Vor einiger Zeit hatte der in Duisburg lebende Pianist, Komponist und Arrangeur Kai Schumacher die Idee, Schubert-Lieder neu zu interpretieren. Dafür kam ihm der bekannte Singer-Songwriter Gisbert zu Knyphausen in den Sinn. Es entstand das Projekt »Lass irre Hunde heulen. Gisbert singt Schubert« mit Gisbert zu Knyphausen (Gesang, Gitarre, Klavier und Arrangements), Kai Schumacher (Idee, Klavier, Synthesizer und Arrangements), Quart.essence (Önder Baloglu, Violine, Bianca Adamek, Violine, Ainis Kasperavicius, Viola, Diego Hernandez, Violoncello), Sebastian Deufel (Drums, Percussion und Arrangements), Michael Flury (Posaune, Glockenspiel und Arrangements), Marcus Schneider (E-Gitarre), Felix Weigt (Bass). Die atmosphärische Bebilderung – man sieht Hände, Körperfarben, Spielkarten – auf fünf großen Projektionsflächen kam vom Projekt »Warped Type« (Andreas Huck und Roland Nebe, Live-Visuals).

Knyphausen und Schumacher haben sich einzelne Lieder Schuberts rausgesucht, neu arrangiert und mit fünf eigenen Liedern Knyphausens sowie dem Variationssatz aus Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen kombiniert. Jedes Lied wurde dabei völlig individuell neu gedacht, angefangen von dem angekratzten Gute Nacht (Arrangement von Sebastian Deufel und Knyphausen) aus der Winterreise bis hin zum letzten Stück dieses Liederkreises, dem Leiermann (Arrangement von Kai Schumacher), das einsam mit einem doppelgriffigen Kontrabass-Pizzicato-Solo anhebt. Wenn Knyphausen mit seiner ganz eigenen – aufgerauten, beteiligten, leicht endzeitlich ausgedünnten – Stimme vom Mädchen singt, das ›von Liebe sprach‹ und der Mutter, die ›gar von Eh’‹ ausging, dann ist eine textliche Disparatheit zu befürchten, die den Unterschied von poetisch-pathetischer Sprache des frühen 19. Jahrhunderts und moderner Singer-Songwriter-Textlichkeit des frühen 21. Jahrhunderts unvereinbar nebeneinander stehen lässt. Doch gerade die authentische Wiedergabe Knyphausens von noch so ›fremden‹ Text-Versatzstücken – etwa: ›In den stillen Hain hernieder, Liebchen, komm zu mir!‹ in Schuberts kitschverdächtigem Ständchen – vermittelt eine berührende Ernsthaftigkeit und amouröse Nicht-Zeitgebundenheit der Lyrics, die an dem Abend einfach schlicht: funktioniert. Die Lieder sind sehr unterschiedlich arrangiert, mal gibt es einkomponierte Ausraster, mal Verkürzungen, mal Zwischenspiele, mal einen breiten Sound, zu dem alle Beteiligten beitragen. ›Du bist die Ruh‹ singt Knyphausen sich selbst begleitend am Klavier. Kein Arrangement. Nur Schuberts schönstes Lied – und ein Singer-Songwriter, der Emotionen glaubhaft in eine klassische Komposition hineinlegt. Man fragt sich, warum die arbeitsteilige Trennung von Pianist:in und Sänger:in im Themenfeld ›Lied‹ bis heute nie ernsthaft hinterfragt wird…Das Konzert hätte bereits im März 2020 in der Mercatorhalle Duisburg, in der Schumacher seine Reihe ›Kai & Friends‹ initiiert, auf die Bühne kommen sollen. Die bekannte Pandemie verhinderte die Live-Realisation zunächst. So wurde die Premiere auf den 9. September 2020 verschoben. Arno Lücker ist aus diesem Anlass nach Duisburg gefahren, besuchte das erste Konzert des Abends (aufgrund der Zugangsbeschränkungen wurde das Konzert zweimal am selben Tag veranstaltet) – und traf am Vormittag darauf beide Künstler zum Interview in der in Business-Grau gehaltenen Lobby des IC-Hotels neben dem Hauptbahnhof Duisburg.Knyphausen gibt eine Runde schwarzen Kaffee aus. Wir sind erfreut über die Stärke und Schwärze des Getränks. Es ist viel zu warm in der Lobby. Egal. Der Sommer soll noch einmal wiederkommen. Die Eltern beider Künstler waren am Abend zuvor ebenfalls beim Konzert. Allen hat’s gefallen.

