Lieben Sie Bruckner? Na, wer liebte den Bruckner denn nicht heutzutage. Ist ja nicht mehr wie anno dazumal, als der Brucknerliebende zwischen alle Stühle geriet. Anfangs waren das zwei gefährliche Hoch- und Großstühle: Auf dem einen lungerte die Bayreuther Skylla mit der Meister-Dürer-Mütze; sie stellte sich, bei allem Wohlwollen für den buckelnden Bruckner, unter Zukunftsmusik wohl etwas anderes vor als Symphonik. Auf dem anderen lauerte die beckmessende Charybdis und fand, wer sich irgend mit der Bayreuther Schlange einlasse, der sei des Teufels: Auch wenn er sich ganz unwagnerisch an der Sonatensatzform abarbeite, kämen doch nur symphonische Riesenschlangen heraus: eine Vision, wie Beethovens Neunte mit Wagners Walküre Freundschaft schließt und endlich unter die Hufe ihrer Pferde gerät (Eduard Hanslick). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liebten den Bruckner dann die konservativen Großsinfoniker, deren Riesenschlangen heute nur selten gespielt werden, Wilhelm Furtwängler etwa oder Franz Schmidt. Alle Stühle gingen unter den Hufen der Weltgeschichte zu Bruch, als schließlich die Allerfalschesten den wehrlosen, da längst toten Bruckner liebten. Noch eine Woche vor Kriegsende, am 1. Mai 1945, münzte der großdeutsche Rundfunk die Trauermusik für Wagner, die im Adagio der Siebten steckt, auf Adolf Hitler um. Kein Wunder, dass die toxische Brucknerliebe der mörderischen Falschmünzer nach dem Krieg abschreckend wirkte. Da suchte mancher das, was auch bei Bruckner zu finden wäre, lieber bei Gustav Mahler: klangprächtige Proto-Moderne und abgründige Ländlerei zugleich, Gewalt und Schönheit, große sinfonische Regen- und Sonnenbögen, Einheit durch Vielfalt, Fortschritt durch Stilbruch. Tempi passati, zum Glück. Nicht alles ist schlechter heutzutage. Eine große neue Brucknerrezeption vom alten Bruno Walter über Jochum und Wand bis zu Skrowaczewski, Haitink oder auch Metzmacher hat diese heiklen Anfänge, wenn nicht auf der geschichtsvergessenen Müllhalde, so doch in der Asservatenkammer der Musikhistorie entsorgt. Bruckner zu lieben ist unverdächtig. Denn es gibt so viele Arten zu lieben, wie es Liebende gibt. Aber die Vielfalt der Welt soll mich nicht daran hindern, eine Typologie des Brucknerismus zu versuchen: sieben Arten, Bruckner zu lieben.

1. Die Gebläsesüchtige

Einmal traf ich nach einem Konzert eine stets gutgelaunte Bekannte, von der ich gar nicht wusste, dass sie in Konzerte geht. Ein italienischer Dirigent hatte eine wunderbar leichtfüßige Sechste von Bruckner geleitet. Und nicht nur, weil vor der Pause die Italienische Sinfonie auf dem Programm gestanden hatte, dachte man verblüfft: Hör an, da steckt glatt einiger Mendelssohn im Bruckner.

Doch meine Bekannte war trotz guter Laune ein wenig enttäuscht. Eigentlich, sagte sie, gehe man doch zu Bruckner, um sich richtig wegblasen zu lassen.

Aber schön sei‘s natürlich trotzdem gewesen!

Auch wer sich bei Bruckner keine plump dröhnende Emphase wünscht, wird kaum abstreiten, dass das Weggeblasenwerden eine höchst lustvolle Erfahrung ist. Wer mag abschätzen, für wie viele Hörer eben diese pure Freude an der physischen Überwältigung das Entscheidende ist? Das hat gewiss nur bei den wenigsten mit Katholizismus oder gar deutschnationaler Lust am Wurzelsepp-Monumentalismus zu tun, sondern ist eher so eine Art l’extase pour l’extase. In einer frischen Unschuld, die nur verschärfte Lustbremsen anprangern werden.

