Seit 1963 ist er Dozent für Violine und Kammermusik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler. Warum sein Lebensinhalt Unterricht wurde? Kriegsbedingt kommt er erst spät zur Musik als Beruf, außerdem habe er schon früh gewusst, dass er an einem weiten geistigen Horizont interessiert sei: beim Unterrichten kommst du dem Gehalt einer Musik am nähesten.Wir sind in Heidelberg, beim Streichquartettfest, einer Veranstaltung des Heidelberger Frühlings, es spielen Quartette, die zu den besten der Welt gehören, überhaupt hat das Streichquartett einen Boom erlebt in den letzten zwanzig Jahren (man lese etwa den Text von Volker Hagedorn in der Zeit). Der Professor Eberhard Feltz ist in diesen Kreisen eine Legende.Im Rahmen eines Vortrages am Vortag hatte Feltz gesagt, Musik sei ein spirituelles Unterfangen. Während des Gesprächs kommen wir darauf zurück und er ergänzt: »Musik kann alles, sie kann auch in die Spelunke gehen. Aber ich zitiere noch einmal Beethoven: Musik zur Unterhaltung? ›Für solche Schweine spiele ich nicht.‹ Vielleicht ist das zu hart? Aber natürlich ist es unser Anliegen, dass die ernste Musik bei den Menschen ist und etwas bedeutet.«VAN hat mit ihm über die Karriere des Streichquartetts, das Wesen der Kunst und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, gesprochen. Direkt vor dem Gespräch, das wir im Keller der Alten Pädagogischen Hochschule in Heidelberg führen, spielt das Aris Quartett Beethovens Streichquartett No. 9 C-Dur op. 59,3.
VAN: Im finalen Satz scheint Beethoven nicht zum Ende kommen zu wollen. Können Sie beschreiben, was hier passiert?
Eberhard Feltz: Wir haben am Anfang des Konzerts eine Final-Fuge gehört. Beethoven war einer der am besten ausgebildeten Kontrapunktiker. Op. 59,3, der letzte Satz, das ist eine ganz neue Stufe, ein Weiterschreiten mit den Mitteln der Fuge. Dieser Satz hat eine Sonatenhauptsatzform, und in der Reprise bekommt das Fugenthema, diese schnellen Achtel, einen Gefährten, eine kleine Floskel. Das ist eine ureigene Idee von Beethoven. Spirituell wache Menschen fassen sich an und marschieren gemeinsam. Jetzt ist die ganze Welt erfasst vom Geist des Musikalischen. Und jedes Teilchen schwingt mit, das Tempo legt dies nahe. Marschieren klingt immer so militärisch, so etwas ist hier aber gar nicht gemeint, aber: es geht wohin.
Wohin?
Das wissen sie als junger Mensch doch ganz genau! Erkenntnis wäre zu kopflastig; Erfahrung geht mir zu sehr in die Dichotomie Subjekt – Objekt. Erfüllung! Das Marschieren bei Beethoven ist auch eine Form von Utopie. Aber nicht wie bei Hegel, der Utopist wird und glaubt, einen vollkommenen Staat stiften oder vorschlagen zu können. Beethoven ist nicht der Illusionist, er ist derjenige, der das Leben dieser Zeit am besten fühlt, in jeder Faser. Da zitiere ich gerne Ossip Mandelstam, kennen Sie ihn?

Bei ihm heißt es: Das Volk braucht Verse, unverständlich und vertraut. Das ist ein unglaublich kluges Wort, das uns zeigt, was Kunst ist. Da gibt es nichts zu verstehen, sondern zu vertrauen. Wir sagen: die Musik und die Kunst sind der Wissenschaft nötiger als die Wissenschaft der Kunst. Wir sind sogar so vermessen, zu sagen: unentbehrlich! Leute, was macht ihr heute in der Welt, wenn ihr denkt, dass Musik nur Ornament ist? Im Auto mach‘ ich das Radio an, und da heißt es: ›Mit Klassik entspannt durchs Wochenende‹ – das ist doch entsetzlich! Aber das ist in den Leuten drinnen, dieses Musik-ist-zum-Entspannen-da.
Wir haben eben Beethoven gehört, der bei der Arbeit an seinen Streichquartetten auf Mozart und Haydn zurückblicken konnte. Haydn hatte keine Vorreiter. Wie kommt er dazu, Quartette zu komponieren?