Gisbert zu Knyphausen (links) und Kai Schumacher (rechts) • Foto © Markus Werner
Gisbert zu Knyphausen (links) und Kai Schumacher (rechts) • Foto © Markus Werner

VAN: Kai, du hast gestern auf der Bühne kurz erzählt, wie das Projekt entstanden ist. Du wolltest SCHUBERT-LIEDER NEU DENKEN. Mit EINEM SINGER-SONGWRITER…

Schumacher: Die Idee mit den Schubert-Liedern hatte ich schon super lange, habe das aber nie ernsthaft verfolgt. Wegen des Aufwands. Ich wollte das schon groß instrumentieren, aber hatte nicht im Kopf, dass wir das mit Posaune, E-Gitarre, Schlagzeug und so weiter machen. Es war auch eine Frage des Budgets…

…WEIL ES BESTIMMT AUCH NICHT LEICHT IST, EINEN VERANSTALTER DAFÜR ZU FINDEN?

Schumacher: Ja, aber ich hatte das Gefühl, dass das gut werden kann. Wenn es gut gemacht ist. Dass es eben nicht nur so ein Crossover-Ding ist: ›Hey, wir spielen Henry Purcell im Stile von Sting!‹ oder so. Seit drei Jahren kuratiere ich ja die Reihe ›Kai & Friends‹ bei den Duisburger Philharmonikern – und habe da ziemliche Narrenfreiheit. Da wurde es dann konkret für mich. Und weil ich einfach auch Fan von Gisbert bin, dachte ich: Das könnten passen. Das ist so eine glaubwürdige Stimme! Und seine Texte sind für mich zeitlos. [An Knyphausen gerichtet] Ich finde, man kann anhand deiner Texte manchmal nicht einordnen, wo du stehst, weil es dort nichts Tagesaktuelles oder so gibt.

IHR KANNTET EUCH VORHER ALSO NOCH NICHT PERSÖNLICH?

Knyphausen: Nein, wir kannten uns noch nicht.

EINE BEKANNTE SITUATION: MAN HAT EINE FÜR GUT BEFUNDENE IDEE, DIE ABER – WENN MAN MIT EINEM ›STAR‹ ZUSAMMENARBEITEN WILL – SO INS GELD GEHT, DASS EIN KLASSISCHER VERANSTALTER WOHL ÜBLICHERWEISE SAGT: SORRY. ES SEI DENN, MAN KENNT SICH SCHON PRIVAT – UND BEIDE SEITEN HABEN EINFACH BOCK… GISBERT: WAS HAST DU GEDACHT ALS DU DIE E-MAIL VON KAI IN DEINEM POSTEINGANG HATTEST?

Knyphausen: Das ging über mein Label. Kai kannte jemanden von dort. Ich las also die E-Mail und dachte: Wow, das ist eine abgefahrene Idee. Ein oder zwei Jahre vorher hatte ich mir lustigerweise auf einem Flohmarkt eine Schallplatte mit Schubert-Liedern gekauft, mich interessierte das einfach. Es blieb mir aber zuerst ein bisschen fremd. Ich habe dann Kai gefragt, wie er sich das vorstellt…

WEISST DU NOCH, WER DIESE SCHUBERT-SCHALLPLATTE EINGESUNGEN HATTE?

Knyphausen: Es war eine Sammlung von gesammelten Schubert-Liedern und die Dichterliebe von Schumann. Ich glaube, es war Peter Schreier, der die Lieder sang…

ALSO WAR SCHUBERT IM RAUM – UND NICHT ETWA DAS THEMA ›LIED‹ ALLGEMEIN?

Knyphausen: Genau. Kai stellte sich vor, wie das ist, wenn ein nicht klassisch ausgebildeter Sänger Schubert-Lieder singt.

