Michael Maul, Jahrgang 1978, studierte Musikwissenschaft, Journalistik und Betriebswirtschaftslehre in seiner Heimatstadt Leipzig, promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und habilitierte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2002 arbeitet Maul am Bach-Archiv Leipzig, war seit 2015 Dramaturg des Bachfests Leipzig und übernahm im Mai 2018 die Intendanz des Festivals. Maul ist damit einer der ganz wenigen Intendanten, die aus der Forschung kommen – und nicht etwa aus dem reinen Management. Arno Lücker hat Maul angerufen und ihn anlässlich einer neuen What’s-up-Folge zur Bach-Forschung befragt.

VAN: Der Titel Ihrer Doktorarbeit lautet ›Barockoper in Leipzig‹. Nun war Johann Sebastian Bach von 1723 bis zu seinem Tod 1750 in Leipzig als Thomaskantor tätig. Warum hat Bach selbst keine Oper komponiert?

Michael Maul: Weil das Opernhaus, das es hier gab, drei Jahre bevor Bach nach Leipzig kam Pleite ging. Das ist der Hauptgrund. All die Leute, die meinen, Bach hätte nie und nimmer eine Oper geschrieben, lügen! (lacht) Aber im Ernst: Überall da, wo sich Bach wegen einer festen Anstellung niederließ, gab es entweder gar kein Opernhaus oder es war kurz zuvor geschlossen worden. Es hat sich einfach nicht ergeben. Das ist natürlich schade, denn es gibt manche Kantatensätze, die sehr nach Opernmusik klingen. Im Duett der Kirchenkantate BWV 21 Ich hatte viel Bekümmernis singt der Sopran: ›Komm, mein Jesu, und erquicke‹, der Bass antwortet sofort mit ›Ja, ich komme und erquicke‹ – man muss nur ›Jesu‹ durch ›Liebster‹ ersetzen, dann hat man die reinste Operette!

Wenn Bach also 1720 das Probespiel an St. Jacobi in Hamburg nicht abgesagt und die Stelle bekommen hätte, dann wäre möglicherweise bald auch das erste Werk für die Hamburger Gänsemarktoper entstanden?

Zumindest hätte er Opernluft geschnuppert! In meiner Dissertation habe ich gezeigt, dass Johann Kuhnau, der berühmt für seine Kritik an der Leipziger Operistenszene war, 1702, in seinem ersten Jahr als Thomaskantor, die Pastoraloper Galathea, komponiert schon 1698, inkognito hat aufführen lassen. Diese Aufführung war aber ein ziemlicher Misserfolg – gut möglich, dass er auch deshalb bald zu einem lautstarken Kritiker des örtlichen Opernhauses wurde.

Hätte Bachs potentielle Oper einen christlichen Inhalt gehabt, wie das Singspiel von Johann Theile 1678 zur Eröffnung der Hamburger Gänsemarktoper – Adam und Eva – Der erschaffene, gefallene und wieder aufgerichtete Mensch – oder hätte er sich auch für mythologische oder gar bürgerliche Sujets, wie zur gleichen Zeit Reinhard Keiser, erwärmen können?

Ich glaube, Bach hätte sich auf jedweden Stoff eingelassen. Die Frage ist, ob er es wirklich selbst in der Hand gehabt hätte, das Thema des Librettos auszuwählen. Da bin ich eher zurückhaltend. Meistens legen schließlich die Operndirektoren fest, was gespielt werden soll. Das Interesse an biblischen Stoffen lässt nach 1700 stark nach. Das Ganze war in Hamburg vor allem ein Kompromiss, um den Klerus zu beruhigen. Derartige Kompromisse waren aber in Leipzig gar nicht nötig. Die Geistlichkeit war dort nicht sehr stark aufgestellt und hat ihre Kritik an der Oper eigentlich nie so laut formuliert. Die Pfarrer in Leipzig waren zugleich städtische Angestellte. Außerdem gab es, anders als in Hamburg, in Leipzig immer nur zur Leipziger Messe Opernaufführungen. Und die Messe war eine Veranstaltung des Kurfürsten, der entschied, was läuft und was nicht. Der Dresdner Hofkapellmeister Nicolaus Adam Strungk konnte mit dem Opernprivileg, das ihm Kurfürst Johann Georg IV. ausgestellt hatte, schalten und walten, wie er wollte. Dieses Privileg wurde an die fünf Töchter Strungks vererbt. Alle Töchter Strungks waren Sängerinnen – und ziemliche Zicken. Die bestimmten über die Opernstoffe, und zwar ganz aus unternehmerischen Motivationen heraus. Bach hätte durchaus einen Auftrag der Oper Leipzig bekommen können. Allerdings hätte er sich – mein Eindruck – eher nicht, anders als ein Georg Philipp Telemann, auf eine finanzielle Beteiligung eingelassen. Bach kommt mir in solchen Dingen etwas risikoscheu vor.

