Der Angriff der Volksrepublik China auf Taiwan am Donnerstag letzter Woche führt auch zu immer größeren Zerwürfnissen in der Klassikwelt. Mehrere europäische Orchester wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Concertgebouworkest Amsterdam und die Wiener Symphoniker sagen für den Herbst geplante China-Tourneen ab. Die Berliner Philharmoniker beenden ein mehrjähriges Residenzprojekt in Shanghai, dessen Start für diesen Sommer geplant war. 

Von den Absagen sind auch chinesische Künstler:innen betroffen. Der Internationale Chopin-Wettbewerb, einer der bekanntesten Klavierwettbewerbe der Welt, lädt chinesische Teilnehmer:innen wieder aus. Das New York Philharmonic verschiebt die für nächsten Monat geplante Uraufführung einer Auftragskomposition des chinesischen Komponisten Tan Dun auf unbestimmte Zeit. Auch ein Auftritt des Shanghai Symphony Orchestra beim diesjährigen Berliner Musikfest ist abgesagt. Das älteste und bekannteste Orchester Chinas gilt als staatliches Aushängeschild. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas hatte es 2021 eine »Rote Tour« durch sechs Städte Chinas unternommen. Außerdem war in Auftragskompositionen und Musikbildungsprojekten zu Revolutionsliedern der »glorreichen Geschichte der Kommunistischen Partei und dem Erfolg modernen chinesischen Musikschaffens« gedacht worden. 

In Meinungsbeiträgen und Sozialen Netzwerken werden diese Absagen als Zeichen einer vermeintlichen »Cancel Culture« teils heftig kritisiert. Gerade jetzt sei der kulturelle Dialog mit China wichtiger denn je, damit nicht alle Kanäle abbrechen. Viele Künstler:innen in China stünden dem Krieg zudem kritisch gegenüber. Diese bräuchten jetzt Unterstützung. Mit einer Ausladung spiele man der Rhetorik des chinesischen Regimes in die Hände, die dem Westen eine grundlegend chinafeindliche Gesinnung unterstellt. 

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Trotzdem steigt der öffentliche Druck auf chinesische Künstler:innen, sich von dem chinesischen Angriffskrieg zu distanzieren. Während einige chinesische Musiker:innen sich bereits kritisch zur Invasion äußern, bleibt der international bekannteste chinesische Klassikstar, der Pianist Lang Lang, zunächst stumm. In der Vergangenheit hatte Lang Lang stets betont, sich als Musiker zu politischen Fragen nicht äußern zu wollen. Sein Schweigen interpretieren einige Kommentator:innen jetzt als stille Zustimmung zum chinesischen Angriff. Es wird darauf hingewiesen, dass der in New York lebende Pianist in der Vergangenheit des öfteren bei wichtigen Feierlichkeiten des chinesischen Regimes in Anwesenheit des chinesischen Präsidenten aufgetreten sei, so etwa beim 10. und 20. Jahrestag der Übergabe Hongkongs 2007 und 2017. In der staatlichen englischsprachigen Zeitung China Daily wurde Lang Lang nach einem Treffen mit Präsident Xi Jinping 2015 in New York mit den Worten zitiert: »Ich hätte nie gedacht, dass die Hand von Präsident Xi so warm und weich ist. Er ist der sanfteste und freundlichste Spitzenpolitiker, den ich je getroffen habe. Wie ein echter Onkel. Ich habe mich ihm sehr nahe gefühlt.« Als vermeintliches frühes Anzeichen für eine regimefreundliche Gesinnung des Pianisten wird außerdem an einen Eklat aus dem Jahr 2011 erinnert, als Lang Lang bei einem Staatsbankett im Weißen Haus anlässlich des Besuchs des damaligen chinesischen Machthabers Hu Jintao das anti-amerikanische Propagandalied My Motherland gespielt hatte. In einem Interview mit der Zeitschrift Traveler vertrat Lang Lang zudem schon 2008 die chinesische Doktrin der Nichteinmischung: »Ich bin kein Politiker, aber ich glaube nicht, dass sich ein Land in die Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen sollte.« 

Wer als Künstler in China auch kulturpolitisch etwas erreichen will, muss sich mit dem Staat arrangieren.

