Banse und Komponisten wie Lachenmann, Kurtág und Poppe zusammenarbeitet, Preise gewinnt.

Ich habe die vier in Berlin getroffen, nicht geheim, aber auch ohne großes Trara, bei einem kleinen Italiener in Charlottenburg, in dessen Nähe sie gerade sämtliche Beethoven-Quartette proben. Während wir uns in einem Mix aus Deutsch und Englisch unterhalten, essen die vier Spaghetti – die Zeit ist knapp.

Was bedeutet das für den Probenprozess, wenn man demnächst gleich alle 16 Streichquartette von Beethoven draufhaben muss?

Jana Kuss: Wir müssen uns sehr gut klarmachen, was wirklich geprobt werden muss. Geht es eher um Abläufe, dass Quartett-technisch alles klappt? Oder darum, die Stücke wirklich zu verstehen?

William Coleman: Im Quartett ist es eher üblich, wahnsinnig detailliert zu arbeiten. Trotzdem müssen wir auch versuchen, ein größeres Verständnis zu bekommen. Die Balance ist schwer.

Redet ihr viel beim Proben?

William Coleman: Wir reden kaum (alle lachen).

Jana Kuss: Wir reden schon.

Oliver Wille: Wir reden eigentlich mehr als wir spielen. Aber das ändert sich gerade. Um alle Quartette auf Vordermann zu bringen, muss man manchmal sagen: ›Lass uns jetzt das hier spielen, ohne viel zu reden, morgen sprechen wir dann drüber und spielen nochmal einzelne Stellen.‹ Wir müssen sozusagen auch Spontaneität proben: Schaffen wir es, einen Satz, den wir ein halbes Jahr nicht gespielt haben, mit wenigen Bemerkungen so zu spielen, dass er sowohl noch da ist, aber gleichzeitig auch intuitiv, ganz neu? Zwischendurch sehen wir uns ja alle nicht, machen andere Erfahrungen, unterrichten die Stücke zum Teil.

William Coleman: Man kommt zurück und ist nicht mehr die gleiche Gruppe. Man probt nicht einfach das, was man schon mal gespielt hat, bleibt bei dem, was man zu einer bestimmten Stelle gesagt hat. Man hat – leider – immer neue Ideen und Impulse. Manchmal fangen wir wirklich wieder von vorne an. Man kann im Quartett endlos proben – man hat nie alles gesagt. Wirklich nie.

Neben dem Quartett spielt Geigerin Jana Kuss mit Duopartner Eric Schneider. Oliver Wille (Violine) ist Intendant der Sommerlichen Musiktage Hitzacker und unterrichtet als Professor für Streicherkammermusik an der Musikhochschule in Hannover und am Royal Conservatory Birmingham. Bratschist William Coleman tritt regelmäßig als Solist und Kammermusiker in anderen Formationen auf und ist Professor für Viola am Mozarteum Salzburg. Mikayel Hakhnazaryan spielt als (Solo-)Cellist in (Kammer-)Orchestern (u.a. Münchener Kammerorchester, Berliner Philharmoniker, Camerata Bern).

Gibt es bestimmte Rollen bei euch, die ihr, wenn ihr euch zum Proben seht, immer wieder einnehmt?

William Coleman: Jana versucht, die Vorsitzende zu sein, dafür zu sorgen, dass wir nicht über Youtube-Videos und anderen Quatsch reden.

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Was Mikayel Hakhnazaryan dem Quartett zeigen würde, wenn sie mehr Zeit hätten.

Mikayel Hakhnazaryan: Es passiert so viel, während wir nicht proben, so viele spannende Sachen, die wir miteinander teilen wollen. Aber dafür ist keine Zeit.

William Coleman: Es wäre viel einfacher, wenn wir uns gar nicht mögen würden. Bei vielen anderen Quartetten besteht das Problem nicht (alle lachen).

Holt ihr euch manchmal Hilfe von außen?

