»Das wäre das Schlimmste, wenn sich jetzt alle in Traditionalismus zurückziehen und die Spielpläne darauf reduzieren, nur noch populäre, austauschbare Stücke zu machen«, meinte Sängerin Anna Prohaska vor Kurzem zur Kulturwiedereröffnung in VAN. Im klassischen Konzertwesen hieße das: dieselben fünfzehn Komponisten noch vehementer rauf und runter zu spielen als in den vergangenen Jahren ohnehin schon. Wohlgemerkt: »Komponisten« wird hier nicht als generisches Maskulinum verwendet. Schon vor den Lockdowns hatten Komponistinnen auf den Konzertprogrammen der großen Orchester und Festivals einen schweren Stand. Diese Situation könnte sich jetzt noch zuspitzen. 

Schaut man allein auf die Zahlen, ergab sich schon vor der Pandemie ein ernüchterndes Bild: Nur 1,9 Prozent aller Stücke, die die 129 öffentlich finanzierten deutschen Orchester in der Saison 2019/20 in ihren Abonnement-Konzerten spielten (oder dies zumindest planten), stammten laut einer Studie von Melissa Panlasigui von Komponistinnen. Das typische klassische Orchesterkonzert folgt auch heute noch mehr oder weniger dem traditionellen Aufbau aus Ouvertüre, eventuell einem neueren Werk, Solo-Konzert, Pause, Sinfonie. Dabei wird sich, was das Repertoire angeht, auf eine Spanne vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert konzentriert, geworben wird gerne mit den Namen berühmter Komponisten. Panlasiguis Studie zeigt: In der Saison 2019/20 stammt die Hälfte des gesamten gespielten Repertoires der öffentlich finanzierten Orchester von nur fünfzehn Männern aus dem 19. Jahrhundert oder benachbarten Jahrzehnten. Unbekannte Entdeckungen aus dieser Zeit scheinen bei Entscheidern und Marketingabteilungen genauso ungern gesehen wie Neue Musik. Die Komponistinnen, die schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert arbeiteten, wurden aber von der bürgerlichen Gesellschaft und dem mit der Aufklärung aufkommenden Glauben an natürliche Unterschiede zwischen den geistigen Fähigkeiten von Frauen und Männern systematisch aus dem öffentlichen Raum und dem Konzertleben verdrängt und aus der Musikgeschichtsschreibung ausgeschlossen. Die, die danach kamen, zählen schon zur Neuen Musik. Komponistinnen fallen also zwangsläufig in eine dieser beiden bei vielen Veranstaltern unpopulären Kategorien: »unbekannt« oder »zu neu«.

Da es 2021 den allermeisten einleuchtet, dass Frauen das gleiche Recht und das gleiche Maß an Fähigkeiten zum Komponieren haben wie Männer, müsste innerhalb der Neuen Musik der Anteil der Komponistinnen sich dem der männlichen Kollegen langsam annähern, könnte man annehmen – doch das wäre weit gefehlt. In der Saison 2019/20 stammten laut Melissa Panlasiguis Studie insgesamt 9,4 Prozent der programmierten Werke von lebenden Komponierenden, und davon wiederum nur 11,6 Prozent von Komponistinnen. Dies entspricht laut einer Studie des Deutschen Kulturrats ziemlich genau dem Anteil der Kompoistinnen an allen 2019 bei der Künstlersozialkasse gemeldeten Komponierenden (ebenfalls gut 11 Prozent). Die in der KSK versicherten Komponistinnen hatten im Schnitt außerdem ein nur gut halb so hohes Jahreseinkommen wie die Kollegen. Sie wurden also entweder weniger beauftragt oder schlechter bezahlt – oder beides. Auch in spezialisierten Neue-Musik-Reihen zeigt sich Panlasigui ein ähnliches Bild: Im Forum N des hr- Sinfonieorchesters, bei Musik 21 der NDR Radiophilharmonie, musica viva des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Musik der Zeit des WDR Sinfonieorchesters, Horizont 21 des Gewandhausorchesters Leipzig und den Bad Emser Neuen Klängen des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie wurden 2019/20 nur zu 13 Prozent Komponistinnen gespielt. Dabei liegt der Frauenanteil unter den Kompositionsstudierenden der Kulturrat-Studie zufolge aktuell bei etwa einem Drittel. (Kompositionsprofessuren an deutschen Musikhochschulen haben allerdings wiederum nur in 9 Prozent aller Fälle Frauen inne. Das deckt sich mit einem ähnlich geringen Frauenanteil in den Führungspositionen im Konzertwesen: Laut der Studie von Melissa Panlasigui waren 2019/20 nur knapp ein Drittel der Orchestervorstände, knapp ein Fünftel der Künstlerischen Leitungen und nur vier Prozent der Generalmusikdirektor:innen der öffentlich finanzierten deutschen Orchester weiblich.)