Kann man sich also eine Brucknersinfonie in kunstvoller Schrumpfversion vorstellen, wie sie Arnold Schönberg von Mahlers Lied von der Erde schuf? Tatsächlich gibt es eine Kammerfassung von Bruckners Siebter für Klarinette, Horn, Streichquintett, Klavier und Harmonium. Dafür brauchte es allerdings die Brainpower von gleich drei Komponisten: Hanns Eisler, Erwin Stein und Karl Rankl verfertigten sie anno 1921 für Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. Dass der Verein just in dem Jahr pleiteging und aufgelöst wurde – von diesem merkwürdigen Zufall mag man halten, was man will. Meine Bekannte jedenfalls würde, fürchte ich, beim Gedanken an einen Kammer-Bruckner am Ende doch noch ihre gute Laune verlieren.

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2. Die Gottsuchenden

Freilich, nichts gegen katholische Brucknerliebende. Oder sufische oder kabbalistische oder zoroastrische, oder überhaupt Gottsucher jedweder Art. Denen in herabstürzenden Oktaven das Antlitz Gottes erscheint. Und denen es niemals einfiele, in der Widmung der Neunten an den lieben Gott etwas Bespöttelnswertes zu sehen, nur weil es kindlicher klingt als Soli Deo Gloria.

Mit Frömmeltum hat das nichts zu tun. Auch einen Expressionisten wie Ernst Bloch wehte der Geist der Utopie (1919) aus Bruckners Sinfonik an. Und was ist Gott anderes als Geist der Utopie?

Was in jedem Ohr und jedem Herzen aus diesem Feierlich und Misterioso werden kann, mag sich von Ohr zu Ohr und von Herz zu Herz unterscheiden. Aber zweifellos kann im Erlebnis von Bruckners Es werde Raum-Klang eine mystische Dimension liegen. Gewiss gibt es ebenso viele Formen der Mystik, wie es Formen der Liebe gibt. Und so ist natürlich auch Raum für den katholischen Brucknerianer, der die Frage unbedingt bejahen wird: Ehrfürchten Sie Bruckner?

3. Der Partiturfrickler

Mit Ehrfurcht wird sich nicht begnügen, wer beim Brucknerhören die Partitur auf den Knien oder im Kopf hat. So wie ein Freund von mir, der immer genau weiß, welche Ur- oder Letzt- oder Haas- oder Mischfassung ihm da begegnet. Er erkennt auf Anhieb die Fausse Reprise und den eigentlichen Reprisenmoment im Kopfsatz der Sechsten. Er achtet auf aufsteigende Sekundschritte in zweiten Themen wie auf korrekte Phrasierungsbögen im dritten Satz der Achten, auf Tempomodifikationen absteigender Achtel sowieso. Lauert auf die Rückkehr zur Tonika in der Coda des kontrapunktisch vertrackten Finales der Fünften. Folgt dem sinnigen Vorbereitungsprozess und misst den exakten Schärfegrad jener gewaltigen Kulminationspunkte, die meine gutgelaunte Bekannte so wohlig im Bauch empfindet. Niemals lässt er sich ein bedeutungshuberisches X für ein akkurat musiziertes U vormachen. Mitdenkend gewichtet er seinen Bruckner.

Ein kopflastiger Mystikverneiner ist er darum gewiss nicht. Vielleicht könnte man ihn mit einem Schriftgelehrten vergleichen, der Gott im Buchstaben aufstöbert. Erfahrung zu suchen heißt für ihn nicht, sich etwas passiv widerfahren zu lassen, sondern aktiv in Erfahrung zu bringen. Warum aber sollte Sinn unsinnlich sein?