Oliver Wille: Es ist die Frage: Wer kennt uns wirklich so genau, dass sie oder er das Innenleben einer Probe beurteilen kann? Am dichtesten dran sind wahrscheinlich unsere Lebenspartner, die teilweise auch Musiker sind. Wir haben uns bei diesem Beethovenzyklus aber auch bei ehemaligen Lehrern wie zum Beispiel Eberhard Feltz Hilfe geholt.

Nicht mit Eberhard Feltz, sondern mit Mauricio Fuks, Oliver Willes Professor aus Bloomington und ein enger Freund des Quartetts.
Nicht mit Eberhard Feltz, sondern mit Mauricio Fuks, Oliver Willes Professor aus Bloomington und ein enger Freund des Quartetts.

Wie ist das mit Hilfe in Sachen Kommunikation? Denkt ihr manchmal, ihr bräuchtet so etwas wie eine Paarberatung?

Jana Kuss: Nein, gar nicht.

William Coleman: Sowas finde ich Blödsinn. Wir wissen ganz genau, bewusst und unbewusst, wie wir miteinander umgehen. Wenige Quartette haben das, wir haben da großes Glück, dass wir unsere Zeit zusammen wirklich genießen. Es ist eher der große Beethoven-Berg, der vor uns steht. Das ist kein Spaziergang.

Ich weiß von anderen Quartetten, dass man, wenn man 20 Jahre alt ist, über alles bis zum Umfallen redet. Natürlich müssen wir heute weniger als früher über interpretatorische Dinge sprechen, weil wir eine Identität haben und eine Meinung, zu viert. Die muss man aber auf die Bühne bringen. Und dabei zählen oft sehr pragmatische Sachen – Bogenstellen, hier diese Farbe, dort diese, keine großen philosophischen Fragen.

Oliver Wille: Wir versuchen, über Strukturen zu sprechen. Was ist das Besondere an genau diesem Stück? Warum gibt es kein ähnliches Stück? Das muss man gemeinsam finden. Darüber kann man auch streiten. Aber man hat dann eine gemeinsame Sache, über die man streitet. Deswegen brauchen wir auch keine Mediation auf diesem Weg, weil es eine wichtige Sache gibt, die ganz konkret ist, die wir alle verfolgen.

Man kann so weit gehen, zu sagen, dass Kunst und Konsens nicht zusammenpassen. Ich finde das deswegen sehr merkwürdig, dass es immer mehr diese Tendenz hin zu Mediationen in der Musik gibt – in Orchestern zum Beispiel. Da ist dann gar nicht klar, was das große Ziel ist, wenn man das erst finden muss in so einer Besprechung.

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Volker Hagedorn schreibt in seiner Kolumne über euch, ihr wärt ›vier Musiker, denen Hype und Crossover sowas von egal sind, dass man das schon fast als unique selling point verbuchen könnte.‹ Denkt ihr manchmal, dass ihr stärker ein bestimmtes Image aufbauen, euren unique selling point noch mehr nach außen tragen müsstet?

Oliver Wille: Das ist unser Pech, dass wir vier weder alle Bärte haben, noch die gleichen Sachen an, noch sind wir gleich groß.

Mir hat das sehr gefallen, was Kirill Gerstein letztens im Interview in VAN gesagt hat: dass er immer versucht hat, geduldig zu sein und nicht jedem Trend hinterherzurennen.

Ich glaube, wir waren damals die ersten, die sich Konzeptprogramme überlegt haben, als Quartett. Wir haben angefangen, die ›großen‹ Komponisten in einen anderen Zusammenhang zu stellen – vom Ohr geleitet bestimmte Fäden aufzunehmen, die auch auf dem Papier logisch sind, vor allem aber beim Hören. Zum Beispiel unser Programm ›Bridges‹ mit Renaissance-Musik und Quartett-Musik aus dem 20. Jahrhundert, mit Stücken, die alle mit Gesanglichkeit zu tun haben wie bei Stravinsky oder Thomas Adès und Kurtág.

Inzwischen machen sich viele sehr gute Gedanken. Ich finde viele Programme, die ich als Veranstalter sehe, beim Hören aber nicht so toll und nur auf dem Papier interessant. Ein bisschen in die Richtung: Wenn mir nichts mehr einfällt, ändere ich das Genre und mache Jazz, Pop oder Piazzolla. Das kann man machen. Aber es interessiert mich und uns alle nicht so.