HAST DU DANN NOCH EINMAL DIESE BESAGTE SCHALLPLATTE RAUSGESUCHT ODER WIE GING ES DANN WEITER?

Knyphausen: Kai schickte mir gleich ein paar Schubert-Sachen und meine Freundin, die sich in der klassischen Musik besser auskennt, hat mir Lieder gezeigt wie das Ständchen – und natürlich habe ich diese Platte wieder ausgepackt und dann selber geguckt… Auf einer Silvesterparty ein Jahr davor hatte mir jemand Schuberts Leiermann vorgespielt, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. [Lacht] Das war zu sehr später Stunde – und ich war sehr ergriffen davon. Und dann habe ich mir die ganze Winterreise mit Fischer-Dieskau reingezogen. Das war ein gefilmtes Konzert – ohne Publikum. Ich habe also nach Liedern geschaut, die ich mir überhaupt vorstellen kann, selber zu singen.

HAST DU DICH EHER ÜBER DIE TEXTE ODER ÜBER DIE LIEDBEGLEITUNG, DIE AKKORDE UND SO WEITER SCHUBERT GENÄHERT? HATTEST DU GLEICH DEINE GITARRE IN DER HAND?

Knyphausen: Erstmal habe ich nach Texten geschaut, die mich ansprechen, die ich glaubhaft singen kann. Bei manchen Liedern haben mich gleich die Harmonien interessiert. Die Texte waren zuerst für mich das größere Problem. Da gedanklich einzutauchen… Kann ich die in dieser Form singen? Oder muss ich die für dieses Projekt umschreiben? Irgendwann hatte ich mich so reingehört, mir die Texte so zu eigen gemacht, dass ich dachte: Nein, die Texte müssen so bleiben! Dass es so klingt wie ein eigenes Lied. Hoffentlich. Dann habe ich mich mit Kai getroffen, wir haben zusammen Schubert-Lieder gehört und notiert, was uns textlich anspricht. Kai hat dann aus der groben Auswahl Lied-Sheets gemacht, mit den Texten und den Akkorden, ein bisschen vereinfacht, so, dass ich mich auch mal selber mit der Gitarre dransetzen konnte. So entstand dann die Version vom Ständchen. Ich habe einfach auf der Gitarre ein bisschen rumgespielt. Zeitgleich arbeitete ich an einem Projekt mit dem Posaunisten Michael Flury – und wir haben dann gemeinsam auf dem Lied rumgejammed und das Arrangement erstellt. Dann gab es Lieder, von denen Kai schon eine ziemlich konkrete Vision hatte, vom Wegweiser und vom Leiermann zum Beispiel.

Schumacher: Etwa fünf Lieder hatte ich vorbereitet und wir haben die Arbeit einfach aufgesplittet. Gisbert hat dann alleine oder zum Teil mit Michael Flury arrangiert…

Knyphausen: …und mit Sebastian Deufel, dem Schlagzeuger, habe ich auch viel zusammengesessen und erst einmal ein bisschen am Computer rumgeschraubt.

Schumacher: Genau, es gibt ganz tolle MIDI-Versionen von dem Lied Aufenthalt! [Lacht]

Knyphausen: Sebastian und ich sind in dem Arrangement von Gute Nacht etwas hängengeblieben und haben Kai um Rat gefragt, der dann den Streicher-Part noch wunderschön erweitert hat. Das war ein fast fortlaufender Prozess von ungefähr einem Jahr.

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ICH BEOBACHTE MANCHMAL FAST SO ETWAS WIE EINEN TONARTEN-FETISCHISMUS BEI KLASSISCHEN MUSIKER:INNEN. IN DER ORIGINAL-FASSUNG DER WINTERREISE FÜR HOHE STIMME GIBT ES ZWAR EIN PAAR LIEDER, DIE MAL IN DIESER, MAL IN JENER TONART GESUNGEN WERDEN. EIN PAAR LIEDER STEHEN FÜR VIELE ABER GANZ IKONISCH IN EINER GANZ BESTIMMTEN TONART. DAS D-MOLL DES ALLERERSTEN LIEDES GUTE NACHT ZUM BEISPIEL. DAS IST IRGENDWIE EIN LIEDGEWORDENES D-MOLL. UND MANCHMAL HAT ES EBEN EINE BEDEUTUNG, DASS DAS EINE LIED – WIE ERSTARRUNG – NOCH IN C-MOLL UND DAS NÄCHSTE – WIE DER LINDENBAUM – IN EINEM KRASS GEGENSÄTZLICHEN E-DUR STEHT. HABT IHR EUCH AN DEN ORIGINAL-TONARTEN DER LIEDER ORIENTIERT, WOLLTET IHR DAS UNBEDINGT AUFFANGEN – ODER GING ES EUCH DARUM GAR NICHT?

