Am Mittwoch, 26. August, eröffnet das Sinfonieorchester Basel seinen renovierten Konzertsaal mit dem ersten Live-Orchesterkonzert seit der coronabedingten Sperren. Das zweite Stück im Programm ist der ergreifende zweite Satz aus Erik Saties Trois Gymnopédies. Claude Debussy hat das kurze Klavierwerk 1897 für Orchester bearbeitet. Das Ergebnis ist eine überraschende musikalische Überschneidung zweier Künstlerpersönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Satie, der exzentrische Performance-Künstler avant la lettre und Debussy, der fortschrittliche Meister der rein musikalischen Parameter wie Harmonik, Klangfarbe, Melodie.

Debussys Bearbeitung beginnt mit einem merkwürdig metallischen Timbre. Harfe, Kontrabässe pizzicato, Becken mit Paukenschlägel gespielt. Schnell stoßen die zweite Harfe, die Violinen und Hörner dazu. Die Oboe übernimmt die zweite Phrase von Saties Melodie bis das gesamte kleine Orchester spielt, wie Debussy schreibt, sostenuto, aber ohne Schwere. Ein organischer Auf- und Abbau. Als das Sinfonieorchester Basel den letzten d-moll Akkord der Stille überlässt, seufzt die Dame neben mir. Sie ist zufrieden.
Incrementalism beschreibt die Kunst, etwas Schritt für Schritt aufzubauen. Der Begriff kommt mir immer wieder in den Sinn, als der Kanton Basel-Stadt und das Sinfonieorchester Basel seine neuen Proberäume, das sanierte Stadtcasino und die Konzertsaison 2020-21 – Überschrift »Unter Vorbehalt« – vorstellen. Es ist zwar jetzt schon ein Klischee, aber COVID-19 hat tatsächlich die Welt verändert. Revolution scheint wieder unattraktiv; eine bessere Zukunft wird langsam und vorsichtig gewonnen. Das scheint mir auch der Weg zu sein, mit dem das Sinfonieorchester Basel das eigene Niveau aufrechterhält, ja sogar verbessert, selbst in Krisenzeiten.
In seiner Geschichte probte das Orchester immer wieder in anderen Räumen. Eine richtige Heimat – zumindest für das gemeinsame Üben – hatte es nicht. Das ändert sich am 19. Juni 2020, als 60 Musiker:innen des Orchesters erstmals in den neuen Proberäumen zusammenkommen, am Picassoplatz, unweit der renommierten Kunsthalle. Es ist ihr größtes Treffen, seit die Pandemie Europa erreichte.

»Eine Musikszene lebt nicht nicht nur von den Klangkörpern, sondern auch von den Probemöglichkeiten«, erklärt Sonja Kuhn, Co-Leiterin der Abteilung Kultur des Kantons Basel-Stadt. Aber wie kann ein Orchester modern und bequem proben im Zentrum einer Stadt, die als eine der teuersten der Welt gilt? Die Antwort lautet Pragmatismus. Statt neu zu bauen verhandeln Kanton und Ensemble eine Übernahme der First Church of Christ, Scientist, die in den letzten Jahren nur noch sehr schlecht besucht war, und sanieren sie. Private Spender und der Staat kommen für die Kosten von rund 750.000 Schweizer Franken auf.
Ein Raum der Kirche, in dem ehemals eine Sonntagsschule untergebracht war, verwandelt sich in eine luftige Geschäftsstelle mit Weitblick und quadratischem Parkett. Der Boden im Hauptsaal wird angepasst, damit das Dirigierpult von jeder Stelle aus sichtbar ist. Eine gute Lüftung wird eingebaut, das schöne Kirchenfensterglas behalten. Ein Nebenzimmer wird für den Sprachunterricht für nicht-deutschsprachige Musiker:innen des Orchesters hergerichtet. Die Akustik ist im Hauptsaal für eine ehemalige Kirche überraschend trocken: gut zum Proben. Ein Zitat von Mary Baker Eddy, der Gründerin der Christian-Science-Kirche, steht noch an der Wand hinter dem Dirigierpult: »Die göttliche Liebe hat immer jede menschliche Not gestillt und wird sie immer stillen«.
Auch das historische Stadtcasino Basel, in dem das Sinfonieorchester als eines der Hauptensembles seine Abonnementkonzerte spielt, wird saniert. Verantwortlich für die Gestaltung ist das Schweizer Architekturbüro Herzog & de Meuron, das auch die Elbphilharmonie in Hamburg entwarf. In Basel haben sie allerdings noch weniger Spielraum als auf dem Kaispeicher A im Hamburger Hafen. Das Stadtcasino befindet sich am historischen und bei Teenagern zum Biertrinken besonders beliebten Barfüsserplatz. Eine bessere Lüftung, mehr Platz und Sanitäreinrichtungen müssen her; viel Platz für Erweiterungen gibt es nicht. Wie sich Thomas Koeb, Direktor des Stadtcasinos erinnert, entscheiden sich die Architekten dafür, dass »das Gebäude aus sich heraus wachsen muss«, damit der Saal ohne dramatische Veränderungen verbessert werden kann.

