Tímea Junghaus ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Aktivistin. 2007 kuratierte sie auf der Biennale in Venedig den Pavillon »Paradise lost«, in dem 16 Sinti:ze und Rom:nja aus acht Ländern ihre Kunstwerke ausstellten. Heute leitet sie unter anderem das European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC) in Berlin, das seit 2017 das einzigartige Mandat hat, als transnationale, europäische Organisation für die Anerkennung der Kunst und Kultur der Sinti und Roma zu agieren, und die Sektion Bildende Kunst für RomArchive, einem digitalen Archiv für Kunst von Sinti:ze und Rom:nja aus sämtlichen Sparten. Zusammen mit Shelly Kupferberg kuratierte Junghaus auf Einladung der Volksbühne das Festival »Diaspora Europa« über zeitgenössische Perspektiven von Rom:nja, Sinti:ze und Jüd:innen in Tanz, Schauspiel, Konzert, Videoclips und Gesprächsformaten. Am Telefon sprach ich mit Tímea Junghaus über Selbstbestimmung und die Darstellung von Sinti:ze und Rom:nja in der Kunstgeschichte, wichtige Berliner Orte und das »Diaspora-Gefühl«.
VAN: Von Ihrer Ausbildung her sind Sie ja vor allem Spezialistin für Bildende Kunst. Können Sie einen kleinen Überblick geben, wie Sinti:ze und Rom:nja in der Kunstgeschichte präsentiert wurden oder sich selbst repräsentiert haben?
Sinti:zze und Rom:nja können wir als ›Objekte‹ in der Bildenden Kunst ab dem späten 15. Jahrhundert finden. Schon damals wurden Sinti:zze und Rom:nja als exotisch präsentiert, als Außenseiter:innen, als nicht christlich, als Reisende, die vor den Stadttoren auf Einlass warten. Die Selbstbestimmung von Sinti und Roma in der Kunst beginnt dann eigentlich erst in den späten 1960er Jahren. Damals forderten Sinti:ze und Rom:nja, als Autor:innen und Urheber:innen anerkannt zu werden. Das klingt aus heutiger Sicht nicht so weltbewegend und natürlich gab es auch schon vorher Sinti:ze und Rom:nja, die Künstler:innen waren. Aber bis zu diesem Zeitpunkt wurde alles, was Sinti und Roma im Bereich der Kunst geschaffen hatten, nur unter dem Namen der Ethnolog:innen oder Sammler:innen bewahrt, ausgestellt und aufgeführt. Beim ersten World Roma Congress 1971 vor 50 Jahren in London war darum auch eine der zentralen Forderungen, die Autor:innenschaft der Künstler:innen anzuerkennen.
Heute denken viele, dass auch das ERIAC in den 1960ern gegründet wurde – das war aber erst 2017 der Fall, nach leidenschaftlichem Engagement der Alliance for the Roma Institute, einem Zusammenschluss von intellektuellen Sinti:ze und Rom:nja. Unsere Bewegung hatte schon lange dieses Ziel: einen Raum. Wir haben viele Websites, Texte, Netzwerke, aber nur wenig wirkliche offizielle Räume, mit Dach und Türen und Fenstern. Die sind aber wichtig für die kulturelle Anerkennung und Selbstbestimmung, weil das die Orte sind, an denen wir zusammenkommen.
Auch in vielen musikalischen Genres gibt es diese Klischee-Darstellungen von Sinti:ze und Rom:nja. Wie sollten Kurator:innen damit umgehen?
Es gab jetzt lange diese Form von Diversität, die nicht selbstreflektiert oder inklusiv ist. Bei vielen Festivals, die sich selbst europäisch nennen und divers und bunt, werden zum Beispiel Minderheiten nicht repräsentiert, ohne die man aber kein Bild von Europa erschaffen kann.
