Der 1961 in Mailand geborene Daniele Gatti ist seit September letzten Jahres Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters Amsterdam. Mit diesem wird er am 6. September im Rahmen des Musikfests Berlin Wolfgang Rihms IN-SCHRIFT und Anton Bruckners Neunte Sinfonie aufführen. Das Konzert beginnt mit der Ouvertüre von Euryanthe von Carl Maria von Weber, bei der Gatti zusammen mit dem RCO (für: Royal Concertgebouw Orchester) auch das Bundesjugendorchester dirigiert. Diese Side-by-Side-Konzerte führt das RCO mit Jugendorchestern in jedem der 28 Mitgliedsstaaten der EU durch. Zuvor sind Gatti und das Concergebouworkest zu Gast beim Lucerne Festival (Konzerte am 4. und 5. September).Gatti dirigiert an allen großen Opernhäusern dieser Welt, der Metropolitan Opera in New York, der Mailänder Scala, bei den Bayreuther Festspielen und an der Bayerischen Staatsoper. Seit Mai 2016 ist er zusätzlich Artistic Advisor beim Mahler Chamber Orchestra. Mitte Juni war Gatti mit dem MCO bei den Dresdner Musikfestspielen zu Gast. In der Frauenkirche gab es ein Programm mit Beethovens Sinfonien No. 2 und No. 6 sowie dem Violinkonzert von Alban Berg mit Christian Tetzlaff als Solisten zu hören. Eineinhalb Stunden vor dem Konzert hat Arno Lücker Daniele Gatti in seiner Garderobe in den unteren Gewölben der Frauenkirche zu einem Gespräch getroffen.

Das Interview entstand im Rahmen einer Medienpartnerschaft von VAN mit den Berliner Festspielen.

Im 17. Jahrhundert gab es gut zwanzig Opernhäuser allein in Venedig. Jetzt kann man die Anzahl der Opernhäuser mit regelmäSSigem Spielbetrieb in ganz Italien fast an zwei Händen abzählen. Warum wird in kleinen Orten mit wunderschönen Opernhäusern wie in Barga in der Provinz Lucca nicht mehr regelmäSSig Oper gezeigt?

Gott sei Dank ist das so! (lacht) Aber ich sage Ihnen, warum das so ist. Vermutlich haben wir in unserem Land die schönsten Theater überhaupt auf der Welt. Vor zweihundert oder dreihundert Jahren war die Oper für die Leute damals noch reine Unterhaltung. Und zwar Unterhaltung für jedermann! Die Zeiten haben sich aber geändert. Heute sind wir Interpreten. Wir interpretieren Oper! Damals wurde Oper einfach gespielt! Genauso wie die Musik von Bach. Es gab keine Bach-Interpretation. Bach wurde einfach gespielt. Und die Leute sind einfach zum Zuhören gekommen. Ohne sich darüber Gedanken zu machen: Ah, das Tempo ist zu langsam, zu schnell oder so. Es gab also eine ganz natürliche Beziehung zwischen Musik, Musikern und Publikum. Mindestens in den letzten hundert Jahren ist die Bedeutung des Interpreten extrem gewachsen. Anders bei Komponisten. Die meisten neu komponierten Werke werden einmal uraufgeführt und verschwinden dann für immer. Und das Publikum kommt, um diesen einen Geiger, diesen einen Dirigenten, diesen einen Pianisten und so weiter zu erleben. Jeder hört fünfhundert Interpretationen von Beethovens Eroica und bildet sich eine Meinung, was er an den einzelnen Einspielungen mag und was nicht. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, in meiner Heimat Italien sind viele Theater leider geschlossen. Aber man muss auch sehen, dass es einen wesentlichen Unterschied zu der Opern- und Theaterszene in Deutschland gibt. In Deutschland gibt es fast in jedem staatlichen Theater eine ganze Spielzeit mit fast täglichen Aufführungen. In Italien beginnt die Saison im Herbst und endet im Sommer. Bei Repertoire-Aufführungen gibt es kaum Proben. Der Dirigent kommt einfach, stellt sich in den Orchestergraben – und dirigiert. Dabei gibt es Höhe- und Tiefpunkte. In Italien sind Theater häufig mal vier, fünf Tage hintereinander geschlossen. Aber wenn das Theater geöffnet ist, dann ist das Ganze ein Ereignis und die Leute strömen ins Haus. Außerdem finde ich persönlich, dass dieses Repertoire-Denken etwas mit der Art und Weise zu tun hat, wie wir heute Musik verkaufen. Ich bin ja aus einer Generation, die noch mit Schallplatten aufgewachsen ist … Sie wahrscheinlich mit MP3 …

Nicht nur. Wir hatten Langspielplatten und Musikkassetten.