Aktuell planen wir eine Tour mit dem Slam-Poetristen Bas Böttcher. Und in Hitzacker gibt’s eine Premiere mit Nico and the Navigators und Beethoven. Da werden wir inszeniert, wie wir Beethovens op. 135 spielen, mit Tänzerin.

Nicht: Wir spielen und jemand tanzt, sondern wir werden Teil der Inszenierung. Da wissen wir noch nicht, wo es uns hinführt.

Ihr vergebt jedes Jahr einen Kompositionsauftrag: 2016 an Enno Poppe, 2017 an Aribert Reimann. Wie trefft ihr die Entscheidung, mit wem ihr zusammenarbeitet?

William Coleman: Wir kennen unsere Geschmacksrichtungen und wir besprechen das. Wir haben auch sehr viel mit Kurtág und Lachenmann gearbeitet, viel Birtwistle gespielt. Das Arditti Quartett hat George Benjamin immer um ein Streichquartett gebeten, aber er hat keins geschrieben. Es gibt solche Komponisten, bei denen man davon träumt, ein Streichquartett zu bekommen.

Das Quartett mit Harrison Birtwistle

Von wem käme euer Traum-Streichquartett?

William Coleman: Auf jeden Fall auch von George Benjamin.

Jana Kuss: Thomas Adès wäre auch ein Wunschkandidat, aber das kann man weder bezahlen, noch hat der Zeit.

Könnt ihr euch an einen bestimmten Höhepunkt im Quartettleben erinnern?

William Coleman: Ich werde die ersten Töne des ersten Konzerts in der Wigmore Hall nie vergessen, die ersten zittrigen Töne. Wunderbar!

Es gibt so wahnsinnig viele gemeinsame Erlebnisse. Eigentlich sind wir wie ein lebendes Tagebuch. Irgendjemand erinnert sich an irgendwas, was die anderen schon wieder vergessen haben – und dann fällt es allen wieder ein.

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Wie ist eure Beziehung zu anderen Quartetten?

Oliver Wille: Natürlich gibt es eher eine Beziehung zu unserer Generation, das Belcea Quartet, Cuarteto Casals – mit denen sind wir richtig befreundet. Schon Ebène ist eine Generation drunter. Wir kennen uns natürlich alle. Aber zu dieser Pop- und Jazz-Generation gibt es nicht wirklich Kontakt.

Das Angebot an sehr guten Quartetten steigt, die Gagen sinken – warum macht ihr das Ganze heute überhaupt noch?

Oliver Wille: Wir machen das ja schon eine ganze Weile und das Quartett spielt eine große Rolle in unseren Leben. Es ist uns vielleicht das Wichtigste im musikalischen Bereich, aber es ist nicht mehr so, dass es das einzige ist, was es gibt, dass man 365 Tage im Jahr nur Quartett sein möchte. Da hat sich wirklich was verändert, durch Lebenssituationen, andere Interessen und eine Regulation des Marktes. Natürlich kriegen die Jungen viel Aufmerksamkeit und Veranstalter greifen nach Neuem und Ensembles, die für niedrigere Gagen spielen. Und wir sind noch keine Legende.

William Coleman: Ich mache auch viel andere Kammermusik. Wenn man mit jemand anderem spielt, kriegt man immer etwas mit, es verändert einen immer ein bisschen, man ist immer in Bewegung. Das ist unglaublich wichtig für das Quartettspielen, dass man nicht nur das macht. Das hat mir damals meine Lehrerin Veronika Hagen vom Hagen Quartett beigebracht. Die sind immer heilfroh, wenn sie wieder zu viert zusammenkommen und sich immer wieder frisch finden, weil sie zwischendurch mit anderen Leuten gearbeitet haben.

Auch bei uns ist ein Nach-Hause-Kommen.

Wodurch entsteht dieses Heimkehr-Gefühl?

William Coleman: Wir sind nicht mehr 20 Jahre alt. Und dieses Quartett ist der längste durchgehende Faden unseres musikalischen Lebens.