Für sein Schweigen wird Lang Lang insbesondere von taiwanesischen Künstler:innen und chinesischen Dissident:innen stark kritisiert. Auf chinesischen Websites wie dem Sozialen Netzwerk Weibo, wo Lang Lang über 18 Millionen Follower hat, wird der Pianist hingegen dafür gefeiert, dass er dem internationalen Druck standhalte und »seinem Heimatland nicht in den Rücken falle«. Sein Instagram-Profil nebst kritischen Kommentaren und Anfeindungen ist seit gestern auf privat gesetzt und nicht mehr öffentlich zugänglich. In deutschsprachigen Feuilletons wird Lang Lang hingegen auch in Schutz genommen. Viele derjenigen, die den Pianisten kritisierten, verstünden nichts von den schwierigen Rahmenbedingungen für Kulturschaffende in China. Wer als Künstler in China auch kulturpolitisch etwas erreichen wolle, so wie Lang Lang mit seine vielen Musikbildungsprojekten, müsse sich mit dem Staat arrangieren. Die bipolare Einteilung chinesischer Kunst in entweder Staats- oder Dissidentenkunst gehe an der Realität vorbei, meinte Sinologin Barbara Mittler schon Anfang 2022 in VAN. Vielmehr fänden sich chinesische Künstler:innen changierend mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Ein gutes Beispiel sei Ai Weiwei, der als künstlerischer Leiter mit zuständig gewesen sei für den Bau des Stadions für die Olympischen Spiele 2008, dem sogenannten Vogelnest  – und gleichzeitig im selben Jahr ein Projekt zur Aufklärung der staatlichen Versäumnisse beim verheerenden Erdbeben in Wenchuan gemacht habe. 

Wie jedem Menschen müsste auch Musiker:innen das Recht eingeräumt werden, sich nicht politisch zu äußern, heißt es bezogen auf Lang Lang in einigen Kommentaren. Der bigotte Bekenntniszwang erinnere an die Gesinnungsprüfungen der amerikanischen McCarthy-Ära. Dabei gefährde jede kritische Äußerung auch die Familienangehörigen, die womöglich noch in China lebten. Viele chinesische Künstler:innen, die jetzt am Pranger stünden, seien zudem einfach unpolitisch. Verschiedene China-Expert:innen weisen allerdings darauf hin, dass Kunst vom chinesischen Staat stets als Propagandainstrument gesehen werde. Als aktuelles Beispiel wird auf die im März 2021 eingeführten Verhaltensregeln für chinesische Künstler:innen verwiesen, zu denen unter anderem die »Liebe zur Partei und ihren Prinzipien« und »der Dienst an den Menschen und dem Sozialismus« gehört. Dies erinnere an die von Mao Zedong 1942 in den Yan’aner Reden aufgestellte Forderung, dass Kunst im Dienst von Partei und Politik stehen und als Propagandakunst dem Volke dienen sollte. Wer sich nicht daran halte und von der Parteilinie abweiche, werde mit Berufsverbot belegt und in der Öffentlichkeit moralisch diskreditiert. 

Unklar bleibt vor diesem Hintergrund das Schicksal des in seiner Heimat als »Klavier-Prinz« bekannten Pianisten Yundi Li, der zu den populärsten Musikern Chinas gehört und auch in Nordamerika und Europa lange Zeit sehr erfolgreich war. Li war im Oktober 2021 wegen des Vorwurfs der illegalen Prostitution festgenommen worden und ist seitdem aus der Öffentlichkeit verschwunden. 

Verständnis für Chinas Angriff äußert hingegen der russische Dirigent Valery Gergiev. Wegen seiner Nähe zum Putin-Regime hatte Gergiev nach Beginn des Ukraine-Kriegs Anfang 2022 alle Engagements im Westen verloren und tritt seitdem verstärkt in den ehemaligen GUS-Staaten, aber auch in China auf, wo er künstlerischer Leiter des neu gegründeten »New Silk Road Festivals« in Beijing ist. Gergiev kündigt an, »nach der sicher erfolgreichen Operation zur Wiedervereinigung des chinesischen Brudervolkes« ein »Konzert des Sieges« auf dem Taipeier Liberty Square zu veranstalten. 