Nach wie vor scheint es also eine gläserne Decke zu geben, die Kompositionsstudentinnen am Aufstieg in die Konzertsäle und auf hochdotierte Posten an Hochschulen hindert. Die Auswirkungen von Sozialisation, Männerseilschaften, Überresten des romantischen Geniekults, dem Mangel an (historischen) Vorbildern und Mentorinnen und die mögliche Unvereinbarkeit von Care-Arbeit und Kompositionsberuf sind nur einige der Zahnrädchen dieser komplexen Maschinerie der strukturellen Benachteiligung aufgrund des Geschlechts. Dass auf den Konzertprogrammen Komponistinnen unterrepräsentiert sind, ist dabei keine neue Entdeckung. Das Archiv Frau und Musik, dessen Kernanliegen die Verbreitung von Werken von Komponistinnen ist, gründete sich bereits vor über vierzig Jahren. 

Wie oft tatsächlich handfeste sexistische Vorurteile Veranstalter und Intendant:innen davon abhalten, Komponistinnen zu programmieren, ist schwer zu sagen. »Das liegt daran, dass Veranstalter die Gründe ihrer Ablehnung in der Regel nicht nennen«, berichtet Komponistin Dorothee Schabert auf VAN-Nachfrage. »Sie würden sich ja anfechtbar machen. Also bekommt man Allgemeinplätze und Vorwände zu hören.« Die Vorbehalte werden subtil kommuniziert und verbleiben oft in Grauzonen, wie die Komponistin, Dirigentin und Sängerin Julia Schwartz gegenüber VAN erklärt: »Wenn es darum geht, lebende Komponistinnen in Konzertprogrammen einzubinden, wird gesagt: ›Hmmm, gute Idee. Aber gerade dieses Stück finden wir nicht gut. Es hat nichts mit ihrem Geschlecht zu tun.‹ Woher weiss ich, dass das nicht vorgeschoben wird? Es wird nicht um eine Alternative der gleichen oder einer anderen Komponistin gebeten.« 

Es gibt aber auch Situationen, in denen Intendanten und Veranstalter ihre Voreingenommenheit mehr oder weniger offen zur Schau stellen. Einige Musiker:innen, die VAN davon berichten, wollen anonym bleiben, da sie von eben diesen Entscheidern nach wie vor abhängig sind. Sie erzählen von Äußerungen von Veranstaltern, die zeitgenössische Komponistinnen auf ihr Aussehen reduzieren und dieses angeblich mangelnden musikalischen Fähigkeiten gegenüberstellen. Oft offenbart sich auch auf Nebenschauplätzen eine überholte Vorstellung von Geschlechterrollen: Der Unwille, eine Komponistin zu programmieren, fällt dann zusammen mit der Forderung, Musikerinnen müssten sämtlich geschminkt und im Kleid auftreten.

