Runde Zahlen, mit Bezug auf das Jahr der Geburt oder das Todesjahr von Komponisten wirken manchmal ziemlich zufällig, als Rechtfertigung für Musik, die sowieso ins Programm gekommen wäre. Nicht so die 450. Wiederkehr von Monteverdis Geburtstag. Seine Opern sind wichtige, universelle Signale dafür, dass wir Menschen schon immer die selben Mühen und Kämpfe hatten, dass wir vieles schon einmal erlebt haben: Die Zahl 450 rückt die Dinge irgendwie in die richtige Perspektive. Der Dirigent John Eliot Gardiner, sein Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists werden zu diesem Anlass mit Monteverdis drei Opern, seinen Vespern und Madrigalen und Musik von anderen Komponisten auf Tour gehen, nächstes Jahr von April bis Oktober. Ich sprach mit ihm per Telefon, er war zuhause in North Dorset (England).

VAN: In Monteverdis Oper L’incoronazione di Poppea sagt der Philosoph Seneca zu Kaiser Nero: »Ungerechte Taten offenbaren einen Mangel an Selbstvertrauen«. Der Kaiser antwortet: »Es ist immer derjenige am gerechtesten, der am meisten Macht auf sich vereint.« Wie ist es für Sie, dieses Stück im aktuellen politischen Klima aufzuführen?

John Eliot Gardiner: (lacht) Die Entscheidung, die Poppea aufzuführen war nicht motiviert von Trump oder anderen katastrophalen Ereignissen der letzten Monate. Aber jetzt, da Sie das Thema erwähnen, passt es auf eine merkwürdige Weise natürlich schon zu dem, was gerade in der Welt passiert: die Unsicherheit und das Potenzial für katastrophale Veränderungen um uns herum. Es ist sehr beunruhigend.

Werden Bedenken um die Zukunft einen Einfluss haben auf das Musizieren in Ihrer Version der Poppea?

Nein. Es tut mir leid, aber wir sollten Musik und Politik getrennt betrachten. Wir Musiker haben sehr wenig politischen Einfluss oder sogar Macht. Alles, was wir tun können, ist Menschen aus ihren alltäglichen Sorgen und Gedanken herauszuholen; oder, etwa in der Oper oder mit geistlicher Musik und insbesondere Bach, ihnen eine Form von Trost zu spenden in einer an sich gottverlassenen Welt.

Nächstes Jahr werden Sie sehr viel Monteverdi machen. Wenn man sich so sehr in das Werk eines einzigen Komponisten vertieft, wie hält man sich dessen Musik interessant? Denken Sie manchmal: »Nicht schon wieder ein Quartvorhalt …«?

Das kommt ganz auf die Qualität des Komponisten an. Ich hatte zum Beispiel überhaupt keine Schwierigkeiten damit, mich im Jahr 2000 in einer Art Isolationshaft ganz auf J.S. Bach zu beschränken. Die Bandbreite seiner Kunst, seine Erfindungsgabe und seine kreativen Reaktionen auf die verschiedensten Stimuli sind praktisch grenzenlos. So ist man nie, auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, frustriert und erst recht nicht gelangweilt.

Mit Monteverdi nächstes Jahr sieht es etwas anders aus – zwischen den drei Opern werde ich auch andere Sachen machen: Berlioz, Bach, Beethoven. Es ist also dieses Mal keine Isolationshaft für ein Jahr. Es wäre mir aber durchaus Recht, wenn es so wäre. Monteverdi ist auch ein Komponist von einer immensen Bandbreite – vor allem, was das emotionale Erforschen der menschlichen Verfassung angeht. Er ist meines Erachtens der erste Komponist, der den Menschen, Männer, Frauen und ihre Emotionen, ins Zentrum einer ganzen musikalischen Philosophie nimmt. Das ist unwahrscheinlich mitreißend.

Als Sie mitten in ihrer Pilgerreise zu Bach steckten – wollten Sie an irgendeinem Punkt wieder zurück an den Anfang und von neuem beginnen?

Oh ja, das wollte ich tatsächlich! (Lacht) Besonders, als wir im Laufe des Jahres in finanzielle Schwierigkeiten gerieten und bei einigen Dingen zurückstecken mussten – einige der Solisten, die ich unter normalen Umständen gerne besetzt hätte, waren dann nicht mehr im Budget.