Spektakulär in Ihrer Biographie ist ja der Fund einer bis 2005 noch unbekannten Arie von Bach: Alles mit Gott und nichts Ohn’ ihn. Was war das für eine Situation, in der Ihnen klar wurde, dass sie gerade eine Sensation in den Händen hielten?

Das war am 17. Mai 2005. Da habe ich in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar diverse gedruckte Huldigungsschriften auf die Weimarer Herzöge durchgeblättert, in der Hoffnung, Textdrucke zu verlorenen Werken von Bach zu finden. Ich hatte überhaupt nicht mit Notenmanuskripten gerechnet und finde bei einem zu Bachs Zeiten gedruckten Huldigungsgedicht, verfasst von einem Pfarrer aus Buttstädt bei Weimar, zwei Seiten, auf denen jemand eine Vertonung dieses Gedichts niedergeschrieben hat. Ich sehe die Noten, aber es steht kein Verfasser drüber. Mein erster Gedanke: ›Oh Gott, das sieht aus wie Bach!‹ Einfach deshalb, weil Bach in der Zeit der Entstehung dieser Arie eine ganz markante Art hatte, den Sopranschlüssel zu zeichnen, mit einer charakteristischen Schleife nach unten, die man aus dem Orgelbüchlein und anderen Weimarer Bach-Autographen kennt. Mir war diese Musik vollkommen unbekannt. Das Stück hatte ich definitiv noch nicht im Bach-Werke-Verzeichnis gesehen. Ich hatte an diesem Tag aber ungefähr tausend solcher Huldigungsschriften durchgeschaut, es war kurz vor Schließung der Bibliothek – und ich war noch nüchtern genug, um zu denken: ›Michael, du bist bekloppt! Du wünschst dir nur, dass es Bach ist!‹ Es war ja ein anonymes Manuskript! Ich bin in der Bibliothek herumgerannt wie ein Wahnsinniger, um Bücher zu finden, in denen Bach-Autographe abgebildet sind, um sie zwecks Schriftvergleich neben dieses Manuskript halten zu können. Dann bestellte ich auf die Schnelle Kopien, um bei uns im Bach-Archiv, in dem wir Reproduktionen von jedwedem Bach-Autograph haben, in Ruhe die Schriftzüge vergleichen zu können. Das war der zweite große Moment, ich glaube, es war am 1. Juni 2005. Ich hatte damals nur Peter Wollny, heute Direktor am Bach-Archiv Leipzig, von meinem Fund erzählt. Wir öffneten gemeinsam das Paket mit den Kopien. Er schaute einmal drauf und sagte gleich: ›Na klar, eindeutig! Das ist Bach!‹ Danach habe ich zum ersten Mal für eine Flasche Schampus mehr als 50 Euro ausgegeben.

