Seit einigen Monaten hängt in meinem WG-Zimmer (um ein Dübel-Missgeschick zu verbergen) ein eingerahmter Flyer zur Veranstaltungsreihe Mahler 1975 in Bonn. Ich weiß bis heute nicht wirklich, was inhaltlich dort stattfand, aber der Spiegel bewarb sie damals so:

»Ist Gustav Mahler bloß ›in‹, sein gegenwärtiger Erfolg nur ein ›Mißverständnis‹? Fragen, die an Tabus rühren und kompetenter Antwort harren. Der Neutöner Dieter Schnebel will Mitte Dezember in Bonn ein Tribunal veranstalten, auf dem der nostalgische Boom des österreichischen Spätest-Romantikers analysiert werden soll.«

Die Dauerpräsenz des »Spätest-Romantikers« im heutigen Konzertbetrieb wirft nicht nur ein neues Licht auf den Hype-Diskurs von vor fast 50 Jahren, sondern auch darauf, wie elastisch Kanonbildung und Musikgeschichtsschreibung doch sind, wenn einflussreiche Personen sie zu kneten wissen: Unmittelbar vorher hat die Mahler-Renaissance angetrieben durch emsiges Werben von Akteuren wie Leonard Bernstein den Sinfoniker aus scheinbarer Vergessenheit zurück ins Rampenlicht gezerrt. Die populäre Beliebtheit und anhaltende Nachfrage folgten schnell. Visconti manifestierte schon 1971 mit seinem Tod in Venedig das Adagietto zum Weltschlager.

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Wenn Aktivist:innen wie Künstler:innen heute für Diversity und Gendergleichberechtigung in den Konzertprogrammen kämpfen, ist das eben auch keine willkürliche Manipulation eines über Jahrhunderte natürlich gewachsenen Kanons der Kulturgüter, sondern genau derselbe Mechanismus. Diese Dynamik konnte man, im digitalen, sozialgenetzwerkten Gewand in den letzten zwei Jahren miterleben: Druck auf Institutionen in Form von BlackLivesMatter oder wachsender Gendersensibilität, (hoffentlich) zunehmende Reflektion des postkolonialen Ballasts der Klassikwelt und – vor allem – Interesse der Hörer:innen brachten die Musik von Florence Price aus der Nische.

Reihenweise US-Orchester setzten die Sinfonien der Am-Spätesten-Romantikerin auf die Spielpläne, zahlreiche Neu- oder gar Ersteinspielungen erobern den Markt – so zum Beispiel Yannick Nézet-Séguins herausragende Aufnahme der ersten und dritten Sinfonie mit dem Philadelphia Orchestra im Januar. Gegenüber dem Chicago Symphony Orchestra, dem Klangkörper, durch den Florence Price 1933 zur ersten Schwarzen Komponistin wurde, deren Musik von einem großen Orchester aufgeführt wurde, äußerte der Musikwissenschafter Michael Cooper im letzten Jahr: »Wir erleben etwas, das mehr als nur ein Momentum ist. Es hat das Potenzial etwas zu bewegen, wie die Bach-Wiederentdeckung im frühen 19. oder die Mahler-Renaissance im späten 20. Jahrhundert. Es ist die nachhaltigste Wiederbelebung öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses an einer Komponistin seitdem.« Ein gerade einmal dreieinhalb Minuten langes Orgelstückchen hat zu dieser Wiederbelebung einen wohl gewaltigen Teil beigetragen: Adoration.

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David von Behren, Orgel

Florence Price veröffentlichte Adoration 1951 in The Organ Portfolio, einem Notenmagazin der Lorenz Publishing Company, das alle zwei Monate für 50 Cent (auf heutige Verhältnisse umgerechnet um die 5,50 Dollar) knapp ein Dutzend Stücke bot – und auch heute noch erscheint. Price war selbst Organistin, das Stück war auch für den Gottesdienst gedacht. Die letzten Jahre vor ihrem Tod 1953 fassen die meisten Biografien in einem Halbsatz zusammen, neben dem zweiten Violinkonzert sind bisher fast nur Kammermusik, Spirituals und einige Orgelwerke aus dieser Zeit überliefert. Unklar ist auch, ob Adoration überhaupt zu diesem Zeitpunkt entstand, oder in seiner schlichten Harmonik und Melodik nicht vielleicht schon älter sein könnte. In der Musikwissenschaft ließ sich über den Entstehungskontext nichts weiteres finden – aber schließlich ist es ja auch nur ein 60-taktiges Stück in schlichter ABA-Liedform.