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Oft wird auch das Argument laut, man würde ja gerne Komponistinnen (historische wie zeitgenössische) programmieren, es gäbe nur eben keine guten. »Da beißt sich die Katze in den Schwanz«, so Kulturmanagerin Ulrike Keil gegenüber VAN. »Wenn wir kaum Komponistinnen aufführen, wissen nur wenige, dass es welche gibt. Ein gutes Beispiel war das Clara-Schumann-Jahr, als ihr Klavierkonzert oft aufgeführt wurde. Da haben viele erst mitbekommen, dass sie auch komponiert hat. Die Menschen finden ihr Klavierkonzert umso interessanter, je öfter es aufgeführt wird und je öfter sie es hören.« Hat man dann ein Stück von einer Komponistin ausgewählt, folgen in vielen Fällen organisatorische Herausforderungen, wie Christian Münch-Cordellier, leitender Musikdramaturg am Theater Lübeck, gegenüber VAN erzählt: »Bei den großen Verlagen sind nach wie vor nicht viele Komponistinnen. Es ist darum oft deutlich mehr Arbeit, an ihre Noten zu kommen.« In den von ihm programmierten Kammerkonzerten in Lübeck erklingt trotzdem (mit einer einzigen Ausnahme) in jedem Konzert mindestens eine Komponistin: von Louise Farrenc aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Cécile Chaminade und Barbara Heller bis zu Uraufführungen von Jacqueline Fontyn und Diana Čemerytė. »Natürlich sind Noten von Bach einfacher zu organisieren«, meint auch Joosten Ellée, der künstlerische Leiter des PODIUM Festivals. »Wir bei PODIUM müssen immer wieder bei Bibliotheken anrufen und nach Faksimiles fragen, weil es noch kein anderes Notenmaterial gibt. Aber wenn man auf solche Recherchen keinen Bock hat, hat man den falschen Job gewählt.« 

An traditionsreichen Institutionen braucht es darum engagierte Einzelpersonen, die sich die Mehrarbeit machen, das nötige Notenmaterial zu beschaffen – und die überzeugt genug sind, um andere ins Boot zu holen, wie Christian Münch-Cordellier berichtet: »Ich glaube, es funktioniert immer dann am besten, wenn man die Leute selbst kennt und begeistert. Die Orchestermusiker:innen waren erst auch kritisch und meinten: ›Es gibt ja nichts Gutes von Komponistinnen.‹ Dann hab ich denen innerhalb von einer halben Stunde für eine bestimmte Besetzung über zehn Vorschläge gemacht – das ist ja auch gar nicht mehr so schwer. Die Ausrede, dass man niemanden findet, zählt eigentlich nicht mehr. Das Archiv Frau und Musik oder einfach das Internet machen so viel möglich.« Helfen können außerdem das Online-Lexikon MUGI (Musikvermittlung und Genderforschung im Internet), die Porträtreihe zu 250 Komponistinnen in VAN und Komponistinnen-Interessenvertretungen wie der Verein musica femina münchen oder der furore Verlag, der ausschließlich Werke von Komponistinnen veröffentlicht. 


Strukturelle Benachteiligung ist vielschichtig und auch im Klassik-Business verläuft sie nicht nur entlang der Trennlinie Geschlecht, auch Kategorien wie das Alter spielen eine Rolle. Nachwuchsförderung funktioniert im üblichen PR-Jargon dabei besser als ein später Karrierestart. »Frau und knapp 70 Jahre scheint ›unsexy‹«, meint Dorothee Schabert. »Zudem unterstützt mich kein Protektor wie ein berühmter Kompositionslehrer.« Ihre Künstlerinnenbiographie ist dabei keineswegs untypisch und zeigt eine weitere strukturelle Schranke für Komponistinnen auf: »Jahrelang gehen die Familie und der notwendige ›Brotberuf‹ vor (in meinem Fall ein ganz großartiger Beruf als Tonmeisterin). Hat man dann die Zeit, sich ganz der eigenen Berufung zu widmen, schlagen einem Vorurteile einer patriarchalen Gesellschaft entgegen. Seine (nicht ihre!) Karriere habe man im üblichen Lebensabschnitt zu absolvieren, alles andere scheint zu beweisen, dass da eben das Talent fehlt …  Der romantische Geniekult lässt grüßen.« (Dass es Schabert keineswegs an Talent mangelt, zeigen, neben einem Blick auf ihre Musik, jüngst zum Beispiel ein Kompositionsstipendium der Villa Massimo, Casa Baldi Olevano oder die Präsentation ihrer Werke bei den Darmstädter Ferienkursen 2021 und nicht zuletzt das Porträt der Komponistin in VAN.)

Eine weitere Hemmschwelle für Komponistinnen ist, dass Veranstalter und Intendant:innen einfach behaupten können, welche Kompositionen in ihren Augen Qualität haben und welche nicht, ohne sich dazu weiter erklären zu müssen. »Nach meiner Erfahrung kann kaum jemand die Partituren wirklich lesen«, so Dorothee Schabert. »So bleiben Kriterien und Qualitätsurteile ungeklärt, unhinterfragt und in der Folge auch nicht diskutierbar. Inwieweit zudem in den überwiegend immer noch männlich besetzten Jurys und Auswahlgremien ein ›männlicher Blick‹ auf Ästhetik und Machart von Kompositionen dominiert, der in der Szene selbst von Frauen, die in solche Gremien vorstoßen, oft bewußt oder unbewußt übernommen wird, ist eine bislang kaum aufgeworfene Frage.« Auch Joosten Ellée, der vor der Übernahme von PODIUM lange als Konzertmeister und Dramaturg Teil des ensemble reflektor war, findet das Qualitätsargument oft nicht stichhaltig: »Wenn jemand eine Sinfonie von Louise Farrenc ablehnt und stattdessen ein richtig schlechtes Stück von Beethoven spielen lassen will – dann kann die Person mir nicht sagen, dass es um die Qualität der Stücke geht.«

Die Leitlinie der Veranstalter und Intendant:innen wird dabei eher der Publikumsgeschmack sein – oder vielmehr ein angenommener Publikumsgeschmack. »Ich glaube nicht, dass die Hörer das entscheiden«, meint auch Kulturmanagerin Ulrike Keil. »Verantwortlich sind die Veranstalter oder auch Orchester, die glauben, das Publikum will immer dasselbe hören. Wir müssen wieder mehr Neugierde auf Neues fördern.« Pianistin und Kuratorin Nina Gurol berichtet auf VAN-Nachfrage: »Oft ist das Publikum total offen und die Ängste liegen eher bei den Intendant:innen – meist aber bei den Intendanten.« Bei einigen Veranstaltern schwinge bei der Ablehnung von Komponistinnen auch die Angst mit, »dass man dem konservativen Publikum suggeriert, man würde womöglich demnächst auch noch anfangen, in den Moderationen auf der Bühne zu gendern. Es gibt eine Angst, sich mit Komponistinnen auch politisch zu positionieren.« 

Dramaturg Christian Münch-Cordellier hat die Erfahrung gemacht, dass das vermeintliche ›Risiko‹, Komponistinnen zu spielen, eigentlich gar keines ist, wenn gute Programmhefte und Konzerteinführungen das Publikum mitnehmen. (Die zu schreiben, macht, so bemerkt Münch-Cordellier nebenbei, auch mehr Spaß, wenn man nicht immer wieder von denselben wenigen Komponisten erzählen muss.) »Und dann habe ich auch noch nie erlebt, dass das Publikum das nicht goutiert hat. Die, die da sind, kriegt man ganz leicht.« Allein die Auslastung eines Konzerts als Argumentationsgrundlage für ›den Publikumsgeschmack‹ heranzuziehen, ist dabei zu kurz gedacht. »Es kann sein, dass nur die Neugierigen kommen, wenn man etwas Unbekanntes spielt«, so Münch-Cordellier. »Und die muss man auch erstmal erreichen, denn die kommen sonst wahrscheinlich gar nicht, wenn man immer nur Beethoven und Brahms macht.«

Nina Gurol war auch schon in der Situation, dass Veranstalter selbst nach dem Konzert noch »total schockiert sind vom Programm, dabei fand das Publikum es großartig. Da frage ich mich: Wer soll hier eigentlich am Ende glücklich sein?« Innerhalb der jüngeren Generation stelle sich das Problem außerdem oft gar nicht. »Man programmiert einfach Komponistinnen – nicht aus Prinzip, sondern weil die Stücke passen.« Das geht dann meist einher mit einem grundsätzlich anderen Blick auf das Konzert und die Künstler:innen als dem, der in der älteren Generation recht verbreitet ist: »Wir sind halt schon lange nicht mehr diese unnahbaren Künstler:innen, die im Ballkleid von der Bühne auf alle anderen herabblicken. Es geht heute viel mehr darum, Nähe herzustellen zwischen Publikum und Künstler:in, sich verletzlich zu machen.« Aber auch für ein konservatives Publikum könne man Komponistinnen programmieren, so Münch-Cordellier: »Man kann ja ein Beethoven-Trio spielen, wenn man will, aber warum nicht kombiniert mit einem Werk von Saariaho? Dann hätte auch das Stammpublikum seinen Beethoven und das verlässt dann ja bei Saariaho hoffentlich auch nicht direkt den Saal.«