Und bezüglich der Darstellung der Stereotype braucht es einen Dialog und mehr Selbstreflektion. Nehmen wir mal das Klischee des noch immer sogenannten ›Gipsy Punk‹. Heute rasten dazu alle aus, eine riesen Party. Ich kann mir vorstellen, dass das noch zwei Jahre so weitergeht und dann wird es still. Vielleicht müssen dann Kulturwissenschaftler:innen die Bühne übernehmen und zum Thema machen, dass wir mittlerweile mehr wissen über Ungleichheit, Unterdrückung, koloniale Praktiken und dass das zu dem Punkt führt, an dem man sich fragt: Will ich dazu tanzen? Aber vielleicht bin ich auch zu radikal. Vielleicht ist es einfach eine Industrie und das verkauft sich eben gut.
Gut verkaufen sich auch die Werke von Bartók, Liszts und Kodaly mit Anklängen an die Musik von Sinti:ze und Rom:nja, zum Beispiel in Liszts Ungarischer Rapsody No 2. Alle drei Komponisten äußern sich bei aller Bewunderung für die Virtuosität der Musiker:innen und Komponist:innen, bei denen sie die Klänge abgelauscht haben, abfällig über sie als Menschen oder ihre Kunst (wie auf RomArchive nachzulesen ist).
Die Musikgeschichte ist – wie die Geschichte der Bildenden Kunst – voll von diesen Werken, die beweisen, dass Sinti:zze und Rom:nja schon lange hier sind und ihren Teil zur Kultur beigetragen haben durch ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, ihr Talent. Auch in der Literatur wurden unzählige Charaktere durch Sinti:ze und Rom:nja inspiriert, in allen möglichen europäischen Ländern. Wir brauchen dahingehend noch mehr Forschung, um zu sehen, was Sinti:ze und Rom:nja mit Blick auf Europa alles geleistet haben.
Sie haben eben erzählt, dass Sinti:ze und Rom:nja in der Bildenden Kunst lange als exotisch, anders markiert und als Außenseiter:innen zum Objekt gemacht wurden. Diese Beschreibung passt ziemlich gut auf die Oper Carmen von Bizet. Wie kann man die heute auf die Bühne bringen?
Das ist ein sehr konfliktreiches und schwieriges Erbe. Eine Art, wie wir den Kampf gegen diese Stereotype, die Sexualisierung, Kriminalisierung und generelle Objektivierung angehen können, ist die Zusammenarbeit mit Künstler:innen, die in Dialog mit dieser Problematik gehen. Da gibt es verschiedene Strategien: durch die Darstellung einer Gegenkultur, durch feministische Bündnisse, durch Heilungsprozesse, durch einen kritischen Ansatz, indem man die Vorurteile aufdeckt … Es gibt im Bereich der Performance, in der Musik, im Theater und der Bildenden Kunst viele Künstler:innen, die sowas machen.
Um nur einige zu nennen, würde ich im Bereich Theater die Ensemblemitglieder der Roma Armee erwähnen; im Bereich bildende Kunst die Künstler:innen Selma Selman und Emília Rigová und die Kurator:innen und Künstler:innen Delaine Le Bas und Daniel Baker; im Bereich Musik die Flamencomusiker Dorantes und El Cigala, sowie der Gitarristen Ferenc Snétberger. Insbesondere dieses letzte Beispiel und das von der Volksbühne kuratierte Programm für Diaspora Europa zeugen von einer gegenwärtigen Bemühung in dieser Hinsicht.
Als ERIAC ist unser Ziel sehr klar: diese Stereotype nicht zu reproduzieren und stattdessen über den Antiziganismus in den Medien und der Öffentlichkeit aufzuklären und gegen ihn zu kämpfen.
Auf der Opernbühne kann ich mir noch vorstellen, wie man das durch die Inszenierung umsetzen kann. Aber wie mache ich das bei einem Konzert, bei dem ich ›einfach nur‹ Lizsts Ungarische Rapsody No. 2 spielen will?
