Nach seinem Studium (Musikwissenschaft, Germanistik und Politik) arbeitete Bernhard Glocksin zunächst als Dramaturg am Niedersächsischen Staatstheater Hannover, am Theater am Neumarkt Zürich und am Salzburger Landestheater. 1995 wurde er Chefdramaturg am Staatstheater Mainz, dann Chefdramaturg und stellvertretender Intendant am Deutschen Theater Göttingen. Seit 2004 ist Glocksin Künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper, »Berlins viertem Opernhaus« (Klaus Wowereit). Arno Lücker war mit Bernhard Glocksin in der Deutschen Oper. Beide haben sich gemeinsam Giacomo Meyerbeers Die Hugenotten mit Star-Tenor Juan Diego Floréz in der Hauptrolle angesehen und anschließend über »kleine« und große Opernhäuser gesprochen.
VAN: Die Neuköllner Oper ist offenbar ein Ort für politisches Musiktheater. Mit dem Stück Yasou Aida! (2012) habt ihr mit Verdi auf die griechische Finanzkrise reagiert, in Die Akte Carmen (2015) geht es mit der Musik von Bizet um illegale Einwanderer und in Tosca G8 zuletzt sind die beiden Protagonisten der Puccini-Oper, Tosca und Cavaradossi, Protest-Künstler beim G8-Gipfel 2001 in Genua. Aus welcher Überzeugung macht ihr politisch aktuelles Musiktheater?
Bernhard Glocksin: Wir an der Neuköllner Oper versuchen ja, ein ziemlich breites Spektrum an Musik und Inhalten abzubilden. Aber es geht immer darum, sich zu den aktuellen Dingen in der Welt zu verhalten. Man kann sich da natürlich leicht zurückhalten und sagen: »Ich bin ja nur Künstler!« oder »Ich bin ja nur Bankangestellter!« Ich denke: das stimmt nicht, wir sind doch schließlich ganze Menschen und nicht nur Funktionsträger! Das ist das Motiv, was man wirklich grundsätzlich »politisch« nennen kann. Und mit dem jeweiligen Team und je nach tagesaktueller politischer Situation beleuchten wir die Themen. Bei einer Vielzahl von Produktionen, die mich persönlich als Künstlerischen Leiter beschäftigen und von mir als Impulsgeber ausgehen, beschreiben wir jeweils neu die Spielräume, die für uns an der Neuköllner Oper möglich sind und die sich andere Institutionen eigentlich auch erkämpfen sollten und zum Teil auch erkämpft haben. Um es mit anderen Worten zu sagen: Ich glaube, es ist falsch, sich in der Welt, in der wir gerade leben, zurückzuziehen und zu sagen: »Man kann eh nichts tun!« Das ist eine Wohlstands-Attitüde. Natürlich kann man etwas tun. Auch wir Theaterleute. Wir können die aktuellen Diskurse auf anderer Ebene widerspiegeln. Das muss theatral, das muss emotional sein – und vor allem auch im Verbund mit der Musik überzeugen. Man probiert viel aus. Und mal funktioniert es gut und mal nicht so gut.
Konkret, wie reagiert ihr denn zum Beispiel auf die Geflüchteten-Thematik?
Da muss man als Teil des Berliner Theatersystems zunächst auch fragen: Was können wir tun, und was machen die Anderen gerade? Unsere Antwort ist dabei: Da, wo andere gerade unterwegs sind, da müssen wir uns nicht auch noch einmischen, nur, weil es irgendwie »dazugehört« oder halt ein großes Thema betrifft. Das Thema der Geflüchteten ist eine Frage, die wir hier am Hause sehr intensiv miteinander besprechen. Wir arbeiten mit geflüchteten Kindern in Heimen. Das sind Projekte, die finden direkt vor Ort oder bei uns am Hause statt. Aber nicht im Sinne, dass wir daraus dann eine »Premiere« machen und das Ganze dann der Journaille präsentieren. Das machen wir eher still.
Wie sieht es mit anderen Themen bei euch aus, zum Beispiel dem aufkommenden Rechtspopulismus hierzulande auch im Zusammenhang mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten?