Andere Bedenken waren zeitlicher Art – diese waren am Ende wohl noch entscheidender als das Budget. Wir sind den Patterns von Bachs kreativem Output und dem – unerbittlichen – protestantischen Kirchenjahr gefolgt. Darin gibt es nur zwei kleine Lücken, tempus clausum genannt, die keine Musik erlauben: der Advent und die Fastenzeit. Außerhalb davon war es erbarmungslos. Jede Woche bereitet man drei, manchmal vier neue Kantaten vor. Und wenn sich Feiertage ballten, etwa zu Ostern, Weihnachten oder Pfingsten, waren es noch mehr. Man macht dann drei oder vier Programme pro Woche. Und die Zeit, beziehungsweise deren Mangel, ist gegen einen – obwohl man die Stücke gut studiert und vorbereitet hat. Es war alles sehr authentisch, weil es auf eine Art genau die Situation war, in der Bach war. Er hatte dazu noch das Problem, die Musik zu komponieren und musste sie dann noch proben und aufführen.

Wie war das auf musikalischer Ebene: Gab es bestimmte Details der Interpretation wie Artikulation oder Phrasierung, bei der Sie sich später wünschten, sie von Anfang an anders gemacht zu haben?

Nein, ich glaube nicht. Ich und die verschiedenen Gruppen von Musiker/innen, mit denen ich gearbeitet habe, haben es von Anbeginn an mit den Herausforderungen der Musik, der Artikulation, der Phrasierung, mit dem Beziffern der Bassstimmen aufgenommen. Ich würde aber behaupten, dass wir im Laufe der Zeit eine gewisse Entspanntheit und Vertrautheit mit den musikalischen Idiomen entwickelten, die es uns gegen Ende des Projekts einfacher machten.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Als wir gegen Ende unserer Kantatenpilgerreise in New York waren, haben wir die Kantate 190 Singet dem Herrn ein neues Lied gemacht, bei der einiges an Instrumentierung und Bassbezifferung fehlt. Wenn das Stück am Anfang des Jahres gewesen wäre, hätte uns das wohl etwas eingeschüchtert. Aber in diesem Stadium konnten die beiden Continuospieler ziemlich schnell herausfinden, was es für die Generalbassstimme gebraucht hat. Und ich konnte mich in kurzer Zeit um die Instrumentierung kümmern. Ich will nicht behaupten, dass wir die richtigen Lösungen gefunden haben, aber wir haben sicherlich Lösungen gefunden, mit denen man arbeiten konnte.

In einem Interview mit VAN hat Reinhard Goebel gesagt: »Sie können mich nicht überzeugen, dass es für einen Musiker in Ordnung ist, von Monteverdi zu Mozarts letzter Sinfonie und dann direkt zur Symphonie fantastique zu gehen.« Er meint, dass man, um ein bestimmtes musikalisches Idiom überzeugend zu spielen, so vertieft darin sein muss, dass keine Zeit dafür bleibt, sich anderen Idiomen zu widmen. Sie haben alle von ihm erwähnten Werke aufgeführt und viele mehr – wie denken Sie darüber?

Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Ich denke, es obliegt allen Musiker/innen, anpassungsfähig und flexibel zu sein und sich verschiedenen Idiomen zu widmen und ihnen dabei allen gerecht zu werden. Das ist ein Teil der Faszination unseres Jobs. Wenn sich jemand auf ein einziges Idiom beschränkt, dann erliegt er der Gefahr, die Sie vorhin erwähnt haben: Es wird sehr schnell ermüdend und langweilig.

Ich will hier nicht für andere sprechen, aber ich empfinde es als sehr erfrischend, wenn ganz verschiedene Stile, Genres, Idiome und musikalische Apparate gegenübergestellt werden. Ich finde es ungeheuer stimulierend mit meiner eigenen Gruppe an Monteverdis Madrigalen oder Opern zu arbeiten und dann mit dem London Symphony Orchestra oder dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an Schumann, Brahms oder Mendelssohn.

Ich denke, das, was Reinhard sagen wollte, ist, dass wir niemals genug wissen können über den Stil, an dem wir gerade arbeiten und dass immer die Gefahr besteht oberflächlich zu werden. Da macht er einen wichtigen Punkt. Aber ich denke nicht, dass das ein Verbot bedeuten sollte, sich mehr als einem Stil zu widmen.

YouTube video

Sie haben ein Buch geschrieben, Bach: Musik für die Himmelsburg. Würden Sie auch ein Buch über Monteverdi schreiben? Besitzt er denselben Reiz als literarisches Subjekt?

Ja. Ob ich das erreichen könnte, ist eine andere Sache. Der Wunsch ist sicherlich da. Aber es hat zehn Jahre gedauert, das Buch über Bach zu schreiben.

Es gibt viel mehr biographische Informationen über Monteverdi als über Bach. Das ist eine ermutigende Tatsache – wir haben nämlich Monteverdis Briefe. Es gibt so wenige Briefe von Bach, die auf irgendeine Weise persönlich sind. Monteverdis Briefe sind aber voller persönlicher und autobiographischer Details – was ziemlich faszinierend ist.

