Im Auto unseres Autors ist Beethoven nie dabei, und mit den Sinfonien hatte Volker Hagedorn immer ein echtes Problem. Jetzt hat Mozart es gelöst, nachts auf der A7, 234 Jahre nach der Uraufführung seiner Prager Sinfonie.
»Bist du auch froh«, fragte mich vorm Jahreswechsel eine Freundin per Mail, »dass das Beethovenjahr bald vorüber ist? Ich sage mir das jedes Mal, wenn mich Beethoven im Autoradio nervt… Es tut auch gut, nicht nur von Corona genervt zu sein.« Ich habe unter Beethoven überhaupt nicht gelitten, schrieb ich zurück, weil ich im Auto immer nur die CDs höre, die ich mitnehme. Beethoven war noch nie dabei. Zur Zeit sind es Friday Night in San Francisco mit den Gitarristen John McLaughlin, Al Di Meola und Paco de Lucía und Mozarts Prager Sinfonie mit der Mozart Akademie Amsterdam. Ich höre das nicht dauernd, aber immer mal wieder, je nach Befinden und Wetterlage.
Gerade jetzt habe ich wieder die Prager gehört, auf der dunklen nassen A7 nördlich von Hannover, und dachte dabei, die Frage der Freundin im Kopf, auch an Beethovens Sinfonien. Noch nie bin ich auf die Idee gekommen, mir eine von ihnen freiwillig anzuhören, ins Auto mitzunehmen (erste Stufe der Annäherung), dort zu hören (zweite Stufe) oder gar mehrfach zu hören (dritte Stufe, kurz vor der Anbetung). Freiwillig, das klingt, als könne man dazu gezwungen werden, und das ist im Musikjournalismus der »Klassik« auch so, jedenfalls am Anfang. Man kann nicht in den Job einsteigen, wenn man den ehrenvollen Auftrag ablehnt, eine Gesamtaufnahme der Beethovensinfonien zu besprechen.
Als er mir erstmals erteilt wurde, war ich so respektstarr, dass ich mich mit den CDs und Partituren auf die Insel Helgoland in Klausur begab. Es war grauenhaft. Ich bekam fast sofort ein Magenproblem, biss mich trotzdem durch den Stapel und finde seitdem Helgoland total gruselig. Natürlich habe ich später versucht, an dem Trauma zu arbeiten und Ludwigs Großformate fair und offen zu hören. Ich tat, was ich konnte, und lernte dazu, aber die Streichquartette (die ich auch nicht nur freiwillig hörte) fand ich besser, freier, spannender, die Missa Solemnis auch und viele Klaviersachen. Und nun, wegen Mozarts Prager Sinfonie, habe ich endlich mein schlechtes Gewissen über Bord geworfen.
Es gibt in dem Werk von 1786 Stellen, die an den Sinfoniker Beethoven denken lassen, aber dann gleich weit über ihn hinausreichen. Es hat nicht dieses Angestrengte, Bekennende, Bittere. Es ist eine solche Reife und Wärme selbst und gerade im Subjektiven und Revolutionsmäßigen – nichts wird »angestrebt«. Natürlich wäre es idiotisch, Beethoven vorzuwerfen, er komponiere nicht wie Mozart. Vielleicht sollte man Mozart besser gegen die Sorte kanonischer Rezeption ausspielen, die sich um Beethovens Eins-bis-Neun gebildet hat? Aber nicht mal die kühnsten, offensten Interpreten konnten in meinen Ohren diese gewisse Bitternis vertreiben (sie fehlt nur in der Pastorale, die dafür allerdings eher fade ist); es muss also am Komponisten selbst liegen.
Okay, dass er mir nicht liegt, ist meine Privatsache, aber ich möchte alle ermuntern, ihre Privatsachen nicht zu gering zu schätzen. Man kann schöne Entdeckungen machen, wenn man sich nicht sagen lässt, was wichtig ist. Auch bei Mozart. Als Gipfel seines sinfonischen Schaffens »gelten« die drei Sinfonien von 1788; der späte Harnoncourt zelebrierte sie sogar als eine Art verkapptes Triptychon. Aber der Hammer ist für mich die Prager, die nach dem Ort ihrer Uraufführung benannt ist – 19. Januar 1787, nach dem Erfolg von Le nozze di Figaro und kurz vor Mozarts 31. Geburtstag. Er hatte die Sinfonie parallel zum Figaro komponiert und in ihr schon das Gebiet von Don Giovanni erreicht.
In der längsten langsamen Einleitung, die er je schrieb, läuft schon der Steinerne Gast herum, um sich anschließend mit einem anderen Steinernen Gast zu treffen, nämlich J.S. Bach, der als Kontrapunktiker Mozart den größten kreativen Schock seines Lebens verpasst hatte. Der wird hier so grenzwertig raffiniert und elegant produktiv gemacht, dass gar nichts steinern ist. Das Stück hat ein Eigenleben, bei dem man sich fragen kann: Wie sehr lebe ich selbst eigentlich? Die Frage liegt ohnehin nahe, wenn ins eigene Leben so massiv eingegriffen wird wie jetzt. Die Kongruenz von Elan und Metier bei Mozart, diese Souveränität der Mittel als Souveränität des Individuums erlebe ich da schon als oppositionell, besonders bei 140 km/h ohne Stau.
Ich könnte lange so weiterschwärmen, auch über den Verzicht auf ein Menuett, den ich Dutzenden von Sinfonien wünschen würde (wenn auch nicht gerade mit Blick auf das Scherzo in Bruckners Neunter), der aber unter Musikologen als ungeklärte Sonderbarkeit gilt… Und was hat das mit Beethoven zu tun? Von hier gehört, erscheint er ja fast als einer, der nur mühsam da hin konnte, wo Mozart schon längst war, ein bisschen wie Robert F. Scott auf dem Weg zum Südpol, wo schon Roald Amundsen Flagge und Brief hinterlassen hat… Schräger Vergleich, aber so finde ich Beethovens Sinfonien schon wieder interessant! Nur nicht jetzt gleich, die laufen einem ja nicht weg.
Jetzt höre ich lieber noch mal something completely different. 5. Dezember 1980, Warfield Theatre, San Francisco: 2.300 Leute werden von den Gitarristen John McLaughlin, Al Di Meola und Paco de Lucía supervirtuos in die Ekstase gejagt, und umgekehrt: Die Jubelschreie treiben die Friday Night in San Francisco in die Ewigkeit. Kein Notenblatt weit und breit, nur ein paar Themen, mit denen die drei Männer feuerwerken, machismo pur, aber überwältigend inspiriert. Mozart und Beethoven hätten beide Sinn dafür gehabt, als begnadete Improvisierer. Eine Friday Night in Vienna mit ihnen an den Keyboards wäre schon toll gewesen. Den Mitschnitt würde ich mir auch ins Auto mitnehmen. ¶