Dann mussten Sie genauso wie ich noch zu einem Laden gehen, um sich Musik zu kaufen. Damit mussten Sie dann nach Hause, den Schallplattenspieler anstellen, die Platte auflegen …

Daniele Gatti in seiner Garderobe
Daniele Gatti in seiner Garderobe

… MEHR ALS NUR MAL schnell auf YouTube gucken JEDENFALLS.

Bravo, richtig! Mit diesen Smartphones können Sie überall und jederzeit alles an Musik hören. Aber, allein die Tonqualität ist meist schlecht! Und die Tatsache, dass Sie im Grunde immer alles unter Ihren Fingern haben, macht den Moment, in dem Sie Musik hören, zu einem Moment wie jedem anderen auch. Ja, diese Geräte haben unser Leben verändert – aber nicht auf eine gute Weise, wie ich meine. Menschen unterhalten sich überhaupt nicht mehr richtig. Und mit der Musik ist es auch so. Sie scheint durch die Technik entwertet worden zu sein. Wir brauchen das Besondere. Und in italienischen Städten, in denen es halt nur alle paar Tage eine Opernaufführung gibt, da ist Oper eben noch ein besonderes Ereignis, zu dem die Leute voller Spannung hinpilgern. Ich bin aber schon der Meinung, dass man viele Theater in Italien wieder öffnen sollte. Vor allem für junge Künstler. Die sollten sich da mit viel Zeit auf den Bühnen ausprobieren, bevor sie an den großen Häusern wie in Mailand, Rom, Palermo und so weiter singen. Heute dirigieren 22-Jährige schon an der Scala. Das ist viel zu früh! Klar, das ist der schnelle Rhythmus unserer Zeit, aber ich habe einen Rat an Sie, denn VAN ist ja, wie ich gehört habe, ein Klassik-Magazin für jüngere Leser: Nehmen Sie sich Zeit. Lesen Sie ein schönes Buch und unterhalten Sie sich mit anderen von Angesicht zu Angesicht! Es kann doch nicht sein, dass wir unsere Gespräche unterbrechen, nur weil das Smartphone klingelt! (lacht) Jetzt habe ich eine sehr lange Antwort gegeben. Eigentlich wollte ich ja erklären, wie es mit der kulturellen Situation in Italien aussieht. Es hat natürlich auch mit den Finanzen zu tun. Aber wir müssen auch feststellen: Es gibt weiterhin eine rege Musikkultur in Italien!

Ich habe Sie heute bei der Generalprobe mit dem Mahler Chamber Orchestra beobachtet. Sie reden wenig, aber wenn, dann leise und sehr bestimmt. Von diesem Orchester bekommen Sie sehr viel zurück, so scheint es. Sie lächeln – und die Musiker lächeln. Ist die Zeit der ›High-Voltage-Maestros‹ wie Toscanini und Co. vorbei?

Ja, ich denke schon. Toscanini war ja eigentlich ein Mann des 19. Jahrhunderts. Wenn Sie als Dirigent mit großartigen Orchestern wie den Berliner Philharmonikern, dem MCO, dem RCO oder den Wiener Philharmonikern arbeiten, dann ist das eine Beziehung, die gewachsen ist und weiter wächst. Sie laden dich ein, weil sie mit dir arbeiten wollen. Das Ziel ist dabei immer, der Musik so gut zu dienen, wie es überhaupt möglich ist. In diesen Situationen haben Sie nicht mit einzelnen Leuten zu kämpfen, denen Sie aufgezwungen wurden. Daraus entstehen dann diese Situationen, in denen die Musiker drauf warten, dass in zehn Minuten die Probenpause beginnt. Bei mir geht es nicht darum, die Musiker von etwas zu überzeugen, sondern eine gemeinsame Linie zu finden. Man muss dabei flexibel bleiben und lernen, den anderen zu verstehen. Sie haben ja nur die Generalprobe heute gehört. Wir haben vor allem den Klang in der Frauenkirche ausprobiert. Ich habe nur ganz wenig unterbrochen und korrigiert. Die vergangenen zwei Tage haben wir viel härter geprobt. Aber natürlich: Wenn Ihnen die Musiker mit einem Lächeln gegenübersitzen, dann wollen sie spielen! Sie haben selber entschieden, zu spielen. Und so werden aus den drei Stunden Proben drei Stunden Vergnügen.