Haydn komponiert als Erster im großen Stil menschliche Gestaltbarkeit, die Möglichkeit, sich selbst fortzubewegen und durch Erfahrungen zu verändern. Der neue Mensch, das ist das Wesen der Aufklärung, ist dadurch befreit, dass er sagt: ich bin selbstbestimmt. Das bringt natürlich die große Gefahr der Illusion und Utopie mit sich, und das gibt es auch ganz früh. Mozart in Così fan tutte, Goethe in Die Wahlverwandtschaften, die hinterfragen diese Möglichkeit schon alle. Schiller sagt, wir haben so viel Aufklärung geübt, und wir sind Barbaren.
Das erklärt aber noch nicht, wieso das bei Haydn entsteht. Ist die Idee von menschlicher Gestaltbarkeit mit dem basso continuo nicht entwickelbar?
Das ist eine gute Frage, die auf ein großes Feld trifft, aber ich werde versuchen, sie zu beantworten. In der Geschichte der Musik entwickelt sich die Mehrstimmigkeit, das Dur-Moll-System, die italienische Kadenz. Was geschieht, wenn man eine Kadenz hat? Die Tonika erklingt, ich identifiziere mich damit und kann sagen, in diesem Moment bin ich hier und jetzt. Und nun gibt es zwei Wege: die Subdominante, den Weg nach innen, eine Quinte tiefer, introvertiert. Und die Dominante, den Weg nach außen, extrovertiert. Insgesamt bin ich mit der schließenden Tonika auf einer anderen Stufe als vorher. Alle Welt spricht von der italienischen Kadenz nur als Konvention. Ich finde es blamabel für alle Musiker, die sie so verstehen, denn diese Kadenz ist keine Konvention, sondern ein riesiges Feld der menschlichen Bedingungen, eine Tatsache, eine Visitenkarte des Menschen. Man sagt ja auch nicht, ein Mensch geht aus Konventionsgründen aufrecht.
Um die Kadenz mit ihren Möglichkeiten vollgültig zu zeigen, braucht man nun vier Stimmen. Das ist einer der Gründe, warum es Streichquartette gibt. Bei einem Dreiklang für vier Instrumente wird ein Ton verdoppelt. Wir brauchen vier Stimmen für Dissonanzen, weil wir sonst nicht die den Konflikten des Lebens abgelauschten Dissonanzen und die wohltuenden, zwingengenden Auflösungen hörbar machen könnten. Hier entsteht die große Musik! Und Haydn nimmt dafür nicht zwei Gitarren, eine Singstimme und eine Piccoloflöte, sondern homogen miteinander klingende Instrumente. Meiner Ansicht nach sind das zwei echte Gründe, warum das Streichquartett existiert und eine solche Karriere gemacht hat.
Was passierte mit Haydns »Entdeckung«?
Wir sind im deutschen Idealismus, und da wo Hegel hier und Goethe da lang gehen, will so ein Kerl wie Beethoven immer noch nackt die Menschheit berühren.
Man muss sagen, dass die große Zeit, zwischen Bach über Haydn und Mozart, mit Beethoven langsam endet, denn da passiert etwas im Lande. Zu Haydns und Mozarts Zeiten herrschte diese große Freiheit. Martin Geck formuliert sinngemäß: Du kannst tanzen, Mensch, wie du willst, du kannst lieben, du kannst Musik machen, und es gibt in der Stadt Wien und in Europa, jedermann erlebt es, eine junge Mutter, die heißt Musik, du kannst immer zu ihr gehen, auch mit Leid, und sie versteht dich. Das ist, was wir heute suchen oder: nicht mehr haben.
Haydn gibt in all seinen Kompositionen einen solch starken Aufriss mit dem Bild von einem neuen Menschen, in dieser neuen Zeit, also der Zeit der Aufklärung entsprechend. Im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert, das so verklärungs- und erlösungsbedürftig war, siehe Wagner, ist Haydn kein Genie mehr. Meines Erachtens war das ein großer Fehler, den man korrigieren sollte.
Ist das Streichquartett die Gattung für Experimentelles einer jeweiligen Zeit?
Ja und nein. Das Streichquartett kann auf eine ganze besondere Art und Weise intim und hoch differenziert Musik zeigen. Eine Sinfonie ist da eher für die Volksmenge, quasi als Appell, übertrieben gesagt so etwas wie: der Kommunismus siegt!
Sie haben mit zahlreichen Streichquartetten zusammengearbeitet. Wie funktioniert das Zusammenspiel innerhalb eines Quartetts, welche Charaktere funktionieren da wie?