Gerade von öffentlich finanzierten Häusern und Orchestern kann man aber auch erwarten, dass sie sich bei ihrer Programmierung nicht ausschließlich nach den Publikumszahlen richten – egal ob angenommen oder empirisch belegt. »Gerade wir öffentlich geförderten Institutionen – Orchester, Konzerthäuser, Festivals – müssten ja nicht nur nach dem gehen, was der Durchschnitt des Abopublikums will, sondern sollten eine breitere Gesellschaft im Blick haben«, meint Joosten Ellée. »Wenn man nach dem Argument geht: ›Mein Stammpublikum würde dann nicht mehr kommen‹, verkennt man seinen öffentlichen Kulturauftrag.« Selbst in Häusern wie der Elbphilharmonie sei das Programm nicht mutiger – obwohl die ohnehin fast immer ausverkauft sei. (Das NDR Elbphilharmonie Orchester hat für diese Saison nur noch ein einziges Konzert mit einer Komponistin, Ella Milch-Sheriff, geplant.) »Welche Berechtigung haben wir als stark subventioniertes Haus, nur noch das zu spielen, was alle privaten Veranstalter auch machen?«, fragt Christian Münch-Cordellier. »Das wäre für mich das Ende der Kunst. Ich habe gar nichts gegen Beethoven und Brahms. Aber nur noch Eulen nach Athen zu tragen …«

Die Angst, dass das Publikum nach dem Ende der Lockdowns nicht wiederkommt, wenn man in der zweiten Konzerthälfte keinen Gassenhauer spielt, empfindet Joosten Ellée bei »der älteren Riege« aktuell als sehr präsent. Ein Blick in die Programme der kommenden Konzerte der großen Orchester bestätigt diese Einschätzung: So hat beispielsweise die NDR Radiophilharmonie für den Rest der Saison 2021/22 kein einziges Werk mit einer Komponistin mehr in Planung. Die Staatskapelle Berlin und die Berliner Philharmoniker programmieren Komponistinnen bis nächsten Sommer nur in jeweils zwei Kammermusikkonzerten, nicht mit großem Orchester. Die Münchner Philharmoniker spielen noch in einem einzigen Jugendkonzert ein Stück von Lera Auerbach. Dieser Satelliten-Status ist für Konzerte mit Komponistinnen keine Seltenheit: Auch beim Tonhalle-Orchester Zürich (Sarah Nemtsov) und dem WDR Sinfonieorchester (Sofia Gubaidulina / Liza Lim) finden das jeweils einzige kommende Orchesterkonzert mit Komponistinnen ausgelagert in spezielle Reihen für Neue Musik statt, ergänzt werden diese von zwei bis drei Kammermusikabenden mit Komponistinnen. Die Wiener Philharmoniker spielen in nur einem Programm ein Werk von Sofia Gubaidulina, allerdings gehen sie damit dann auf Tour. Auch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) präsentiert Komponistinnen vor allem im Rahmen des Festivals ULTRASCHALL für Neue Musik (Milica Djordjević und Yiran Zhao), immerhin gibt es auch ein ganz gewöhnliches Abonnement-Konzert mit einer Komponistin (Helen Grime). Zwei Sonderkonzerte mit großem Orchester plant die Sächsische Staatskapelle mit Komponistinnen (Lili Boulanger im ZDF-Weihnachtskonzert und Sofia Gubaidulina). An der Tabellenspitze führen für den Rest der Saison 2021/22 das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), dessen Composer in Residence Jelena Firssowa mit gleich vier Orchesterwerken in vier Programmen zu hören ist und neben ihr in weiteren Konzerten Mirela Ivicevic, Roxanna Panufnik und Lili Boulanger. Das Gewandhausorchester spielt in vier großen Konzerten Dora Pejačević, Sofia Gubaidulina, Anna Clyne und Unsuk Chin. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks geht mit einem Programm mit Clara Schumanns Klavierkonzert auf Tour, außerdem plant es noch Konzerte mit Liza Lim, Unsuk Chin und Francesca Verunelli (allerdings im Rahmen von musica viva). Diese Sonderkonzerte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass im ganz gewöhnlichen Abokonzert-Betrieb für den Rest der Saison überhaupt nur vier der zwölf genannten Orchester (das DSO, das RSB, das NDR Elbphilharmonie Orchester und das Gewandhausorchester) Komponistinnen spielen werden. Eine umfassende statistische Erhebung zu Komponistinnen gibt es für die aktuelle Saison noch nicht. Bei allen mengenmäßigen Unterschieden lässt sich aber festhalten: Einen großen Anteil werden ihre Stücke, verglichen mit der Anzahl der Werke männlicher Kollegen, in den verbleibenden Monaten der Saison 2021/22 nicht ausmachen. 