Bassiges Stillleben im Frauenkirchenkeller
Bassiges Stillleben im Frauenkirchenkeller

Sie sind Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters. Das ist ein Orchester mit sehr hohem Frauenanteil. Ganz im Gegensatz zu den Wiener Philharmonikern. Da ist gefühlt nur die Harfe mit einer Frau besetzt…

Da gibt es inzwischen auch mehr Frauen! Vor dreißig Jahren war das anders, aber da sah es bei den Berliner Philharmonikern ähnlich aus! Es ist tatsächlich so, dass Frauen im Orchester die Soziologie des Ganzen verändern. Meine Mutter arbeitete zwar als Sekretärin an einer Rezeption, aber Frauen waren in den 50er Jahren hauptsächlich für Heim und Familie zuständig. Das Ende der 60er Jahre veränderte dann alles. Heute sind Frauen für mich absolut gleichberechtigt. Frauen sind Managerin, Ministerpräsidentin, Bundeskanzlerin. Genauso ist es im Orchester auch.

Themenwechsel. Ich bin ein groSSer Fussball-Fan…

Ich auch!

Sie sind ja aus Mailand. Und in Italien ist es wie hier in Deutschland. Bei Ihnen gibt es Juventus Turin, die seit 2011 jedes Jahr italienischer Meister werden – und in Deutschland ist es langweilig, weil Bayern München immer gewinnt…

Ich bin Fan von Inter Mailand! Wir sind von 2006 bis 2010 jedes Jahr Meister geworden.

Individuelle Vorbereitungen im Dresdner Gewölbekeller
Individuelle Vorbereitungen im Dresdner Gewölbekeller

Aber was können wir gemeinsam gegen Juventus und Bayern tun? Dazu brauchen wir offensichtlich Geld, Herr Gatti!

(Lacht) Na, Inter Mailand hat Geld! Der Club gehört ja zum großen Teil dem chinesischen Unternehmen Suning Commerce Group. Aber die Organisation des Clubs von Juventus Turin ist absolut perfekt. Noch vor zehn Jahren gab es da sehr große Probleme, nach der Aberkennung des Meistertitels 2005/2006 wegen Spielmanipulationen. Sie mussten ja sogar in die zweite Liga, in die Serie B absteigen. Jetzt ist es so, dass jeder Spieler, den Juve holt, funktioniert. Es gibt keinen Gossip, nichts. Sehr seriöse Arbeit! Mein Inter Mailand dagegen ist ein Club voller Fantasie! (lächelt) Natürlich sind wir eigentlich fußballerisch sehr gut, denn wir haben immerhin 2009/2010 zuletzt die Serie A gewonnen, damals noch unter José Mourinho. Und im Mai 2010 war ich persönlich in Madrid im Estadio Santiago Bernabéu als wir nach zwei Toren von Diego Milito gegen Bayern München im Finale 2:0 die Champions League gewannen! Aber seitdem leiden wir. Und das hat zwei Gründe: Erstens ist Massimo Moratti nicht mehr Präsident des Clubs. 2013 übernahm eine indonesische Investmentgruppe den Club, Moratti trat zurück. Danach übernahm das besagte chinesische Unternehmen den Verein. Alles sehr kompliziert, auch für die Spieler. Es gab viele Trainerwechsel. Aber am Ende gab es keine gemeinsame Linie. Und das war das große Problem! Aber ich bin optimistisch für die Zukunft, trotz des fatalen siebten Platzes in dieser Saison.

Zurück zur Musik. Im September dirigieren Sie das Concertgebouw-Orchester beim Musikfest Berlin mit Werken von Rihm und Bruckner. Ist Rihm ein zeitgenössischer Komponist, dessen Musik Sie im positiven Sinne erschüttert?

Das kann ich Ihnen dann in einigen Wochen in Berlin sagen. Denn ich gebe zu, dass ich mir die Partitur von Rihms „IN-SCHRIFT“ noch gar nicht angesehen habe …

Oh …

… Nein, das ist okay, dass Sie fragen! Bei meinen Aktivitäten muss ich einfach genau planen. Und der Plan ist, im Juli in die Partitur zu schauen und das wird bestimmt sehr interessant.

Mögen Sie diese Spannung, erstmals in eine für Sie ganz neue Partitur zu schauen? Oder denken Sie schon daran, wie Sie Ihr Dirigat angesichts möglicher Schwierigkeiten der Partitur organisieren?

Nun, wenn ich entscheide, eine Partitur einzustudieren, dann habe ich mir das ja selbst ausgesucht und bin hocherfreut und gespannt auf das Stück. Und in eine Partitur kannst du dich manchmal richtig verlieben. In andere Partituren schaue ich rein – und entscheide, das Ganze vielleicht ein paar Jahre abzuwarten. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

Eine Antwort auf “»Früher haben wir gespielt. Jetzt interpretieren wir nur noch!«”

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