Man könnte die Musik auch kombinieren mit Werken zum Beispiel von Sinti:ze oder Rom:nja, die durch den Holocaust zunächst verloren waren. Dazu wird aktuell geforscht. Vielleicht könnte man dem Historischen auch etwas Zeitgenössisches gegenüberstellen. Das Konzert müsste die Repräsentation von Sinti:ze und Rom:nja in der Musik irgendwie zum Thema machen. Diese romantischen Stücke ›einfach‹ nochmal zu spielen, verändert nichts an der Sichtweise.
Der Holocaust an den europäischen Sinti und Roma wurde von der BRD erst 1982 anerkannt. Seit 2012 gibt es jetzt in Berlin ein ›Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas‹. Wie finden Sie das?
Die BRD hat den Holocaust an 500.000 Sinti:zze und Rom:nja 1982 nicht etwa anerkannt, weil man sich da kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt hatte, sondern weil Romani Rose, der aktuelle Leiter des ›Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma‹, zusammen mit anderen durch einen Hungerstreik vor der Gedenkstätte in Dachau sehr medienwirksam auf die Notwendigkeit aufmerksam machte, den Holocaust an Sinti:ze und Rom:nja als Völkermord anzuerkennen. Diese Anerkennung hätte es nicht gegeben, wenn wir sie nicht gefordert hätten, wenn wir nicht in Opposition zu den Mainstream-Diskursen gegangen wären und auf die Wunden und Narben der Überlebenden aufmerksam gemacht hätten.
Beim Denkmal ist das Muster dasselbe. Das Heidelberger Dokumentationszentrum und andere Opferverbände und Aktivist:innen entwickelten die Idee. Der Grundstein wurde 1991 gelegt. Dann gab es einen unglaublich langen Prozess und als es 2012 noch immer nicht fertig war eine Protestaktion von wichtigen Sinti:ze und Rom:njaja, die die Baustelle eingeweiht haben, kann man sagen. Und dann wurde das Mahnmal Ende 2012 fertiggestellt. Dazu hat es also vereinte Kräfte gebraucht.
Und letztes Jahr wollte die Deutsche Bahn das Mahnmal dann wieder abbauen, um dort eine S-Bahn-Station zu bauen.
Ein Mahnmal setzt man nicht einfach irgendwo hin und dann steht es da, neu und glänzend und man trifft sich einmal dort und fertig. Der Prozess des Gedenkens endet da ja nicht. Sinti:ze- und Rom:nja-Gruppen aus der ganzen Welt reisen zu diesem Mahnmal, um ihren Verlust zu betrauern und an den Völkermord zu erinnern. Wenn man bedenkt, dass das Gedenken sehr an diesen Ort gebunden ist, kommt es fast einer Entweihung gleich zu sagen: ›Ok, jetzt bauen wir hier eine S-Bahn-Station hin.‹ Wir brauchen diesen Ort.
Andererseits sind die Dinge in der öffentlichen Verwaltung auch nicht nur schwarz und weiß: Die Deutsche Bahn hat diesen Bau vermutlich lange bevor das Mahnmal eingerichtet wurde geplant und haben dann einfach alles nach Plan gemacht. Der Protest der Zivilgesellschaft hat aber ein Umdenken bei den Behörden ausgelöst, sodass das Denkmal jetzt bleibt, wo es ist.
Jetzt haben wir relativ viel über Deutschland und deutsche Geschichte gesprochen, beim Festival an der Volksbühne geht es aber ja explizit um Europa. Können Sie einen kurzen Überblick geben über die Situation der europäischen Sinti:ze und Rom:nja oder ist das unmöglich?
