»Patricia Kopatchinskaja klingt verzweifelt«, beobachtete Oliver Meier in seinem Porträt der Geigerin für VAN. Reicht es ihr jetzt endgültig? Das Konzert, das sie mit dem Mahler Chamber Orchestra beim Hamburger Musikfest und zwei Tage später im Berliner Radialsystem spielt, heißt ›Bye Bye Beethoven‹. Was steckt dahinter. Ich frage sie erst mal, ob sie eine halbe Stunde Zeit hat.

Patricia Kopatchinskaja: Eine halbe Stunde? Ich habe eigentlich nicht soviel zu sagen über dieses Projekt. Es ist eine Musikinstallation. Wenn man zu viel erklärt, verliert es die Kraft an sich, man muss sich selber etwas dazu denken. Es ist nicht einfach ein Konzert, es ist etwas ganz anderes. Ich weiß auch nicht, wie man es nennen soll, ehrlich gesagt.

VAN: Das Publikum soll vorher auch nicht soviel darüber wissen?

Es braucht jedenfalls keine Belehrung oder Gebrauchsanweisung. Es soll wie in einem Museum sein, wissen Sie? Man macht sich selber ein Bild und lässt auf sich wirken, was man gehört, gesehen, gespürt und sich dabei gedacht hat. Was ich erzählen könnte, wäre, wie es entstanden ist, interessiert Sie das?

(Zögern) Äh, ja gerne.

Es ist schon einige Jahre her, als das SWR-Orchester in Baden-Baden und Freiburg mich gefragt hatte, ob ich mir ein Programm ausdenken möchte; sie wollten so etwas wie das Programm, das ich einmal mit der Staatskapelle in Berlin gemacht habe, Kurtág, Xenakis, Kammermusik und Musik für das ganze Orchester, eher ungewöhnlich. Damals hatte ich diesen Wachtraum, wie eine Vision – ich sah es immer wieder, und dann musste ich es einfach aufschreiben, versuchen zu konkretisieren – mit Stücken einen Bogen schaffen:

Damals tauchten gerade diese Pläne zur Fusion (mit dem RSO Stuttgart) auf; ich war darüber sehr betroffen, dieses Orchester hat sich seit der Zeit der Gründung um 1946 wie kein anderes Orchester für zeitgenössische Musik eingesetzt. Mir kam das vor, wie ein Schnitt ins lebendige Fleisch. Ich habe mir ein Programm überlegt, das das Sterben des Konzertbetriebes illustriert, als Protest, als Statement dazu, in was für einer Sackgasse wir uns befinden, wenn wir solche Orchester zumachen. Für mich war das wie ein Abschiedskonzert. Es fand Anklang bei den Beteiligten, ist aber irgendwie nie zustande gekommen.

Ein Jahr später kam die Anfrage aus Hamburg; offensichtlich haben sie Wind von der Idee bekommen. Sie wollten das realisieren, das MCO könnte vielleicht das richtige Orchester dafür sein. Der Kontext ist jetzt ein anderer, ich musste das Konzept modifizieren. Aber es ist immer noch ein Statement über den Zustand unseres Geistes und unserer Seele. Da ist diese Klaustrophobie, die ich spüre, als Solistin und als Mitwirkende im Betrieb der klassischen Musik … es ist also ein Manifest gegen einen rückwärtsgewandten Musikbetrieb, der nur auf das Bekannte setzt und Neugier und Grenzüberschreitung eher ausklammert. Das macht mir Angst, Atemnot, Erstickungsgefühle.

Aber Sie spielen doch bekannte Musik in diesem Konzert, Haydn, Bach, Beethoven.

Na ja, das kann ich vielleicht verraten, wir spielen den letzten Satz der Abschiedssinfonie von Haydn rückwärts.

Wie geht das?! Note für Note rückwärts?

Ja. (lacht)

Ich sehe, Beethoven ist ja auch bearbeitet (›Bearbeitung: Jorge Sánchez-Chiong‹). Spielen Sie den auch rückwärts?

