Die Deutsche Orchestervereinigung fordert »differenzierte Öffnungsperspektiven«, Kurzarbeit auch für Freie und mehrjähriges Bundesgeld für kommunale Kulturetats.

Text · Titelbild spDuchamp (CC BY 2.0) · Datum 3.2.2021

Von 129 Tariforchestern sind 109 in Kurzarbeit, jede:r dritte freie Musiker:in denkt ans Aufhören. Die Deutsche Orchestervereinigung fordert jetzt »differenzierte Öffnungsperspektiven«, Kurzarbeit auch für Freie und mehrjähriges Bundesgeld für kommunale Kulturetats. Die ersten werden schon gekürzt. Doch es gibt auch Lichtblicke jenseits der hellen Flecken auf der Inzidenzkarte.

Dieses Mal ging es nicht um die Aufführungsstatistik. Normalerweise präsentiert die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) sie alle zwei Jahre den Medien, und selbst unter normalen Umständen wäre sie nicht normal ausgefallen – sondern überdurchschnittlich gut. Bis Mitte März 2020 hat der Klassikbetrieb in Deutschland geradezu gebrummt. Die permanent vollbesetzte Elbphilharmonie schien sich eher als Trendsetter denn als Ausnahme zu erweisen, Klassikfestivals waren zu 90 Prozent ausverkauft, und zum ersten Mal seit Beginn der Orchesterfusionierungen nach dem Ende der DDR gab es einen Zuwachs an Planstellen in den 129 öffentlich finanzierten Orchestern.

Inzwischen sind 109 dieser Orchester in Kurzarbeit. Und von den rund 55.000 Freiberufler:innen, die mit Musik beschäftigt sind, davon knapp 20.000 Interpret:innen aller Sparten, denkt offenbar ein Drittel daran, den Beruf aufzugeben. Über sie sprach Gerald Mertens, Geschäftsführer der DOV, zuerst, als die größte Musiker:innengewerkschaft der Welt am Dienstag zur virtuellen Medienkonferenz einlud. Allein daran zeigt sich, unter welchem Druck die ganze Landschaft steht. Es wird nun aber nicht mehr geklagt und gebeten, es werden Forderungen gestellt – nach Sicherung der Freien, nach einem mehrjährigen Bundesprogramm zur Stützung der Kommunen und nach Öffnungsperspektiven für die Kultur.

Gerade fürs Letztere war der Termin gut gewählt. Immer mehr breiten sich auf der deutschen Infektionskarte die Farben Blassrosa und Gelb aus, für Landkreise mit bis zu 100 bzw. 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner:innen. »Da müssen«, so Mertens, »die Gesundheitsministerien der Länder zu abgestuften Regelungen kommen.« Wenn einzelne Landkreise je nach Lage Schulen schließen dürften, müsse es umgekehrt möglich sein, bei niedrigen Werten auch Konzertsäle, Theater und Museen wieder zu öffnen, lokal und zeitlich differenziert. Die Befürchtung, Kulturreisende aus einem »roten« Landkreis könnten das Virus in einen »gelben« zurückbringen, wird relativiert durch eine Untersuchung, derzufolge der Einzugsbereich der meisten Häuser bei etwa 30 Kilometer liegt.

Mit härteren Daten wartet derweil die von Mertens zitierte Studie des Fraunhofer-Instituts auf. Nach Messungen im Konzerthaus Dortmund konnten Infektionen im Saal nahezu ausgeschlossen werden – vorausgesetzt Mund-Nasen-Schutz und eine Lüftungsanlage wie in diesem Haus. Empfohlen wird eine 50-Prozent-Belegung im Schachbrettmuster. Solche Veranstaltungen müssten in »gelben« Landkreisen wieder möglich sein, so der DOV-Geschäftsführer, da die Virolog:innen eine Inzidenz von unter 50 als beherrschbar ansähen. Die vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil erwogenen »unter 25« als Voraussetzung für offene Säle würden bedeuten, »dass der Kulturbetrieb frühestens im September wieder aufmachen kann.«

Bis dahin werden aber viele freie Veranstalter, Agenturen und Ensembles für immer zugemacht haben. Und den Soloselbstständigen, die »durch alle Raster fallen«, ist auch mit der Deutschen Orchesterstiftung nur begrenzt geholfen. Ermutigend immerhin, dass aus den Tariforchestern und ihrem Umkreis 4,1 Millionen Euro Spenden zusammenkamen, um freien Musiker:innen zu helfen. Bis jetzt wurden an 3.300 von ihnen je 600 Euro ausgezahlt. Das entspricht einer kleinen Monatsmiete; man stellt jetzt auf Stipendien von 2.000 Euro um. Die DOV fordert, in der Künstlersozialkasse auch Künstler:innen zuzulassen, die in einem nichtkünstlerischen Minijob mehr als 450 Euro dazuverdienen. Es müsse zudem für Selbständige ein »Kurzarbeitergeld für Zeiten mit geringer oder keiner Beschäftigung« geben.

Während 109 deutsche Orchester in Kurzarbeit sind, und zwar »auf null«, haben vor allem die elf Rundfunkorchester, ohnehin bestens dafür ausgestattet, weiterproduziert und gestreamt, ebenso, via Digital Concert Hall, die Berliner Philharmoniker. »Noch kein einziges Orchester hat Stellenkürzungen«, sagt Mertens, aber über das Reduzieren der Kulturetats wird etwa in Jena diskutiert, in München sind – allerdings nach jahrelangem Zuwachs – 6,5 Prozent Kürzung beschlossen worden; Nürnberg hat unter Protesten den Neubau eines Konzerthauses auf Eis gelegt. Wenn die Pandemie abklingt, werden in den Stadtkassen große Lücken klaffen. Darum fordert die DOV ein Bundesprogramm zur Stützung der kommunalen Kulturhaushalte.

Andere Bedingungen herrschen im Stadtstaat Hamburg, wo es mehr Spielraum für Kreditaufnahmen gibt. Dass der Senat aber nicht nur den Kulturetat um 10 Prozent erhöht hat, sondern im vergangenen Jahr 90 Millionen Euro zusätzlich ausgab, um Künstler:innen und Institutionen zu helfen, verdankt sich Überlegungen wie denen des Kultursenators Carsten Brosda, auf den sich auch Gerald Mertens bezieht. Auf einer Podiumsdiskussion der Süddeutschen Zeitung erklärte Brosda, die Kultur sei »stärker betroffen als jeder andere Wirtschaftszweig«. Die »Beschädigung des öffentlichen Raums«, die man in Kauf nehme, müsse eine Ausnahme bleiben und dürfe »kein neuer Zustand« werden.

Ein Lichtblick neben dieser Haltung könnte für Musiker:innen auch die Tatsache sein, dass »die Streamingnutzung durch die Decke gegangen ist», wie Mertens erklärt. Aber »die Musiker sehen davon nichts«, da Plattformen nicht verpflichtet sind, von sich aus über Verwertungsgesellschaften die Rechte angemessen zu vergüten. Genau das soll das neue Urheberrecht ändern, das vorige Woche vom Bundeskabinett beschlossen werden sollte. »In letzter Sekunde«, so die F.A.Z., hat das Kabinett »die Vorlage von der Tagesordnung genommen.« Ein Grund: Protest des Bundesverbands der Musikindustrie, der Majors, die »bestehende Businessmodelle« gefährdet sehen, nämlich sich selbst als Lizenzierer digitaler Onlinedienste. »Das ist eine große Diskussion«, sagt Mertens diplomatisch. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.