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Es gab sicherlich eine feierliche Uraufführung damals…

Ja. Vorher, am 3. Juni 2005, haben wir eine Pressekonferenz gegeben. Das war ja das erste Mal nach 80 Jahren, dass ein noch unbekanntes Vokalwerk von Bach aufgetaucht war. Bis dahin arbeitete ich als Musikwissenschaftler-Mauerblümchen an meiner Dissertation. Und plötzlich musste ich das erste Interview meines Lebens geben – und gleich für die Tagesschau. Das war ein ganz cooler Einstieg. (lacht) In der Nacht danach klingelten mich CNN und BBC aus dem Bett – ich werde das nie vergessen. Die eigentliche Erstaufführung der Arie fand am 2. September 2005 im Weimarer Schloss statt, exakt ein Jahr nach dem schlimmen Bibliotheksbrand – im Rahmen des Weimarer Kunstfestes. Es spielten damals Leute, die ohnehin im Rahmen des Kunstfestes auftraten. Das Quatuor Mosaïques übernahm die Streicherritornelle, Juliane Banse sang und am Cembalo saß András Schiff. Der spielt ja sonst nicht so häufig Cembalo… Und in gewisser Weise schließt sich jetzt der Kreis, denn vor einigen Tagen war Schiff zu Gast bei uns beim Bachfest. Nach seinem Konzert haben wir zusammengegessen und festgestellt, dass wir uns damals bereits kennengelernt hatten: zu dieser wirklich besonderen Aufführung.

Besteht denn die Möglichkeit, dass es in nächster Zeit ähnlich sensationelle Funde geben wird?

Das kann jederzeit wieder passieren. Ein halbes Jahr später habe ich ja damals ebenfalls in der Weimarer Bibliothek Bachs früheste erhaltene Noten-Handschriften gefunden: Orgelwerke von Dietrich Buxtehude und Johann Adam Reincken, die Bach als 13–15-Jähriger für sich abgeschrieben hatte. Diese Handschriften habe ich aber nicht in der ja leider 2004 verbrannten Musikaliensammlung der Bibliothek gefunden, sondern in der Abteilung ›Theologische Handschriften‹, Rubrik: ›Mönchs- und Klosterliteratur‹ – und zwar, weil bei diesen Handschriften niemand erkannt hatte, dass das Noten sind! Dabei handelt es sich nämlich um Abschriften in der sogenannten Neuen deutschen Orgeltabulatur, also um Manuskripte, die den verantwortlichen Bibliothekaren im 19. Jahrhundert offenbar wie eine Art Geheimschrift vorkamen, jedenfalls von ihnen nicht als Noten identifiziert wurden. Meine Erfahrung aus diesem Fund: Solch spektakuläre Entdeckungen können wir vor allem an Orten machen, an denen man so etwas nicht vermuten würde. Die besagte Bach-Arie habe ich ja auch auf zwei unbedruckten Seiten einer Huldigungsschrift gefunden; auch die war nicht Teil der Musikabteilung. Es dürfte überhaupt viel Wichtiges in selbst berühmten und vermeintlich ›ausgeforschten‹ Bibliotheken liegen, was wir noch nicht entdeckt haben. Weil es eben dort liegt, wo es eigentlich nicht hingehört. Beim Katalogisieren können viele Fehler passieren. In dem Projekt, das wir ›Expedition Bach‹ genannt haben, gehen wir dieses Problem in großem Stil an und durchforsten mit vielen Kolleg*innen zusammen die entsprechenden Bibliotheken. Man wird die verschollene Markus-Passion Bachs sicherlich nicht in irgendeiner Musikbibliothek finden. Wir müssen woanders suchen.

Ist die Markus-Passion das wichtigste noch nicht wiedergefundene Werk Bachs?