Wenn man nicht mitgespielt hat, war es mit dem Dialog ganz schnell vorbei.

Ähnlich wie die deutsche Politik sehen sich indes auch deutsche Kulturinstitutionen und -unternehmen dem Vorwurf ausgesetzt, zu lange gegenüber den politischen Realitäten in China, dem hegemonialen Expansionsstreben unter Präsident Xi Jinping und den Menschenrechtsverletzungen die Augen verschlossen zu haben. Stattdessen habe man sich vom chinesischen Regime systematisch für ein Artwashing instrumentalisieren lassen. Kritisiert wird vor diesem Hintergrund auch das Label Deutsche Grammophon, das 2018 seinen 120. Geburtstag mit einem Galakonzert vor dem Kaiserlichen Ahnentempel in Peking feierte. Der Tempel liegt gleich neben dem Tian’anmen Platz, der 1989 zum Symbol für die gewaltsame Niederschlagung der studentischen Protestbewegung wurde. Chinesische Dissidente:innen interpretieren das Konzert als Versuch, die Verbrechen der Vergangenheit mit kulturellem Hochglanz symbolisch zu übertünchen. 

Verschiedene Kommentator:innen weisen darauf hin, dass der vermeintliche »Kulturdialog« immer nur eine Einbahnstraße gewesen sei, weil man sich die Bedingungen habe diktieren lassen. Als Beispiel werden die vertraglich vereinbarten Neutralitätsklauseln genannt, mit denen sich westliche Orchester verpflichtet hätten, bei Gastspielen in China nicht oder nur neutral zu politischen und religiösen Fragen Stellung zu beziehen. Wenn man sich diesen Bedingungen nicht unterworfen habe, sei es mit dem Austausch ganz schnell vorbei gewesen. Hierbei wird an die Absage der China-Tournee des Prague Philharmonic Orchestra im Juli 2019 erinnert. Grund war die Weigerung des Prager Bürgermeisters Zdeněk Hřib, in einem Städtepartnerschaftsvertrag mit Beijing Taiwan und Tibet als Hoheitsgebiet Chinas anzuerkennen. Auch geplante Auftritte des Pražák Quartetts und des Czech Radio Symphony Orchestra wurden damals von chinesischer Seite auf unbestimmte Zeit »verschoben«. In einem Gastbeitrag in der Washington Post hatte Hřib im Dezember 2019 davor gewarnt, im Umgang mit China zu vorsichtig zu sein und aus Angst vor Erpressung und Drohungen auf Werte und Integrität zu verzichten. 

In Sozialen Netzwerken kursiert ein Video eines Auftritts der Bamberger Symphoniker in der chinesischen Stadt Changsha am 25. Oktober 2019, bei der das Orchester als Zugabe das Mao-Loblied Liuyang River gespielt hatte. »Mao ist wie die rote Sonne in unseren Herzen«, heißt es darin. Der Intendant der Bamberger Symphoniker verteidigte die Aufführung »als Geste des Respekts, der Freundschaft und der Völkerverständigung«. Auch ein Foto der Intendantin der Berliner Philharmoniker, Andrea Zietzschmann, mit dem einflussreichen Parteisekretär der Kommunistischen Partei Chinas für die Hauptstadt Peking, Cai Qi, anlässlich einer China-Tournee des Orchesters 2018 macht die Runde. Qi, ein enger Vertrauter Xi Jinpings, ist seit Kriegsbeginn mit besonders drastischen anti-westlichen Äußerungen aufgefallen. Für die Berliner Philharmoniker ist die Situation besonders dilemmatisch, da sie einerseits über die Shanghai-Residenz enge Kontakte nach China unterhalten, gleichzeitig aber in Taiwan wie Popstars gefeiert werden.