Tatsächlich erinnern manche Details im neuen Stadtcasino an die Elbphilharmonie. Die Treppen sind verwinkelt, so dass sie schier endlos erscheinen; die Wirkung ist ähnlich mitreißend wie die dramatisch aufsteigende Eingangsrolltreppe in Hamburg. Übergänge zwischen Konzert- und Pausenbereich sind fließend und organisch, intuitiver gestaltet als zum Beispiel in der neuen Berliner Staatsoper. Während in den Innenräumen eine Maskenpflicht gilt, findet man in der Pause schnell an die frische Luft.

Andere Eigenschaften des Konzertortes sind besonders an die Basler Umstände angepasst. Der historische Charakter des großen Saals – von der Form her ähnlich wie das Berliner Konzerthaus oder die Boston Symphony Hall – wird beibehalten. Der Ausbau wird in die Tiefe verlagert; dort entstehen neue Toiletten und eine neue Garderobe. Kronleuchter im und um den Saal bilden einen gemütlichen Kontrast zu den schlichten Metallwänden. Auch der bordeauxrote Stoff in den Zwischenräumen und an den Sitzen wirkt verspielt. Das passt zu der freieren dramaturgischen Hand, für die das Sinfonieorchester Basel bekannt ist.

Als eines der wichtigsten Ziele bei der Sanierung des Stadtcasinos erwähnt der zuständige Akustiker Karlheinz Müller tatsächlich etwas Optisches: »Mehr Licht!« (frei nach Goethe). Aber auch die klangliche Helligkeit ist ein zentrales Thema beim Umbau. »Wir wollten mehr Balance zwischen den Grundtönen und den Obertönen«, erklärt er. Dadurch soll nicht nur die Tonhöhe, sondern auch die Klangfarbe deutlich und transparent zu hören sein: »Der Saal klingt obertonreicher und lebendiger«. Das ist vor allem bei den einfachen Akkorden in C-Dur zu Beginn von Beethovens Ouvertüre Die Weihe des Hauses hörbar. Zusammen mit der neuen, resonanten Akustik haben sie etwas Bestätigendes, wie ein Neuanfang und eine Rückkehr zugleich.
Am 26. August sind gleich beide Artists in Residence beim Sinfonieorchester Basel für die Spielzeit 2020-21 zu hören. Helena Winkelmanns Einkreisung für acht Alphörner im Saal erkundet – passend zu Müllers akustischen Zielen – die höheren Obertöne dieses traditionsreichen Instruments, das in den hohen Registern erstaunlich zerbrechlich klingt. Auch das Licht ist als Gestaltungselement präsent, es verändert im Laufe der durch die großen Fenster hereinfallenden Dämmerung den Saal spürbar. Sopranistin Christina Landshamer singt Morgen! aus den Vier Lieder Op. 27 von Richard Strauss fast, als wäre sie nur ein weiteres Mitglied des Ensembles: Der Effekt ist subtil, das Gegenteil vom Diven- oder Virtuosentum. Am Ende des Konzerts kommt Dvořáks 9. Sinfonie und ich fühle mich sofort zurückversetzt in die Berkshires in Massachusetts, wo ich als Teenager mit Freund:innen das Boston Symphony Orchestra gesehen und dieses Werk immer wieder gehört habe. Erinnerungen wiegen stärker als die Gegenwart der Maske. Von den 1300 Plätzen durften beim Eröffnungskonzert 1000 besetzt werden, bei genereller Maskenpflicht – Größenordnungen, von denen man in Deutschland bisher nur träumen kann. Es ist spürbar, dass das Musikleben bald wieder losgehen wird.

Die Spielzeit 2020-21 des Sinfonieorchesters Basel baut sich vom berührenden, aber bescheidenen Eröffnungskonzert auf bis zu den Aufführungen von Haydns Schöpfung und Wagners Siegfried (mit Sir Mark Elder, Rachel Nicholls, Daniel Frank, Derek Welton und der fantastischen Wiebke Lemkuhl). Weitere Highlights sind unter anderem das zweite Violinkonzert von Prokofjew mit Vadim Guzman und ein Doppelkonzert für zwei Geigen und Orchester von Helena Winkelmann, mit Patricia Kopatchinskaja. (Die Uraufführung findet am 9. September statt, am nächsten Tag wird das Konzert auf Arte gezeigt.) Eine Spielzeit, die den Wiederaufbau des Konzertlebens widerspiegelt.
Kleine Schritte, große Veränderung. In den ersten Monaten der durch COVID-19 verursachten Krise gab es in den Künsten ein großes Bedürfnis nach Reformen. Die Klassik muss sich ändern, hörten wir immer wieder. Ja, das muss sie, aber: In increments. Wie das geht, zeigt das Sinfonieorchester Basel auf der Bühne. Ein Cellist trägt eine Maske und wischt sich zwischen den Dvořák-Sätzen den Beschlag von seiner Brille; Dirigent Ivor Bolton gibt den Solist:innen immer wieder seinen Ellbogen statt der Hand, halb lustig, halb berührt. Details machen die Musik. Nur bei einer Sache setzt das Sinfonieorchester Basel auf große Veränderung. Die Zahl der Abonnent:innen ist, wie der künstlerische Leiter Hans-Georg Hofmann erzählt, um 15 Prozent gestiegen. ¶