Ja, das ist das absolut prominenteste Beispiel. In 150 Jahren hat die Forschung allerdings schon erkannt, dass Bach bei diesem Stück offensichtlich das Parodie-Verfahren angewendet hat, also Teile der Komposition auf der Basis älterer Musik erstellte. Das Werk ist deshalb in Teilen rekonstruierbar. Es fehlen aber trotzdem Chöre, Rezitative und so weiter. Bei der legendären Markus-Passion sind wir in den letzten zehn Jahren insofern ein wenig weitergekommen, als dass in Sankt Petersburg ein originales Textbuch der Passion auftauchte, das anlässlich einer Wiederaufführung des Werkes in den 1740er Jahren gedruckt worden war. Dort hat Bach auf der Titelseite sogar die Jahreszahl der Aufführung (1744) persönlich nachgetragen. Er hatte offenbar eine riesige Menge an Textdrucken bestellt, sicherlich nicht mit dem Ziel, die alle innerhalb eines Jahres rauszuhauen. Das war für mehrere Wiederaufführungen gedacht! Wahrscheinlich hat er, indem er vielleicht 5000 Drucke bestellte, einfach den Preis beim Buchdrucker drücken wollen und in einer totalen Sisyphos-Arbeit jeweils die Jahreszahl der Aufführung eigenhändig ergänzt. Die erste Aufführung fand zu Karfreitag 1731 in Leipzig statt. Und der besagte gefundene Textdruck beweist jetzt, dass die Passion nun mindestens ein weiteres Mal, nämlich 1744, aufgeführt wurde.

Grundsätzlich ist zu sagen, dass wir bezüglich der Bach-Quellen immer noch keinen richtigen Überblick haben, was zum Beispiel die Bestände in den ganzen kleinen Bibliotheken in Mitteldeutschland, aber auch in Polen angeht. Jeder Protestant in Schlesien, der Karriere machen wollte, kam damals zum Studium nach Leipzig. Viele wohnten den Kirchenmusikaufführungen Bachs bei oder wirkten sogar selbst daran mit, wie Bachs Schüler und späterer Schwiegersohn Johann Christoph Altnikol; der kam 1744 aus Niederschlesien nach Leipzig. Solche Leute werden sich häufig auch Stücke von Bach abgeschrieben haben – und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht gering, dass verschollene Bach-Werke gerade im heutigen Polen auftauchen werden. Es ist auch jederzeit möglich, dass Puzzle-Teile im ›Spiel Bach-Forschung‹, die vorher noch zusammenzupassen schienen, durch einen neuen Fund nicht mehr zusammenpassen. In der Bach-Forschung gilt: Sag niemals nie! Und wirklich: Die Bach-Forschung funktioniert wie ein Puzzle-Spiel, nur dass noch unklar ist, wie viele Teile das Puzzle hat!

Abschlussfrage: Können Sie als natürlich historisch informierter Bach-Experte noch das Bach-Spiel von Glenn Gould hören?

Ganz klar: Ja! Ich habe alle Bach-Aufnahmen von Gould, die frühen wie die späten, in meinem Plattenschrank. Ich muss sagen, dass ich da keine Scheuklappen kenne. Ich finde es bei Bach ganz faszinierend, wie viel Interpretationsspielraum seine Musik verträgt. Sie werden lachen, aber es gab Karfreitage, an denen ich die Interpretation der Matthäus-Passion von Willem Mengelberg aus dem Jahr 1939 mal eben Harnoncourt und Konsorten vorgezogen habe…

›Christian Thielemann gefällt das…‹

(lacht) Na ja, im Ernst: Das ist ja der Beweis für die ganz besondere Qualität der Musik von Bach, dass man auch diese älteren, historisch ausdrücklich nicht informierten Aufnahmen lieben kann. Manchmal hat man sogar den Eindruck, dass es geradezu nachrangig ist, ob man ein annähernd originales Instrumentarium, modern mensurierte Instrumente oder gar ein Akkordeonorchester für die Interpretation von Bach-Werken verwendet. Für meine Intendanz beim Bachfest heißt das jetzt nicht, dass ich Mengelberg für eine Aufführung der Matthäus-Passion exhumiere. Es gibt für viele Leute aber ganz verschiedene Ideale, wie sie ›ihren Bach‹ hören wollen. Wir in Leipzig haben natürlich den großen Vorteil, dass wir Bachs originale ›Festspielhäuser‹, also Thomas- und Nikolaikirche, im Spielplan haben. Und ich liebe den Mix an Interpretinnen und Interpreten, den wir hier präsentieren können: von den ›alten Recken‹ bis hin zu den Newcomern, ganz gleich ob auf Harraß, Steinway, Corno da tirarsi oder Piccolotrompete. Bach selbst hatte diese Wahlfreiheit nicht! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.