Schumacher: Bei mir war das gar nicht so. Ich bin da sehr undogmatisch. Wir hatten ja nie vor, einen ganz bestimmten Liedzyklus von Schubert zu arrangieren. Deshalb waren für uns auch die Tonarten-Zusammenhänge nicht so entscheidend. Wir sind da eher praktisch vorgegangen. Die Tonarten mussten einfach für Gisberts Stimme passen.

Beim Leiermann war es für mich wichtig, dass wir das Lied in a-Moll machen, wegen des doppelgriffigen Kontrabass-Intros. Damit das gut spielbar ist und gut klingt auf so einem tiefen Instrument.

Knyphausen: Beim Ständchen habe ich zum Beispiel gemerkt, dass das für mich in c-Moll besser passt als in der Originaltonart d-Moll.

DABEI FINDE ICH, DASS DU UNTER DEN DEUTSCHSPRACHIGEN SINGER-SONGWRITERN EHER DER ›TENOR‹ BIST…

Knyphausen: Auf jeden Fall. Wenn ich nicht so viel rauche, dann kann ich ganz schön hoch singen. [Lacht] Meine Stimme verändert sich natürlich auch. Wenn ich mir heute meine erste Platte anhöre… Da singe ich echt ganz anders als heute…

NUN HABT IHR GESTERN MIT DEM ERSTEN LIED DER WINTERREISE GUTE NACHT – ANGEFANGEN UND MIT DEM LETZTEN LIED DER WINTERREISE DER LEIERMANN – AUFGEHÖRT. WOLLTET IHR EUREN ABEND SO GESEHEN DOCH ALS EINE ART VON WINTERREISE GESTALTEN? EIN SINGER-SONGWRITER-KONZERT KANN JA EINE SEHR ÄHNLICHE KARTHATISCHE WIRKUNG HABEN WIE EIN WINTERREISE-LIEDERABEND…

Knyphausen: Ja, total! Vor allem bei meinen Konzerten… [Lacht] Das ist ja auch immer sehr melancholisch… Wir gehen da durch viele Gefühlsstadien und ich finde so etwas immer heilsam und schön, wenn man sich in so eine Trauer und Melancholie fallen lassen kann. Durch die Hilfe der Musik. Das bietet sich bei so einem Abend natürlich an, dass da zwei ›Melancholien‹ zusammenkommen…

Schumacher: Die Winterreise-Klammer mit dem ersten und letzten Lied war natürlich ganz bewusst so gesetzt. Der dramaturgische Gedanke dahinter war, gleich bei Gute Nacht die volle instrumentale Besetzung zu zeigen – und gleichzeitig bietet dieses Lied ja schon so etwas wie eine ›Zusammenfassung‹ oder einen Überblick über diese bestimmte Art von Musik bei Schubert… Der elegische Teil – und dann unser ›Krach-Teil‹ ganz am Ende… Damit wollten wir zeigen, in welche Richtung sich der Abend entwickeln könnte.

EIN WENIG MUSSTE ICH GESTERN ABEND ÜBRIGENS AN HANS ZENDERS EIGENE VERSION DER WINTERREISE DENKEN, DIE ER 1993 BEWUSST ›EINE KOMPONIERTE INTERPRETATION‹ GENANNT HAT…

Knyphausen: Kenne ich noch gar nicht…

…ZENDER HAT SOZUSAGEN KOMPONIERT, WAS ER SELBER GANZ INDIVIDUELL HÖRT, WENN ES ZUM BEISPIEL UM DIE HUNDE MIT IHREN RASSELNDEN KETTEN IN DEM LIED IM DORFE GEHT. DAS RASSELT DANN HALT WIRKLICH, MIT KNARZGERÄUSCHEN IN DEN STREICHERN UND SO WEITER… INWIEFERN HABT IHR EINE ›KOMPONIERTE INTERPRETATION‹ GELIEFERT, ALSO BEISPIELSWEISE IN DAS EIN ODER ANDERE LIED MEHR REINGEGEBEN ALS VIELLEICHT TEXTLICH DRINSTECKT?