Dinge wie diese fordern uns gerade sehr stark heraus. Es geht ja gar nicht primär um den nächsten amerikanischen Präsidenten, sondern um eine grundsätzliche Frage nach Werten und deren gesellschaftlicher Relevanz in einer »postfaktischen Demokratie«, um dieses Phänomen, dass derjenige mit den meisten Twitter-Followern den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen darf. Das ist gefährlich. Das erinnert mich an 2012, als wir das Thema der griechischen Finanzkrise in Yasou Aida! angegangen sind. Das, was damals mit dieser Krise einherging, das war ja nicht nur eine Diskussion um Schulden und finanzielle Unterstützungen, sondern da ging es konkret um die Zerstörung von Kulturen – unter dem Deckmantel der Behauptung, wir würden eine Ökonomie retten. Zurück zu Trump: Wir arbeiten gerade an einer Produktion, die wir im September 2017 herausbringen werden. Der derzeitige Arbeitstitel ist »Fuck the Facts!«. Wir betrachten das Ganze wirklich von Berlin aus. Berlin ist ja so etwas wie das neue Mekka, das neue Jerusalem der Internetaktivisten, der Hacker, die in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg leben. Es geht bei dieser Produktion um das Anonymisierungsnetzwerk Tor des Journalisten und Computerexperten Jake Appelbaum – und um seinen tiefen Fall, seiner Be- und Verurteilung ausschließlich im Netz, also jenseits einer realen Justiz und so weiter. Wir wollen das musiktheatralisch hinterfragen: Was droht uns eigentlich, wenn Gefühle und Meinungen, die man ins Internet bläst, unsere Wirklichkeit bestimmen, strukturieren, wenn Fakten nicht mehr zählen sondern Stimmungen und auch Lügen.
Du hast von den Berliner Stadtteilen Prenzlauer Berg und Kreuzberg gesprochen. Ihr befindet euch, wie der Name schon sagt, in Neukölln, direkt am U-Bahnhof Karl-Marx-StraSSe. Wie beeinflusst eure Lage euren Spielplan?
Für uns ist Kultur so eine Art contact zone. Wir versuchen immer, mit und nicht über Leute etwas zu machen. Wir sind hier umgeben von Zugereisten – und, ja, das inspiriert einen in der künstlerischen Arbeit. Wir schlagen Brücken zwischen Subsystemen und Szenen, die wir hier vorfinden. Das ist ein starkes Motiv unserer Arbeit. Wenn du auf unsere Lage hier ansprichst: Es kann dir auch passieren und es ist schon passiert, dass Kollegen in Mitte oder Schöneberg eine Faust ins Gesicht bekommen haben. Es gibt wirklich eigenartige Gewaltphänomene in unserer Stadt, aber es würde zu kurz greifen, das vornehmlich in Neukölln zu verorten.
Themenwechsel. In der Bildenden Kunst scheint mir die Offenheit von Geldgebern, Mäzenen, Sponsoren, viel gröSSer zu sein, wenn es um die Unterstützung von wirklich Schrägem, vielleicht politisch Provokativem geht. Warum ist es in der klassischen Musikszene dann viel eher so, dass derjenige, der ohnehin im Geld schwimmt, noch mehr oben drauf bekommt? Das Altbekannte wird gefördert, die Millionen gehen in ästhetisch vorausschaubare Leuchtturmprojekte.
Die Beobachtung stimmt. Das Ganze ist aber ein strukturelles Problem, das mit der Verfasstheit unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft zu tun hat. Der, der schon viel hat, bekommt noch mehr. Das ist ein gesellschaftsimmanentes Phänomen. Übertragen auf die Musiktheaterlandschaft: Der Star-Tenor mit den sehr hohen Abendgagen gilt als der Gewinner und der Künstler in der freien Szene, der Projektförderanträge schreiben muss, betrachtet man als den Verlierer. Aber die Wahrnehmung des ästhetischen Ergebnisses ist noch eine andere Sache. Die Öffentlichkeit merkt nämlich sehr wohl, dass unsere Produktionen eine hohe Relevanz besitzen, dass die große »Kunstblase Oper« nicht alles ist. Und so wird auch darüber berichtet. Unsere Premieren erregen dadurch manchmal mehr Aufsehen als eine Premiere an einem der drei großen staatlichen Opernhäuser.
Wir waren JETZT GEMEINSAM in Meyerbeers Die Hugenotten an der Deutschen Oper in der Regie von David Alden mit Juan Diego Floréz in der Rolle des Raoul. Wie nahe ist dir denn groSSe Oper heute?