Nein, mehr will ich aber noch nicht verraten. Aber auch hier liegt eine Vision, ein Statement zugrunde. Maria Ursprung (die das Konzert inszeniert, d. Red.), hilft uns, das professionell umzusetzen, ich bin ja keine Theaterregisseurin.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, würden Sie dann mal ein oder zwei Jahre ganz auf die Klassiker verzichten?

Ich würde darauf nicht nur für ein paar Jahre verzichten. Ich würde sie global gesehen nur noch als ganz besondere Elemente in die Programme bringen. Wir haben genug Aufnahmen gemacht.

Gegen Aufnahmen haben Sie sich doch auch lange gesträubt; Sie wollten kein recording artist sein.

Na, weil es genügend fantastische Aufnahmen gibt! Wir haben das alles dokumentiert, wie Bücher, die kann jeder selber lesen, wann er will. Der klassische Betrieb ist so zurückgeblieben! Wenn irgendjemand irgendetwas auch nur ein bisschen anders macht, wird darüber diskutiert und geschrien. Im Theater wird seit Jahrzehnten alles in die Gegenwart gebracht. Man zitiert Shakespeare neben Jelinek, so wie es der Regisseur sieht. Dort noch etwas neues zu machen, ist fast unmöglich.

Was würden Sie vorschlagen?

Die zeitgenössische Musik sollte nicht ein kleiner Posten im Budget sein, von wegen ›jetzt geben wir mal einen Kompositionsauftrag heraus und spielen das dann, umrahmt von Werken, die uns dann doch wieder bequem in den Sessel zurücksinken lassen‹. Sie wissen ja, wie das ist. Es sollte sich alles nur noch um zeitgenössische Musik drehen, alte Werke könnten ausnahmsweise im Programm vorgestellt werden.

Sergej Newski hat in seinem Bericht aus Russland beiläufig erwähnt, dass die Empfänglichkeit für Neue Musik dort noch viel größer ist als hierzulande.

… ja klar, weil es das Fenster in die Freiheit ist.

Aber auch hier gibt es ja viele Festivals, und Konzertorte. Vielleicht sind die großen Konzertsäle einfach zu groß dafür?

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, das liegt an einer gewissen Schwere der Institution Orchester. Man kann diese neuen Stücke nicht so wahnsinnig schnell lernen, es braucht Proben, wahrscheinlich mehr Geld … mehr Flexibilität: Man könnte aus dem Orchester ein Sextett herausnehmen und sagen: Hier ist was von Helmut Oehring, da übt ihr jetzt mal, so lange ihr braucht. Dann gibt es noch ein Stück von Olga Neuwirth, dann noch eine Gubaidulina und danach darf dann auch mal ein später Beethoven kommen. Es braucht mehr Vielfalt, auch im Sinne von Besetzung.

Klar gibt es viele Orte, wie das Radialsystem zum Beispiel, aber es hat immer noch diesen Flair des Alternativen… ich aber rede von der allerhöchsten Ebene, dort, wo das meiste Geld ist, da kann noch mehr Mut hinein.

Die Werte sind noch nicht klar. Mir kommt es vor, als wenn wir in einem riesigen Auto fahren würden, und alle schauen nach hinten und sagen: ›Ach wie schön es war‹ und niemand schaut nach vorne.

Liegt es an dieser Rückwärtsgewandtheit, dass Musiker/innen aus der Klassik sich so selten zu politischen Themen äußern? Da kommt ja zu vielen Themen, nehmen wir das Freihandelsabkommen TTIP, aus der Popwelt deutlich mehr …

… klar. Das hat damit zu tun.

Gibt es überhaupt diese Stimmen?