Dass es auch anders geht, zeigen Beispiele wie das Kronberg Academy Festival 2021. In jedem Konzert des Kammermusikfestivals klang mindestens ein Werk einer Komponistin, von Barock bis Zeitgenössischem. Beim PODIUM Festival hat man sich vorgenommen, 2022 zu mindestens 50 Prozent Komponistinnen auf die Programme zu setzen. »Mein Wunsch wäre, dass es nicht mehr notwendig wäre, das so zur Schau zu tragen«, meint Joosten Ellée. »Es ist eine Sache, die man einfach wollen muss und dann funktioniert das auch. Es mangelt nicht an guten Werken der Vergangenheit und Gegenwart. Es hängt nur davon ab, von wem man sich informieren lässt und ob man motiviert ist, auch selbst zu recherchieren.« Ulrike Keil berichtet aus München, dass dort in der Freien Szene viel mehr passiere als bei den Abonnementkonzerten. Melissa Panlasigui vermutet gegenüber VAN, dass die Komponistinnen-Quote bei flexibleren Neue-Musik-Ensembles höher ist als bei Orchestern, weil Frauen wie Männer heutzutage eher für kleinere, vielfältigere Besetzungen schreiben. Ein Blick auf die Programme der letzten Durchgänge der Donaueschinger Musiktage (etwa die Hälfte der Werke stammte von Komponistinnen) und der Darmstädter Ferienkurse (nur ein einziges Konzert ohne Komponistin: ein Alvin-Lucier-Porträtkonzert) bestätigen diese Einschätzung. »Es gibt viele Beispiele, bei denen die Programmierung von Komponistinnen sehr gut gelingt«, meint Joosten Ellée, »aber die werden dann oft als Einzelfall dargestellt. ›PODIUM kann man nicht vergleichen mit normalen Abokonzerten‹, heißt es dann. Ich frage mich, ob das eine so nachhaltige Strategie ist, wenn der Verkauf darüber läuft, dass man fett den Namen des Dirigenten und des Komponisten der Sinfonie aufs Plakat druckt und beide darum möglichst bekannt sein müssen.«

Um hier bei öffentlich finanzierten Orchestern und Häusern ein Umdenken anzuregen, könnte für diese Institutionen für eine Übergangszeit eine Komponistinnen-Quote helfen. Eine solche ist bei vielen unpopulär, da sie künstlerische Freiheiten beschneide. Nicht zuletzt die Komponistinnen selbst stehen ihr skeptisch gegenüber, denn sie wollen wegen ihrer Arbeit und nicht wegen ihres Geschlechts ausgewählt werden. Der Blick auf die Zahlen der letzten Jahre zeigt jedoch: Obwohl die gesellschaftliche Debatte um Geschlechtergerechtigkeit seit Jahrzehnten geführt wird, tut sich in der breiten Masse der klassischen Institutionen wenig. Eine Quote könnte die einzige Möglichkeit sein, Publikum, Intendant:innen und Veranstaltern zu beweisen, dass die Musik von Komponistinnen über alle Jahrhunderte der Musikgeschichte hinweg auf höchstem Niveau berühren, begeistern, verstören, verwundern und verwandeln kann. Großartige Werke sind gleichermaßen vorhanden wie Talent und Inspiration für Kommendes. Jetzt müssen sie nur noch zum Klingen gebracht werden. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com