Ich habe ja an der Staatsoper Hannover angefangen als Dramaturg. Daher kenne ich das Ganze große Operntier natürlich von innen heraus. Das ist alles schön und gut, aber diese kulturellen Hochburgen, diese festen Bastionen sind heute absolut unzeitgemäß. Ich denke, dass wir öffentlich geförderte Kultur unbedingt anders definieren müssen, um zukunftsfähig zu sein. Wir müssen die Strukturen ändern, aber auch an diesem merkwürdigen Besitzanspruchsdenken der Abonnenten arbeiten. Wir brauchen schlanke Strukturen und inhaltlich sollten wir wirklich versuchen, von dieser spätfeudalen Sichtweise auf unsere Kultur wegzukommen – hin zu einer Verlebendigung des Ganzen. Wir brauchen Oper und Theater nicht mehr, um uns selbst zu vergewissern. Da gibt es andere Kanäle. Es muss kreativer werden. Weg von diesem: »Wir sind das Opernorchester – und wir machen nur das, was in unseren Tarifverträgen steht!«
Du bist als Künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper ja quasi Intendant und dein eigener Chefdramaturg in Personalunion. Trägst du manchmal Konflikte mit dir selber aus, wenn es zum Beispiel darum geht, etwas scheinbar Unpopuläres zu machen, bei dem du als Dramaturg denkst: »Das will ich unbedingt machen!« – wo dir dann aber der Intendant in dir sagt: »Das bringt zu wenig Zuschauer!«?
Diese Situation habe ich ständig! (lacht) Ich würde so gerne viel mehr und noch ganz andere Projekte machen, in denen ganz viel Herzblut steckt! Vieles kann ich aber in den Strukturen hier nicht oder noch nicht realisieren. Daher will und muss ich das Machbare ständig reflektieren. Wir sind ja drei Leute im Direktorium der Neuköllner Oper. Daher sitzen wir ständig zusammen und beraten: »Welches Thema ist wirklich stark?«, »Was ist uns thematisch-ästhetisch wirklich ein Bedürfnis?«, »Was ist relevant?« Wir versuchen also fortlaufend, uns selbst zu hinterfragen: »Was ist notwendig?« und »Was ist möglich?«. Es gibt natürlich ökonomische Grenzen in unseren Strukturen, mit denen wir arbeiten müssen …
Wie sehen denn die Strukturen kurz gefasst aus? Ein festes Orchester habt ihr ja nicht…
Nein. Wir haben ein Mindestmaß an fester Struktur hier im Hause. Technik und so weiter. Aber alles sehr klein und schlank besetzt. Die künstlerischen Produktionen hier sind grundsätzlich frei. »Frei« heißt: Am Anfang steht immer eine Idee und ein Wollen und daraus entsteht das Stück. Und auf dieser Basis schauen wir dann in der freien Szene nach Sängern und Instrumentalisten und vor allem nach Komponisten und Autoren. Und die besten müssen wir uns eben teilen mit den anderen Häusern hier in Berlin und woanders. Zum Glück gibt es diese Kollegen, die schaffen den Spagat, gleichzeitig an großen subventionierten Opern und bei uns zu arbeiten. Etwa der wunderbare Sänger und Performer Martin Gerke: Der singt sowohl an der Deutschen Oper als auch bei uns und an der Volksbühne.
Letzte Frage. Auf welche Produktionen bei euch freust du dich am meisten?
Am 2. Juni 2017 hat Der Schuss bei uns Premiere. An diesem Tag jährt sich nämlich die Erschießung von Benno Ohnesorg vor der Deutschen Oper zum fünfzigsten Mal. Die Folgen, die dieser Vorfall hatte, der Gang in den politischen Untergrund … die Fragen, die sich darauf für uns ergeben: Wie fühlt es sich an, wenn man fünfzig Jahre nach der Ermordung Ohnesorgs dieses Thema musiktheatralisch beleuchtet? Und: War die Deutsche Oper wirklich ein guter Ort, um dem Schah von Persien damals die Aufwartung zu machen? Aus dieser Frage, aus diesem Gedanken der Abgrenzung von den Staatsopern heraus hat sich ja unter anderem die Neuköllner Oper entwickelt. Als eine linke Alternative in Sachen Musiktheater. Eine andere Produktion, auf die ich mich freue ist Die Fledermaus. Eine aufregende, ganz sicher nicht jugendfreie Angelegenheit … Premiere ist am 27. Januar 2017. ¶