Es braucht sie mehr, diese Querulanten, diese Feuerköpfe, so jemand wie Currentzis. Wenn der Mozart aufnimmt, dann nimmt es einem den Atem. Wenn schon denn schon, mach etwas eigenes. Stell den Mozart heute auf die Bühne, in der Weltsicht deiner Seele. Und wenn ich bei Mozart sonst eine türkische Kadenz spiele, dann spiele ich in diesen Tagen eben eine armenische. Und wenn es um Krieg geht, dann kann man Biber und Crumb spielen (wie es P.K. beim Konzert in Saint Paul gemacht hat, d. Red.), aber eben auch Livereportagen aus Syrien projizieren. Das hat Relevanz. Aber Dvořák, Bruch immer wieder … sind wir in einer Musikschule mit lauter Wettbewerben?

Lange Zeit war es ja die Aufgabe des Musikjournalismus in der Klassik, die Feinheiten einer Interpretation zu bewerten.

Ja! Wir lesen dauernd Kritiken über Menschen, wie sie dasselbe Stück gespielt haben: ›Ja, jetzt hat er das etwas langsamer gespielt und es gab auch einige neuen Farben … ob sie denn legitim sind? Oh, sie kommt ohne Schuhe … ‹ Was hat das denn für eine Bedeutung? Sind wir in einem Irrenhaus? Das ist der reine Wahnsinn. Die Geige spielt immer Tschaikowski, Beethoven, Dvořák, Bruch, Vivaldi; das kann ich an zwei Händen abzählen, das ist doch nicht zum Aushalten! Nur einige machen ganz interessante Sachen, Carolin Widmann, Pekka Kuusisto, Leila Josefowicz, Tetzlaff; Barbara Hannigan, die ihr gesamtes Dasein für die Musik von heute einsetzt. Salonen, Thomas Larcher, Fazil Say, die alle komponieren. Es ist schön, diese Ausnahmen zu sehen, und bei deren Konzerten sind die Säle nicht leer. Ich will nicht, dass die moderne Musik in einem Ghetto bleibt, es muss auf die große Bühne.

Sie haben den Blick nach hinten in den großen Sälen auch bedient …

Nein, das glaube ich nicht. Ich habe immer moderne Zugaben gespielt, ich habe die Kadenzen so gestaltet, dass die Leute nicht mehr wussten, wo sie sich befinden. Meine Interpretationen sind nicht der Standard. Was die zeitgenössische Musik betrifft: Ich habe viel gespielt; ich arbeite sehr viel mit zeitgenössischen Komponisten, für mich werden Stücke geschrieben. Ich bin wirklich nicht – gar nicht! – jemand von denen, die mitgemacht haben.

Es gibt dieses Bild von der ungezähmten jungen Frau, und das Publikum mag diese Wildheit, aber eben am liebsten bei Beethoven?

Ich kann nicht nur zeitgenössische Musik spielen. Es war ein Studium: Wie bekommt man die alten Stücke wieder so frisch, dass man heute noch das Gefühl hat, was für ein Rebell und Innovator Beethoven war.

Vielleicht ist dieser Titel ›Bye Bye Beethoven‹ auch provokant. Wir wollen uns natürlich nicht von ihm verabschieden. Aber ich möchte mich von einem Betrieb verabschieden, der bei Beethoven, Bruckner, Brahms stecken bleibt und die Relevanz verliert. Mir ist es deshalb auch ganz egal, ob das Projekt in Hamburg ein Fiasko wird, weil mir das Statement wichtig ist.

Wer ist verantwortlich?

In erster Linie wir Musiker/innen. Wir sind zu bequem. Wir spielen, was wir kennen, weil neue Musik zu lernen, Zeit kostet. Wir haben uns daran gewöhnt, Reproduktionen zu machen. Ich kann das nicht einmal mehr mit einem Museum vergleichen! Das hat mit Kunst nichts zu tun, da geschieht keine Entwicklung. Es gibt nicht viele Interpretationen, die wirklich etwas eigenes über ein Stück aussagen.

Die Interpreten haben die Aufgabe, zu sagen: Ich möchte gerne ein neues Stück spielen. Ich schlage vor, dass wir diesen Komponisten fragen, ich arbeite mit ihm. Als late night concert in einem alternativen Rahmen kann ich auch das Beethoven-Konzert spielen. Extrem, aber so stelle ich mir das vor, alles auf den Kopf gestellt. ¶

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