Was ist Ihre Rolle im Bach-Archiv Leipzig?

Ich bin ein Schirmherr und eine Art Vermittler. Ich bin nicht involviert in den Tagesbetrieb des Bach Archivs, wie es mein Vorgänger Christoph Wolff war. Er war ein Vollzeitakademiker, der, obwohl er in Harvard unterrichtet hat, jedes Jahr mehrere Monate in Leipzig verbracht hat. Ich habe von Anfang an klargestellt, dass ich niemals diese Rolle ausfüllen könnte oder auf irgendeine Weise in seine Fußstapfen treten könnte. Nichtsdestotrotz wollen sie mich dort immer noch haben.

Vermittler – das klingt ein bisschen wie der Job des Dirigenten. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen Ihrer Arbeit im Archiv und ihrer Dirigententätigkeit?

Das Bach-Archiv hat mit Peter Wollny einen überaus versierten Direktor und es arbeiten eine ganze Reihe ausgezeichneter Musikwissenschaftler dort. Meine Rolle ist hier mehr, die Arbeit des Bach-Archivs mit dem Rest der Stadt zu verknüpfen, vor allem mit dem Thomanerchor. Es gab immer relativ wenig Kontakt zwischen dem Chor und dem Bach-Archiv. Seit der Ernennung von Gotthold Schwarz gibt es viel mehr Neugierde und Willen, sich der Forschung zu widmen, was ermutigend ist.

Das Bachfest wird vom Bach-Archiv aus organisiert. Da braucht es ziemlich viel diplomatische Verhandlungen mit den anderen Institutionen der Stadt, insbesondere mit dem Gewandhaus. Leipzig ist ein so unglaublich reiches Zentrum musikalischer Aktivität. Die Stadt hat einen Oberbürgermeister, dem die Musik am Herzen liegt und es gibt ein vernünftiges Budget für die Künste. Es reicht also eigentlich aus, die verschiedenen Institutionen zusammen in die gleiche Richtung zu lenken.

Betreiben die Musikwissenschaftler am Bach-Archiv Forschung, die für Sie als Musiker besonders interessant ist?

Mich interessiert insbesondere die schon seit vielen Jahren existierende Forschung zu Bachs eigener Familie und seinen Vorfahren, vor allem zu Johann Christoph Bach, dem Organisten in Eisenach. (Mehr dazu auch in unserem Gespräch mit dem Journalisten Volker Hagedorn, der über die Bachs vor J.S. Bach ein Buch geschrieben hat, d.Red.) Es wurden Manuskripte aus dem Altbachischen Archiv in Kiew, einige auch in Krakau gefunden, und zur Zeit werden andere in Österreich untersucht. Ich finde das fesselnd. Ich liebe es, Werke zu studieren und aufzuführen, die dank der Arbeit der Forscher ans Licht gekommen sind.

Ich habe vor einigen Jahren Aufnahmen gemacht von den Motetten von Johann Christoph Bach – das waren auch für sich gesehen überaus stimulierende Stücke, nicht nur als Vorläufer von Johann Sebastians Musik, sondern tatsächlich faszinierende Puzzleteile im Gesamtbild des frühen deutschen Barock und der Musik zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach.

Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass etwas historisch eigentlich sehr Interessantes entdeckt wurde, Sie aber beim Durchsehen des Stücks gedacht haben, dass die Musik doch gar nicht so gut ist?

Wenn die Musik mich als Musiker nicht stimuliert, dann ist es nicht wirklich genug, dass sie historisch bedeutsam ist. Das war sicher nicht so mit Johann Christoph Bach, weil er als Komponist eine so individuelle Stimme hat. Und ja, ich sehe natürlich in ihm so etwas wie die entscheidende Verbindung zwischen Monteverdi, Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach; aber für sich betrachtet hat er eine so klar zu identifizierende Stimme als Komponist von Begräbnismusik, Musik, die er in Zeiten von Sorge und Elend geschrieben hat. Er hat den letzten Teil des dreißigjährigen Krieges miterlebt, er hatte viele Probleme mit seiner Karriere, gesundheitliche Schwierigkeiten in seiner Familie, Konflikte mit der Obrigkeit – all das hat er sicher seinem Großcousin Johann Sebastian Bach mitgegeben. Es passiert uns sehr leicht, dass wir durch die zeitliche Distanz die Schwierigkeiten, mit denen diese Komponisten zu kämpfen hatte, aus den Augen zu verlieren. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.

3 Antworten auf “Nicht für den Bruchteil einer Sekunde“

Kommentare sind geschlossen.