Ich habe viele Quartette gründen helfen, habe gesagt, du kannst doch mit dem, du vielleicht mit dem. Ich bin kein Guru, aber ich begleite. Wenn ich anfange, mit jungen Leuten an einem Stück zu arbeiten, gehen wir es gemeinsam durch und ergründen, was wir hören. Da sind sie oft Feuer und Flamme. Von da an sollen sie, auch weil ich von Natur aus faul bin, selbst übernehmen. Oft habe ich erlebt, dass die vier nach einigen Tagen so rumstehen, keiner den anderen noch anguckt oder wirklich mit ihm spricht. Auch bei heute international bekannten Quartetten ist das vorgekommen. Wenn ich dann gefragt habe, was los ist, kam als Antwort, ach, wir verstehen uns überhaupt nicht, wir können nicht miteinander spielen. Dann müsst ihr kommen und wir müssen noch mal zusammen arbeiten! Worauf ich hinaus will, ist, die Musik ist so groß, dass ganz unterschiedliche Typen oft trotzdem auf die gleiche Spur kommen oder sich ins gleiche Boot setzen lassen.
In Eine Welt auf Sechzehn Saiten erzählt ein Mitglied des Vogler Quartetts, dass in Ihrem Unterricht oft keine Musik gespielt, sondern stattdessen gelesen wurde. Hatten Sie einen Kanon?
Nein, ein Kanon wird in der Regel sehr hinderlich. Wenn man nicht gut zurecht kommt, dann sucht man sich einen Kanon (lacht). Na, was haben wir im Unterricht gemacht? Ich bin mit Klassen am Wochenende raus gefahren und habe eingepackt … Goethe-Gedichte. Ich kann mich entsinnen, dass beim ersten Gedicht alle ziemlich gelangweilt drein geschaut haben, aber nach zwei Stunden Gedicht nach Gedicht waren alle dabei. Es gibt keine feste Methode, man muss immer einzeln gucken. Ich gehe allerdings davon aus, dass das Künstlerische etwas ist, das jeden und den ganzen Menschen erfasst.
Es scheint, als würden heute Streichquartette gespielt werden, die vor dreißig, vierzig Jahren noch als nahezu unspielbar galten. Hat sich das technische Niveau dermaßen weiterentwickelt oder gibt es noch andere Gründe für diese Entwicklung?
Es ist richtig, dass es heute instrumentaltechnisch bessere Spieler gibt, mehr als früher. Es gab diese Zeit, aus der die ganzen großen Geiger kommen – Heifetz, Stern – in der in den jüdischen Familien die Eltern für ihr Kind eine große Möglichkeit für sozialen Aufstieg sahen. Das ist zumindest ein Grund, warum in der Wiege Odessa so viele gute Musiker herangewachsen sind. Eigentlich war die Zeit vor 100 Jahren aber ein schreckliches Pflaster. Wenn man sich die Zeitungsinserate der Zeit ansieht: »Wir garantieren mit der Naturmethode, dass Ihr Kind ein Superstar wird.« Vor allem die Früherziehung, die nach dem Krieg in Moskau und St. Petersburg einsetzt und die auch die DDR versucht hat mit meiner Hilfe umzusetzen, hat da viel verändert. Ich kann das mit einer Anekdote veranschaulichen, die sehr typisch ist: Wenn ich nach Westdeutschland eingeladen wurde, um zu unterrichten, dann kamen Kinder, und wir haben tüchtig gearbeitet, alles lief wunderbar, und ich sagte am Ende der Stunde, das war gut, komm morgen wieder – … dann hörte ich: Nee, morgen kann ich nicht, da habe ich Reitstunde.
Wie erklären Sie sich die aktuell große Anzahl junger Streichquartette?
Genau kann ich nicht erklären, warum es diese Fülle an jungen Leuten in Quartetten heute gibt. Das war vor vierzig Jahren tatsächlich anders, in der DDR gab es ja an den Hochschulen gleichsam gar kein Interesse an Kammermusik-Ensembles für Streicher. In meiner Violinklasse spielten auch alle Kammermusik, aber damit war ich Außenseiter. Ich denke, die Ausbildung ist im Allgemeinen, für Quartette im Speziellen, besser geworden. Ich sehe auch stellenweise mehr geistiges Interesse. Noch ein Grund ist vermutlich, dass die Spitzenorchester voll sind. Und dann erlebe ich immer mehr Leute aus den jungen Generationen, die wollen unabhängig sein, obwohl sie in den Top-Orchestern spielen könnten. Eine eindeutige Antwort gibt es wohl nicht. Wo es ein Problem gibt, ist: beim Publikum. Der Saal hier ist voll, das ist toll, aber schauen Sie sich das Durchschnittsalter an.
Was schlagen Sie vor? (Wir empfehlen VAN, die Redaktion) Kennen Sie den Briefwechsel Zelters mit Goethe? Goethe schreibt: Alles veloziferisch, also alles schneller und teuflischer. Wir beide gehören noch anderer Zeit. Umso verantwortlicher sollen Musiker heute wirken! ¶