Die Melodie setzt auf den ersten Schlag ein, der Satz ist simpel gehalten: sechs Takte Grundtonorgelpunkt im Bass, eine sanfte Begleitung von Viertelrepetitionen und die Melodie eine Oktave drunter für besonders saftige Vorhaltsreibungen gedoppelt. Das Pulsieren der Begleitung kommt je nach Interpretation – oder Instrumentation – mal mehr, mal weniger prägnant hervor. Es kann ein Wabern sein oder ein rhythmischer Drive, der eine gesunde Distanz zum Stillstandspathos eines Bruckneradagios herstellt; wir sind hier schließlich bei einem kurzen Orgelstück, keinem Sinfoniesatz. Von der schlichten Begleitung profitieren aber vor allem die Momente, in denen sie dann ausbleibt: Das Ende der achttaktigen Phrase und – mit Generalpause noch mehr – die variierende Wiederholung fallen wie aus der Zeit. Wenn sich der lange (und zwischenzeitlich ganz schön reibende) Orgelpunkt nach sechs Takten hier endlich in die Subdominante auflöst mag das an das Klischee der Bluesharmonik erinnern, die nach langem Tonikastillstand auch immer erst mit dem Sprung in die vierte Stufe so richtig Fahrt Richtung Turnaround aufnimmt. Zum Zeitpunkt der Komposition hatte das Genre schließlich auch seinen ersten Erfolgszug schon einige Jahrzehnte hinter sich.

Die Melodie selbst besticht durch ihre Schlichtheit: gleichmäßige Rhythmik aus Vierteln und Halben, Auftakte die wellenartig zum nächsten schweren Vorhaltston Anlauf nehmen und eine schulbuchmäßige Verdichtung der Vorhaltssäufzer zum achten Takt hin. Es ist ein typisch spätromantischer Hymnus, nur entschlackt von all dem chromatischem Firlefanz – Richard Strauss auf Detox.

Der gesamte erste Teil verharrt ausschließlich in einer D-Dur Diatonik, die erst zum Phrasenende gebrochen wird: Mit einem verminderten Akkord schleicht sich in der abschließenden Kadenz (ii-V-I-Turnaround – suchen Sie sich selbst aus, ob Sie das vom Jazz oder aus Bachchorälen kennen) ein B als Mollanleihe aus. Diese verminderte sechste Stufe ist ein Klischee, das im Kleinod der Musikerklär-Youtube-Szene als Nostalgia Note immer mal wieder virale Berühmtheit erfährt. Auch das ist so ein kulturell kodierter »nostalgischer Boom«, der für heutige Ohren die Bittersüße von frühen Musicals, Tin-Pan-Alley-Songs, und – wohl am meisten – daraus entstandenen Weihnachtshits erweckt (siehe: The chord that makes Christmas music sound so Christmassy).

Doch es ist nicht unbedingt die Orgel, die dem Stück zu neuem Weltruhm verhalf. Durchsucht man die unzähligen Aufnahmen von Laien und Profis, sind die Klickzahlen für Orgelinterpretationen vergleichsweise winzig. In den vergangenen zwei Jahren wurde Adoration für alle möglichen Besetzungen von Orchester bis Synthesizer-Solo adaptiert und aufgeführt, die viele Facetten des Stücks in ein neues Licht rücken können. .

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Los Angeles Chamber Orchestra & Joshua Ranz, Klarinette & Arrangement

Für die plötzliche Popularität und vielen Neuadaptionen kommen zwei ganz unmusikalische Gründe zum Tragen: Zum einen wird neben den oben genannten gesellschaftspolitische Ursachen die plötzliche Nachfrage zu Pandemiebeginn nach kleinbesetzter Kammermusik und langsamen, Homerecording-tauglichen Stücken für die Inflation digitaler Formate eine Rolle gespielt haben. Man wird beinahe nostalgisch, wenn man die optimistischen Kollaborationsprojekte aus Lockdown 1™ sieht, wie im Video unten Augustin Hadelich, der seine Fans begleitet.

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Augustin Hadelich & 37 Solist*innen (arr. Elaine Fine) 


Noch wichtiger aber war vermutlich die Verfügbarkeit der Noten: 2020 listete das International Music Score Library Project (imslp) nur eine kleine Handvoll Stücke von Florence Price. Adoration war eines davon und dank alphabetischer Sortierung auch das erste, das sich die Durchschnittsuser:innen wohl ansehen. Die simple Komposition macht es für Arrangeur:innen, genauso wie für diejenigen, die sich im Lockdown neu ausprobieren wollten, attraktiv und komfortabel für die meisten Besetzungen – vielleicht sogar schon ab Anfängerlevel. Der große, bis heute anhaltende Schwung an Youtube-Uploads von Arrangements begann im Juli 2020, knapp einen Monat nach den Protesten um die Ermordung George Floyds.