Schumacher: Ich habe bei meinen Arrangements schon ein bisschen geschaut, dass die Lieder auf gewisse Weise eine Poplied-Struktur bekommen. Beim Leiermann habe ich einen Mini-Refrain eingebaut, den es im Original gar nicht gibt. Da fehlte mir bei Schubert ein ›Ausbruch‹. Und so steckt da für mich eine eigene kompositorische Idee drin. Bei Nähe des Geliebten hat Gisbert irgendwann die Idee gehabt, ein paar Latin-Elemente einzumischen. Dadurch bekommt der Song natürlich eine ganz andere Wendung. Und bei Der Doppelgänger hat mich die Version des Bass-Posaunisten Dave Taylor schon immer fasziniert. Taylors Idee hat mich fast mehr geprägt als das Original von Schubert. Diese Tiefe der Bass-Posaune, dieses Chaos, das bei ihm entsteht… Für mich ist bei Arrangements der Notentext sowieso nicht so wichtig.

Knyphausen: Ich habe mir zum Beispiel den Typen in Der Doppelgänger wirklich sehr wirr und abgedreht vorgestellt. Deshalb wollte ich am Ende des Arrangements auch unbedingt so krass werden, dass diese Verzweiflung richtig spürbar wird. Dass der Protagonist in dem Lied nicht einfach nur depressiv an der Hauswand lehnt, sondern wie ein Irrer draußen auf der Straße rumkrakeelt.

DAS IST JA AUCH VOM INHALT EIN EIGENTLICH SEHR UNANGENEHMES LIED. DA HAT JEMAND NICHT NUR SEINE LIEBSTE VERLOREN, SONDERN STEHT VOR DEM HAUS, IN DEM SIE EXPLIZIT NICHT MEHR WOHNT. ›JETZT BIN ICH HIER – UND ICH HABE VERDAMMT NOCHMAL KEINE LUST, HIER ZU SEIN! UND: OH, SCHAU MAL, DA DRÜBEN STEHT JEMAND, DER SIEHT GENAUSO AUS, WIE ICH! HUCH, DAS BIN JA ICH!‹ WIE SEID IHR UM DIESE LIEDER HERUM AUF DIE LIEDER GEKOMMEN, DIE AUS GISBERTS EIGENER FEDER STAMMEN? WAR ES VON ANFANG AN MITGEDACHT, DASS ES AUCH EIGENE SONGS GEBEN WIRD?

Knyphausen: Ja, die Gegenüberstellung war von Anfang an geplant.

Schumacher: Genau. Gleich der Anfang. Nach Gute Nacht kommt Ihr Bild – und dann Gisberts Herzlichen Glückwunsch… Sozusagen als Gisberts Blick auf das, was man gerade verloren hat; analog zu Schuberts Liebesverlust in Ihr Bild. Dabei fand ich es besonders spannend, die Schubert-Lieder möglichst ähnlich zur Ästhetik von Gisbert zu arrangieren. So, dass man im Optimalfall gar nicht erkennt, welches Lied von wem ist.

MAN HÄTTE DANN DIE PROGRAMMHEFTE VIELLEICHT NACHHER ERST AUSTEILEN KÖNNEN…

Knyphausen: Das ist eine gute Idee, aber darüber hatte ich gar nicht nachgedacht. Ich dachte, in einem Konzert an einem Ort, an dem hauptsächlich Klassik gespielt wird, muss ein Programmheft ausliegen.