Jana Kuss: Das ist etwas, was natürlich gewachsen ist. Oliver und ich haben angefangen, als wir noch Schüler waren, William kam dazu, als wir noch studiert haben, Mika ist seit mittlerweile fast zehn Jahren dabei.

In dieser Zeit haben wir uns so sehr entwickelt – persönlich und musikalisch, das erlebt man sonst nicht.

William Coleman: Und warum man grundsätzlich im Quartett spielt: Irgendwas ist am Quartett offenbar faszinierend. Es ist kein großes Orchester und trotzdem hat man die gleichen Komponisten, die gleichen Gefühle. Es sind nicht vier Solisten, sondern ein Gespräch, ein Kampf unter vier Menschen. Alle müssen eine eigene Meinung haben. Und der Versuch, das zusammenzubringen – irgendwas muss dran sein, das es faszinierend macht.

Oliver Wille: Im Quartett hat man als Streicher vielleicht die größte Vielfalt. Als Solist kommt man zu einem Orchester, das wenig Zeit hat. Man hat dort eine Generalprobe und man spielt, wie man eben spielt. Entweder die anderen folgen, oder sie folgen nicht. Im Quartett kann man gestalten, man kann alle Genres abdecken, man kann mit Gästen spielen und trotzdem ist man nie allein.

Dass man beim Quartett manchmal von der ›Königsdisziplin‹ spricht, hat vielleicht mit den Werken zu tun. Das fängt schon bei Haydn an. Was die Direktheit der Sprache und die Überraschungen der musikalischen Ideen angeht, hat man im Konzert- oder Solo-Repertoire nichts Vergleichbares zu den Haydnquartetten.

Mikayel Hakhnazaryan: Stimmt, wenn man das mit Haydns Cellokonzerten vergleicht, sind die inhaltlich nicht so komplex und innovativ wie die Streichquartette.

Oliver Wille: Auf der anderen Seite gibt es im Quartett so etwas wie eine Mission Impossible: Man hat nie den einen Moment, wo man sagt: Genau so soll es sein, daran halte ich jetzt die nächsten zwei Jahre fest.

William Coleman: Von allem, was da ist nach dieser langen Reise, musikalisch und menschlich, ist das, was man auf der Bühne zeigt, nur die Spitze des Eisbergs.

Da ist so viel, was erlebt, gesammelt, erfahren, gesprochen wurde, zusammengewachsen ist – und dann geht man zwei Stunden auf die Bühne!

»Es wäre viel einfacher, wenn wir uns gar nicht mögen würden.« Das Kuss Quartett in @vanmusik.

Oliver Wille: Wenn man sich die jungen Quartette anguckt, dann denke ich auch manchmal: Oh Gott, warum machen die das? Ich war gerade bei einem Festival, dem Heidelberger Frühling, bei einem Wettbewerb in der Jury. Auch da hat sich wirklich etwas verändert, im Gegensatz zu unserer Wettbewerbsgeneration. Es ist überhaupt nicht mehr klar, wer gewinnen wird. Wir sind vielleicht die letzten oder das Quatuor Ebène, bei denen klar war: Das wird der erste Preis hier und dann der erste Preis dort und der erste Preis da. Wir haben ja den Deutschen Musikwettbewerb und dann den Borciani-Wettbewerb gewonnen. Natürlich war das aufregend für uns, aber von außen war es keine riesige Überraschung.

Heutzutage gibt es so viele Wettbewerbe, so viele gute Streichquartette, aber dann eben doch nur ganz wenige phantastische. Dieses Aufbauen und dann klar sehen: Das wird die nächste Karriere, das gibt es nicht mehr. Bei allen großen Wettbewerben gewinnt immer ein anderes Quartett. Von manchen hat man noch nie gehört. Das gab’s früher nicht. Selbst die jungen Leute, die es schaffen und die dann unglaublich viel Unterstützung bekommen, riesige Stipendien, Startup-Preise und große Kompositionsaufträge vergeben können oder Konzertreihen organisieren … – ich möchte da nicht nochmal zurück.¶

Merle Krafeld

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com