Was die Streaming-Algorithmen für den Popmarkt sind, ist die Verfügbarkeit auf imslp wohl für die Klassik. Ganz wertfrei, was man angesichts des Verlagssterbens davon halten mag, aber die unmittelbare Zugänglichkeit der Noten entscheidet, was gespielt wird. Der Wiederentdeckungsprozess von Price ist dafür symptomatisch: Verschollen geglaubte Noten (wie sie 2009 zuhauf entdeckt wurden) müssen wegen noch laufenden Urheberrechts vom Rechteinhaber Schirmer erst aufbereitet und veröffentlicht werden, Druckexemplare längst publizierter Noten sind schwer zu bekommen (ich zum Beispiel versuche seit Monaten vergeblich, die Five Sketches in Sepia ohne horrende Versandkosten über den Teich zu ergattern).

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Barclay Brass (arr. David J. Miller)

Amy McCabe, Flügelhornistin bei Barclay Brass, bereitete kürzlich das Manuskript des Octet for Brasses and Piano auf, das ebenfalls dem Fund von 2009 entstammt. Das Ensemble steht an dieser Stelle jedoch vor allem wegen Hiriam Diaz‘ Euphoniumsolos nach dem wiederholten A-Teil der Adoration. Der Bindebogen geht im Original hier über zwei Phrasen einer kurzen Call-and-Response-Elegie – Diaz zieht ihn mit intensiver Spannung und noch intensiverem Lungenvolumen durch (hier ebenfalls einer Nennung wert: Posaunist Tom Burge vom Charlotte Symphony Orchestra in einem Arrangement von – man gestatte mir die kleine Eigenwerbung – mir). Die Passage ist durchzogen von Molleintrübungen und moduliert unauffällig in das G-Dur des Mittelteils – natürlich wieder mit der schwelgerischen »Nostalgia Note«.

Im christlichen Glauben ist ein Gebet –  bis auf beim Glaubensbekenntnis, das irritierend selbstaffirmativ aus der Reihe zu fallen scheint – etwas Demütiges. Während also die bekannten Credo-Vertonungen mit bombastischer Selbstsicherheit daherpreschen, ist die unspezifische Anbetung in seiner Abstraktheit allein schon metaphysisch. Statt dem manifestierenden »Ich« eines »Ich glaube« findet die distanzierte Situationsbeschreibung den Fokus bei der wirklich schlichten Tätigkeit des Betens statt beim ausübenden Menschen. Synonym bedeutet Adoration aber auch Weltliches wie »Verehrung«, »Hingabe« oder »grenzenlose Liebe« – und in der wortlosen Ambiguität der Vertonung behält das Stück  jenseits des kirchlichen Ursprungs eine Qualität, die auch bei nicht-religiösen Hörer:innen und Musiker:innen Resonanz findet. Also vielleicht genau das, was Musiker:innen 2020 angesichts von Social Distancing und gesellschaftspolitischem Krisenbewusstsein suchten.

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Nova Orchester Wien, William Garfield Walker

Der Mittelteil ist zwar mit »A little slower« betitelt, wird aber in vielen Interpretationen tatsächlich etwas drängender gespielt als das Thema. Langsamer ist hier vielleicht auch gar nicht die Metronomzahl, sondern nur die Komposition. Der melodische Gestus ist wie ein in der Zeit eingefrorener Juba Dance, wie man ihn aus Prices Sinfonien kennt, Begleittextur und harmonischer Rhythmus stehen im Vergleich zum vorherigen ohnehin beinahe auf der Stelle. Die Gestaltung ist geradezu folkloristisch und mit den chromatischen Linien, die in der Streichorchesterfassung besonders zur Geltung kommen, blitzeln die Spiritual-Vertonungen der Komponistin um die Ecke. Nach dem Lautstärke- und Tonhöhengipfelpunkt des Stücks, der genauso zeitig wieder verlassen wie erklommen wird, macht sich der Teil auch keine Mühe, für das abschließende Da Capo zurückzumodulieren. Nach den jazzy Ausschweifungen und einer besonders würzigen Kadenz ist das Wiedereinsetzen des Themas in D-Dur wie ein Neuanfang.