GISBERT, in Deinem Lied HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH HEISST ES: ›HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, DU HAST ALLES VERLOREN. AUS DEM STAUB DEINER TRÜMMER WIRD DIE ZUKUNFT GEBOREN.‹ BEI SCHUBERT GIBT ES DIESE ›ZUKUNFT‹ BEISPIELSWEISE IN DER WINTERREISE ÜBERHAUPT NICHT. DEINe LIEDER SIND VIEL HOFFNUNGSVOLLER ALS DIE VON SCHUBERT, TROTZ ALLER BEIDSEITIGEN MELANCHOLIE…

Knyphausen: Das stimmt. In der Winterreise ist das nicht zu finden. Es ist wirklich so trostlos! [Lacht]

Schumacher: [An Knyphausen gerichtet] Da sind deine Lieder fast schon Stimmungsaufheller…

Knyphausen: Wir mussten tatsächlich aufpassen, dass nicht alles zu düster wird. Ich hatte das Gefühl, dass das Ständchen an dieser Stelle als etwas kitschiges Lied ganz wichtig war.

Schumacher: Bei Schubert-Stücken funktionieren aber auch einfach die Lieder in Moll besonders gut.

Knyphausen: Die machen auch mehr Spaß zu singen! Das habe ich gestern auch wieder gemerkt, dass das Ständchen eine Romanze bleibt!

Schumacher: Dieses Lied hat ja schon so viel Ironie in sich vereint…

Knyphausen: Mir hat es richtig Bock gemacht, das zu singen!

BEI NÄHE DES GELIEBTEN HAT EUER KONZEPT DER TEIL-IRONISIERUNG FÜR MICH BESONDERS GUT FUNKTIONIERT. SCHON ALLEIN DIE LATEINAMERIKANISCHE GITARREN-EINLEITUNG NAHM HALT ERST EINMAL SO WOHLTUEND ABSTAND VON DEM LIED AN SICH…

Knyphausen: Diese Art der Gitarrenbegleitung benutze ich für viele meiner eigenen Lieder! Dann klingt es gleich nach so einem ›Gisbert-Lied‹. [Lacht] Ich fand witzig, dass das so mit Schubert funktioniert.

NOCHMAL ZURÜCK ZUR VERBINDUNG DES LIEDES HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH UND DEN SCHUBERT-LIEDERN RINGSHERUM. SCHUBERT HATTE EINEN SEHR TREUEN FREUNDESKREIS, DER REIN AUS MÄNNERN BESTAND: DEr DICHTER JOHANN MAYRHOFER, DEr SÄNGER JOHANN MICHAEL VOGL, DEr MALER LEOPOLD KUPELWIESER UND SO WEITER. DIE SASSEN DA IM SALON, SCHUBERT SPIELTE KLAVIER, VOGL SANG ABENDS DIE LIED-ERGÜSSE DES NACHMITTAGS, MAN RAUCHTE, MAN TRANK – UND GING ANSCHLIESSEND VIELLEICHT NOCH INS BORDELL, WO SCHUBERT SICH IRGENDWANN DIE SYPHILIS EINFING. ICH GLAUBE NICHT, DASS DA BEI JEDEM ›HOFFNUNGSLOSEN‹ LIED GEMEINSAM GEWEINT WURDE. ICH GLAUBE, DA WURDE SICH KRÄFTIG AUF DIE SCHENKEL GEKLOPFT, WENN ES – ABSICHTLICH? – ZU DÜSTER WURDE. WAS GLAUBT IHR? WIE GING DAS DAMALS AB?

Schumacher: Für mich ist Schubert der Urtyp des Singer-Songwriters. Der kleine, etwas traurige Mensch sitzt da am Klavier, singt vielleicht auch einmal ganz alleine seine Lieder, wenn Vogl nicht da ist. Viele in Wien denken: ›Den müsste man mal eigentlich hören. Der ist spannend!‹ – doch Schubert gerät immer wieder aus dem Blickfeld der wichtigen Leute in Wien. Gleichzeitig ist er für mich der Prototyp des Künstlers, der ganz bewusst freischaffend sein möchte. Der einfach nur für sich und seine Lieder da ist und keine Lust auf Zwänge und Konventionen hatte. Dieser verrauchte Salon… Für mich hat Schubert überhaupt nichts Verkünsteltes an sich, sondern etwas sehr Kommunikatives! Das war für mich auch immer das Problem bei Kunstgesang: Ich schalte nach zwei Liedern ab, weil mir diese artifizielle Barriere so auf die Nerven geht. Ich komme nicht in die Texte rein. Der Sänger ist für mich häufig nur ein Schauspieler, der etwas verkörpert, der aber nicht aus vollem Herzen das singt, was er auch spürt, sondern der versucht, in der Rezeption des Publikums perfekt zu intonieren und so weiter. Das hat mich immer so gestört!