Vorweg muss ich sagen: Das ist jetzt mein sehr subjektiver Blick, aber ich bin natürlich Teil der Bewegung und viel im Austausch mit anderen Institutionen. Und: Es gibt 12 Millionen Sinti:zze und Rom:nja in Europa, wir sind die größte Minderheit. Die 600 Jahre der Geschichte von Sinti:ze und Rom:nja werden nicht anerkannt, aber die Ignoranz ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich schlimm. Auch die Situation der Gruppen unterscheidet sich sehr von Land zu Land. In Ost- und Westeuropa, wo viele Sinti:ze und Rom:nja leben, befinden sich 70% dieser Menschen unter der Armutsgrenze. Sie werden finanziell benachteiligt und sind auch von der Pandemie hart getroffen, werden von den Medien durch Fake News zum Teil zu Sündenböcken gemacht und das treibt die Spannungen zwischen den Roma Communities und der Mehrheitsbevölkerung in manchen Regionen noch an. Es gibt auch Regierungen wie die in Ungarn und Polen (die von anderen demokratischen Regierungen als nicht demokratisch eingestuft werden), die die Partizipation und Anerkennung von Minderheiten nicht sicherstellen und stattdessen in diesen Ländern unmenschliche Lebensbedingungen für Sinti:ze und Rom:nja noch fördern. Ähnlich sieht es in Tschechien und der Slowakei aus, wo die Zwangssterilisation von Romafrauen immer noch Thema ist und die Roma-Communities immer noch abgetrennt hinter Mauern leben müssen … Diese beiden Länder sind allerdings nicht in dem Sinne undemokratisch.
Deutsche Sinti:zze und Rom:nja sind im Vergleich dazu privilegiert, auch im Vergleich zu Sinti:ze und Rom:nja, die neu nach Deutschland kommen. Ich finde es extrem wichtig, dass diejenigen von uns, die sich in privilegierten Positionen befinden, sich auch verantwortlich fühlen für andere Sinti:ze und Rom:nja. Denn wir sind nur die größte Minderheit, die lauteste Stimme, wenn wir zusammenhalten.
Ich habe mich beim Blick auf das Festivalplakat für einen kurzen Moment über den Ausdruck ›Diaspora Europa‹ gewundert. Der stand quer zu meiner Erwartung, dass es darum geht, Sinti:zze und Rom:nja und jüdisches Leben als integralen Bestandteil Europas und seiner Kultur anzuerkennen.
Diaspora verstehen wir nicht in diesem ursprünglichen Sinne als das Verlassen eines Heimatlandes. Wie auch die Politikwissenschaft und die Diaspora-Theorie verstehen wir Diaspora als Identitätsdiskurse, die auch kreativ arbeiten, die Verbundenheit zeigen und die Identifikation mit einem Zustand der ständigen Adaption, Neuausrichtung, Selbstfindung und Neuerfindung – und der Zugehörigkeit. Für uns Sinti:ze und Rom:nja ist es sehr wichtig, diese gemeinsame Zugehörigkeit zu betonen. Wo auch immer wir herkommen – dieses ›Heimatland‹ ist vergangen und unwichtig. Aber unsere Zusammengehörigkeit steht außer Frage.
Und wenn man jetzt das Festival Diaspora Europa anguckt: Dass die Volksbühne zwei große Minderheiten einlädt, um Europa zu beschreiben, führt zu dieser Art Spiel, herauszufinden, was Europa heute bedeutet. Europa stellt sich für verschiedenen Communities völlig unterschiedlich dar. Die Art, wie Europa gesehen, diskutiert und mit anderem in Beziehung gesetzt wird, ist völlig unterschiedlich – aber wir können es uns als unsere einzige Zugehörigkeit vorstellen. Sowohl für die jüdische als auch für die Gemeinschaft der Sinti:ze und Rom:nja ist unser Diaspora-Dasein ein Raum, der für all diejenigen verständlich und inspirierend ist, die sich wünschen, an ihm teilzuhaben und sich engagieren wollen. Und das können wir Europa geben, dieses Diaspora-Gefühl der Zugehörigkeit und des Raums, in dem wir uns gegenseitig inspirieren. ¶