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Zhu Wang, Klavier & Randall Goosby, Violine (arr. Elaine Fine)

Der Geiger Randall Goosby kombinierte Adoration auf seinem Debütalbum Roots unter anderem mit den Ersteinspielungen von Prices Fantasien No. 1 und 2, Auszügen aus Porgy and Bess, Dvořáks Sonatina und Coleridge-Taylor Perkinsons Blue/s Forms for Solo Violin. Er holt die Jazz-Einflüsse im Mittelteil deutlich heraus, bleibt aber dabei immer geschmackvoll dezent (die Doppelgriffe!). In der Reprise wechselt er, wie beispielswiese auch Joshua Ranz, recht unvermittelt in die höhere Oktave, was die Kompaktheit des Satzes zunichtemacht. Kein Vergleich mit den überflüssigen Extravaganzen, die Publikumsliebling Daniel Hope in seine Adoration-Version auf dem kürzlich erschienenen Album America hineingebastelt hat, aber oft erweckt so etwas das Gefühl, ein:e Solist:in nehme sich selbst zu wichtig.

Arrangiert wurde Randall Goosbys Fassung von Elaine Fine, die auf imslp die Noten acht verschiedener Besetzungen kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Das Arrangement für Violine und Klavier entstand schon 2013, damit ist die 1959 geborene Komponistin wohl die Pionierin der weiten Welt der Adoration-Adaptionen. Sie schreibt auf ihrem Blog: »Ich lernte Price kennen, weil ich einen Artikel von Rae Linda Brown über sie im Maud Powell Signature von 1995 gelesen habe. Als ich Adoration auf imslp entdeckt habe, begann ich dann sofort die Transkription, die sehr leicht zu schreiben war.« Dort zeigt sie sich erfreut über den plötzlichen Erfolg ihrer Bearbeitungen und teilt regelmäßig Videos von jungen Musiker:innen. Zu der Aufnahme der Tubistin Cristina Cutts Doughterty schreibt sie: »Manchmal fühlt es sich an, als wäre das Stück zu einem ›Über-Orgel‹-Stück mit prächtigen Möglichkeiten der Registration herangewachsen, von denen Florence Price als Organistin nur hätte träumen können. Und jede Aufführung ist verschieden, was mich immer daran erinnert wird, dass ich als Komponistin (und Arrangeurin) nur eine kleine Rolle im großen Tanz des Musizierens spiele.«

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Chrisina Cutts Doughterty, Tuba (arr. Elaine Fine)

Es scheint überraschend, dass so ein kleines Stück zu Florence Prices ganz eigenem Adagietto wird. Ob man nun Listen wie »Six of the best works by Florence Price« oder »10 of Florence Price’s all-time best pieces of music« wirkliche Aussagekraft zusprechen möchte oder nicht – für Classical-Music.com und Classic FM kann es wohl so manche Sinfonie vom Treppchen verdrängen. So oder so: Die Price-Renaissance ist gekommen, um zu bleiben. Nicht (nur), weil sie namhafte Advokat:innen hat, die den Platz auf großen Bühnen erkämpfen, sondern weil sie jetzt schon eine Graswurzelbewegung ist. Die rasante Verbreitung neuer (pop-)kultureller Güter im Internet zeigte spätestens, als vor 2 Jahren jede Dorfkapelle den Wellerman von Tiktok spielte, dass ihr Fußabdruck weit über die digitalen Grenzen hinausreicht. So war es auch nur eine Frage der Zeit, bis sich die Klassik den Dynamiken, durch die Web und soziale Medien eine Gesellschaft mitformen, stellen muss: Wenn »Kultur« nicht nur ein Objekt-, sondern ein Handlungsbegriff ist, sind auch nicht nur diejenigen »Schaffende«, die das als seltsam anmutende Berufsbezeichnung tragen. Der bestenfalls nachhaltige Hype um Florence Price ist ein aus verschiedenen Bedürfnissen heraus organisch gewachsener, der sich in der musikalischen Praxis vieler Laien widerspiegelte, bevor die Institutionen reagieren konnten, und immer wieder mal merklich auch auf den europäischen Kontinent überschwappt.

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Emma Spence, Cello (arr. Elaine Fine)

Ende des nächsten Jahres läuft das Urheberrecht für die Werke von Florence Price ab und es stimmt zuversichtlich, dass durch die niederschwellige Verfügbarkeit ihrer Werke noch an Registern so mancher Über-Orgel gezogen werden wird. ¶

Eine Antwort auf “Das Über-Orgel-Stück”

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