DIE DISTANZ KOMMT NATÜRLICH AUCH DURCH DEN 200 JAHRE ALTEN TEXT ZUSTANDE. IN GUTE NACHT HEISST ES: ›DAS MÄDCHEN SPRACH VON LIEBE, DIE MUTTER GAR VON EH’!‹ AUF DIE EHE GIBT HEUTE KAUM NOCH EINER ETWAS … WIE BIST DU DENN AUF DIESE FREMDHEIT ZUGEGANGEN, ALS ES HIESS, DU WIRST DERARTIGE TEXTE SINGEN, GISBERT?

Knyphausen: Da gab es so einige Stellen… Einige Formulierungen würde ich natürlich nie benutzen, wie ›Fein Liebchen‹. [Zögert] Da war ich zuerst unsicher, ob ich das nicht alles komplett umschreiben müsste, dass es in meine Zeit passt. Aber irgendwie habe ich mich da reingesungen. Beim Arrangieren hatte ich das Gefühl: Ach, ist doch egal! Ich versuche das jetzt einfach so zu singen, als ob es ganz normal wäre, dass ich darüber nachdenke, dass ich mich eigentlich verheiraten wollte – und dass es dann halt nicht geklappt hat…

MICH HABEN DIESE MOMENTE DER VERMEINTLICHEN FREMDHEIT IN DER ART DEINES GESANGS DANN GANZ BESONDERS BERÜHRT. ICH HABE DA ÜBERHAUPT KEINE ENTFREMDUNG GESPÜRT. EHER IM GEGENTEIL…

Knyphausen: Dieser dröhnige Sound, den wir benutzt haben, den Ausbruch, den wir dazukomponiert haben… Das war mir sehr wichtig. Über unsere poppigen Arrangements und durch die kontrastierenden Krach-Teile funktionierte der Text dann auch plötzlich ganz anders. Da musste ich dann ein bisschen an Nick Cave denken… Der nimmt manchmal Posen voller biblischer Bilder ein, die für sich genommen eigentlich total komisch wirken. Aber in der Art der Performance überzeugt mich das.

DIE AUSBRÜCHE, DIE EUCH BEI SCHUBERT FEHLEN, DIE GIBT ES JA IN DEN LIEDERN VON ROBERT SCHUMANN UND HUGO WOLF TOTAL. IN WOLFS LIED WIE LANGE SCHON WAR IMMER MEIN VERLANGEN AUS DEM ITALIENISCHEN LIEDERBUCH SINGT EINE FRAU, DASS SIE GERNE EINEN MUSIKER ALS MANN HÄTTE. DANN TRITT TATSÄCHLICH EIN GEIGER AUF UND SPIELT IHR ETWAS AUF DER VIOLINE VOR. UND ERST IM KLAVIERNACHSPIEL – DIE SÄNGERIN HAT LÄNGST AUFGEHÖRT ZU SINGEN! – MERKT MAN: DIESER TYP IST EIN TOTALER BLENDER, DER KANN ÜBERHAUPT NICHT RICHTIG GEIGE SPIELEN!

Schumacher: Vor zwei Wochen sind wir zusammen bei einem Festival aufgetreten – unter anderem gab es Gisberts Song Hey. Da merkst du bei dem plötzlichen Einbruch nach dieser total braven Einleitung auch: Dieses ›Hey, alles ist okay!‹ in Gisberts Text ist nämlich ganz und gar nicht okay! Das funktioniert total ähnlich wie in dem von dir geschilderten Wolf-Lied! Manche Lieder sagen nur durch den instrumentalen Part, was sie eigentlich sagen wollen. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.