Für einen Shitstorm sorgt indes ein Solidaritätskonzert, bei dem chinesische und taiwanesische Musiker:innen auf Einladung der Bundesregierung im Schloss Meseberg auftreten. Auf der Einladungskarte zum Konzert ist unter anderem das daoistische Yin-Yang Symbol abgedruckt – wohl als vermeintliches Zeichen von Frieden und Versöhnung. Man wisse gar nicht, was peinlicher sei, so ein Kommentar unter dem Livestream zum Konzert, »der orientalistische Kitsch oder die gedankenlose Verwurstung eines Symbols, das die Realität – der Versuch einer Hegemonialmacht, einen kleineren, friedlichen Staat gewaltsam zu unterjochen – ad absurdum führt«.

Hätte man diese Diskussion schon beim Ukraine-Krieg geführt, müsste man nun nicht wieder in eine platte Diskussion von »Canceln« oder »Nicht-Canceln« zurückfallen.

Viele Kommentator:innen erinnern an die Parallelen zu den Diskussionen rund um den Ukraine-Krieg. Genau wie damals sei die plötzlich zur Schau getragene politische Sensibilität und der selbstgefällige Moralismus vonseiten einiger Kulturinstitutionen scheinheilig. Wie die deutsche Wirtschaft habe auch der Klassik-Jet-Set jahrelang auf China gesetzt und es als »Boom-Standort« verklärt. Man habe sich mit seinen Tourneen gerne als verlängerter Arm deutscher Unternehmen und Außenwirtschaftspolitik verstanden. Das Zitat Simon Rattles aus dem Jahr 2005, nach dem »in China die Zukunft der klassischen Musik liegt«, stehe stellvertretend für ein Verständnis des Landes nach in erster Linier kapitalistischen Marktkategorien von Wachstum, Angebot und Nachfrage. Dabei sei in puncto Menschenrechte und Demokratie China auch 2005 schon nicht die Zukunft gewesen. Auch die Rolle des Kulturjournalismus wird diesbezüglich von einigen kritisch hinterfragt. Journalist:innen seien gerne »embedded« mit Orchestern nach China gereist und hätten von dort freundlich-klischeehafte Postkartentexte zurückgeschrieben. Nun sähen sie plötzlich in jedem chinesischen Musiker einen potentiellen Xi-Versteher.

Verschiedene Vertreter:innen von Tibet-Initiativen sowie der unterdrückten uigurischen Minderheit in China kritisierten, dass sie mit dem Hinweis auf die kulturellen Genozide in Tibet und Xinjiang bei deutschen Orchestern regelmäßig auf taube Ohren gestoßen seien. Dass man China-Gastspiele einerseits stets als Kulturaustausch maskierte, gleichzeitig aber ignoriert habe, dass China seit Jahrzehnten versuche, kulturelle Traditionen auszumerzen, sei schon lange vor dem Taiwan-Krieg ein Skandal gewesen. Der eigenen Verantwortung habe man sich stets dadurch entledigt, dass man auf die durch die Musik »implizit transportierten humanistischen Werte« verwies. Das Signal, das man jetzt aussende, sei: Kultureller Genozid, Gulags, Zwangsassimilation und Organraub seien okay, aber eine »Invasion« ginge dann doch zu weit. Es sei traurig, dass es erst der täglichen Kriegsbilder auf allen Kanälen bedürfe, damit ein Umdenken stattgefunden habe. 

Ob dieses Umdenken allerdings tatsächlich nachhaltig ist? Einige Kommentator:innen wiesen darauf hin, dass schon während des Ukraine-Kriegs die Klassikwelt »ihre Unschuld verloren habe«. Aber es sei versäumt worden, damals in eine ehrliche Diskussion einzusteigen, was Kulturaustausch mit Ländern wie Russland oder China bedeute, ob es rote Linien gebe und wie man damit umgehe. Während die Ampelregierung im Rahmen der neuen »China-Strategie« der jahrzehntelangen »Wandel-durch-Handel«-Maxime abgeschworen habe und auf eine wertebasierte Außenpolitik und einen schärferen Kurs gegenüber China umgeschwenkt sei, hätte die Klassikwelt auch nach dem Ukraine-Krieg einfach weitergemacht wie zuvor. Hätte man sich schon damals ernsthaft mit den Zielen, Chancen und Risiken von Kulturaustausch auseinandergesetzt, müsse man nun angesichts des chinesischen Angriffs nicht wieder in eine platte Diskussion von »Canceln« oder »Nicht-Canceln« verfallen. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com