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4. Der Oberösterreicher

Jedenfalls schadet es Bruckner-Höhenflügen nicht, wenn der Hörer mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Dieser Boden muss nicht die Partitur sein, sondern kann beispielsweise auch jener Grund sein, in dem Bruckner wurzelt: Abendland und Oberösterreich. Bruckners Vater, der Ansfeldner Lehrer, spielte in der Kirche die Orgel und beim dörflichen Tanzvergnügen die Geige. Bruckners Sinfonik packt einfach beides zusammen, Palestrina und Landler, Polyphonie und gemächlichen ¾-Schritt.

In Bruckners Klangwelt nicht nur Sancta Mater Ecclesia zu hören, sondern auch Austria Superior, hat nichts mit Austrian Supremacy zu tun. Die lateinische Bezeichnung gilt dem dem Fürstenthum ob der Enns (supra anasum), das im 13. Jahrhundert aktenkundig wurde. Nix Blut-und-Boden-Scholle, sondern Duft und Luft der Heimat, ohne welche die Unendlichkeit nur tönendes Erz und klingende Schelle wäre. Dieser Liebe zur eigenen Herkunft bedeutet die Heimat festen Boden und utopisches Märchen zugleich. Gewiss schließt sie nichts Fremdes und keinen Fremden aus. Denn sie versteht ja von ganzem Herzen, warum in Ungarn die Märchen beginnen: Messi, messi földön, meg az operencian is tul – in einem fernen, fernen Land jenseits von Operencia (ob der Enns). Diesseits und Jenseits gehören zusammen.  

5. Die Praktikerin

Ein anderer Boden für die Hörerbeine ist es, wenn man selbst einmal mitgespielt hat. Manches anspruchsvolle, gutbesetzte Laienorchester wagt sich irgendwann an Bruckner. Wer da einmal die zweite Geige gespielt und so die Vierte aus der Tiefe des Raums erlebt hat, der hört Bruckner mit anderen Ohren. Meine hinreißende Frau kann Bände erzählen über Gedrängel auf dem überfüllten Podium, nickeliges Stühlerücken oder Kampf um Bogenfreiheit. Und doch ist sie als bekennendes Brucknergroupie das beste Beispiel, dass die Kenntnis hand- und beinfester Schwierigkeiten beim Bruckneraufführen das Gefühl unendlicher Erhabenheit nicht ausschließt.

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6. Sie

Ermahnung an mich selbst: Klassifizierungen sind Hilfskonstruktionen. Der Versuch, eine Typologie der Brucknerliebenden zu erstellen, muss sich also vor der Versuchung hüten, das große U der Welt auf ein Schema X zu reduzieren. Typ sechs sind darum Sie, liebe Leserin, lieber Leser: all das, was Sie an Bruckner lieben. Die Art und Weise, wie Sie Bruckner lieben.

7. Die Verängstigte

Kann man sogar handfeste Bruckner-Angst zu einer Form der Bruckner-Liebe umvernünfteln? Vor zwanzig Jahren, als ich in Wien studierte, ging ich einmal mit einer reizenden Italienerin aus Padua in den Musikverein. Bruckners Vierte, die Wiener Philharmoniker von Herbert Blomstedt dirigiert, Plätze auf dem Podium hinter den Kontrabässen – eine Konstellation, von der ich mir sicher auch eine aphrodisierende Wirkung auf meine Begleitung erhoffte.

Aber die Italienerin bekam‘s mit der Angst. Bruckners Wucht am eigenen Leib zu spüren, machte ihr einen Heidenschreck. Ich hingegen staunte wie ein Esel, dass auch einem Hörer in den letzten Tagen des 20. Jahrhunderts bei Bruckners Wucht noch angst und bange werden konnte.

Später aber hatte ich das Gefühl, dass meine Begleitung in diesem Konzert mehr von Bruckner begriffen hatte als ich.

Fürchten Sie Bruckner? ¶


Sieben Arten, Bruckner zu lieben, in @vanmusik.

Dieser Text ist erstmals erschienen im Orchesterbuch des Bruckner Orchester Linz.

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹.