Am 23. Februar, einen Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, erzählte Anna Stavychenko VAN von ihrem Leben in Alarmbereitschaft und der Bedeutung von Kultur für die nationale Identität. Mittlerweile haben sie und ihre Eltern die Ukraine verlassen. Stavychenko pendelt aktuell zwischen Warschau und Paris, wo sie eine Vielzahl von Projekten – unter anderem eine Europatournee des gesamten Kyiv Symphony Orchestra – organisiert. Wie die Tour aussehen wird und wie Institutionen klassische Musiker:innen aus der Ukraine effektiv unterstützen können, erklärt sie mir am 7. April per Zoom.

VAN: Wo erreiche ich dich gerade?

Anna Stavychenko: Ich bin seit letztem Samstag in Paris, weil ich hier ein besonderes Projekt der Philharmonie de Paris leite: Wir laden ukrainische Musikerinnen aus verschiedenen Städten und Orchestern der Ukraine, die das Land wegen des Krieges verlassen mussten, nach Frankreich ein. Sie sind im Moment noch über ganz Europa verstreut. Hier in Frankreich bekommen sie die Möglichkeit, am Musikleben teilzuhaben, indem sie in einem französischen Orchester spielen.

Wie viele Musikerinnen können an dem Projekt teilnehmen?

Wir haben erstmal fünf eingeladen. Sie spielen heute ihr erstes Konzert mit Jaap van Zweden und dem Orchestre de Paris, seit gestern proben sie zusammen. Aber natürlich werden es noch viel mehr. Es ist ein landesweites Projekt, wir bringen die Musikerinnen in Orchestern in ganz Frankreich unter. Im Moment kommen immer mehr Orchester aus anderen Städten dazu.

Das Orchestre de Paris und fünf ukrainische Musikerinnnen proben mit Jaap van Zweeden.

Ich habe gelesen, dass insgesamt 40 ukrainische Musikerinnen in Frankreich in Orchestern angestellt werden sollen, stimmt das? Und wie lange werden sie bleiben?

Das ist die Zahl der Musikerinnen, mit denen wir gerade in Kontakt sind und für die wir nach Möglichkeiten suchen, sie für diese Saison, also bis Ende Juni, in einem französischen Orchester anzustellen. Aber natürlich weiß niemand, wie sich die Dinge entwickeln. Wenn es nötig sein sollte, können wir hoffentlich auch darüber sprechen, das Projekt zu verlängern.

Können die Musikerinnen auch ihre Familien mitbringen?

Ja. Von den fünf Musikerinnen, die schon hier sind, haben zwei Töchter im Teenageralter, die jetzt natürlich auch mit nach Paris gekommen sind. Genau wie eine Katze.

Warum habt ihr dieses Projekt gerade in Frankreich gestartet? Weil hier die Pariser Philharmonie die Initiative ergriffen hat?

Exakt. Die Philharmonie de Paris wollte irgendwie helfen. Alles hat so angefangen: Ich habe ungefähr vor einem Monat ein Projekt gestartet, in dem wir die Noten ukrainischer Werke sammeln und systematisieren. Ich habe gesehen, dass manche Institutionen und Orchester der Ukraine Konzerte gewidmet haben, aber niemand wirklich ukrainisches Repertoire gespielt hat. Das ist sehr schade, weil es großartige ukrainische Musik gibt, die die Welt kennen sollte. Als CEO des Lyatoshynsky Club habe ich zusammen mit meinem Team und unseren Partnern, dem Ukrainian Institute und dem Ukrainian Live Project, beschlossen, all diese Noten zu sammeln und denen anzubieten, die gerne ukrainische Musik spielen wollen. Meine Kolleg:innen vom Lyatoshynsky Club und ich haben außerdem Konzertprogramme entwickelt, die man einfach so übernehmen und spielen kann, weil es natürlich schwer ist, aus Tausenden von Stücken einige auszuwählen, wenn man die Musik gar nicht kennt. Also haben wir diese Programme kuratiert und ich habe einigen Institutionen geschrieben und sie ihnen angeboten, auch der Philharmonie de Paris. Von dort kam sehr schnell eine Antwort. Sie meinten: ›Natürlich wollen wir irgendwas mit ukrainischer Musik machen, aber wir wollen noch mehr helfen. Was können wir zum Beispiel für das Kyiv Symphony Orchestra tun?‹ Damals waren das ganze Team und fast alle Musiker:innen noch in der Ukraine, in Kyiv. Also konnte man nicht so viel für sie tun. Aber wir sind mit Paris in Kontakt geblieben und haben uns gefragt: Warum sollten wir nicht allen Musiker:innen, allen Orchestern aus der Ukraine helfen? So haben wir dieses Projekt gestartet, sie haben mich zur Leiterin ernannt und ich bin mit den ersten Musikerinnen hergekommen.

Wie wird dieses Projekt finanziert?

Vom Budget der Orchester. Auch Mäzen:innen helfen – in Paris leben die Projektteilnehmerinnen zum Beispiel in ihren Häusern.

In Deutschland habe ich noch nicht viel von solchen längerfristigen Projekten gehört.

Hoffentlich folgen auch andere Länder und Institutionen der Idee, ukrainische Musiker:innen einzuladen und sie anzustellen. Viele wollen ja helfen, sie wissen nur nicht, was genau sie tun, wen sie einladen können, wie sie den Kontakt herstellen, alles organisieren. Wir arbeiten daran, hierfür ein System zu entwickeln. Und wir teilen unsere Erfahrungen sehr gerne mit anderen Orchestern.

Nach Frankreich kommen jetzt wahrscheinlich nur Musikerinnen, oder?

Ja genau, weil Ukrainer unter 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen.

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Können für eure Konzerttournee mit dem Kyiv Symphony Orchestra denn auch die Musiker aus der Ukraine ausreisen?

Sie haben von unserem Verteidigungsministerium und Ministerium für Kultur und Informationspolitik eine spezielle Genehmigung erhalten, das Land für diese kulturelle Mission zeitweise zu verlassen. Natürlich werden sie zurückgehen. Aber weil sie die Ukraine im Ausland repräsentieren, haben sie die Unterstützung unserer Regierung. So kann das Kyiv Symphony Orchestra eine Europa-Tournee machen. Damit bin ich gerade auch sehr beschäftigt. Polen hilft uns auf alle erdenkliche Weise. Der Plan, das Kyiv Symphony Orchestra nach Europa zu bringen, wird unterstützt vom polnischen Kulturministerium, dem National Institute for Dance and Music, der National Opera, der National Philharmonic Hall … Alle großen Musikinstitutionen in Polen helfen uns und tun alles, damit diese Tour stattfinden kann. Es ist unglaublich, es ist großartig.

Wie genau helfen euch diese Institutionen?

In Polen wird das Kyiv Symphony Orchestra sein erstes Konzert spielen, das am 21. April in der Warschauer Nationalphilharmonie stattfinden wird. Vorher können die Musiker:innen in Warschau zwei Wochen lang proben und sich auf die Tour vorbereiten, denn in der Ukraine konnten viele ja nicht üben. Wir haben sogar zwei Proberäume, einen im Konzertstudio des Polnischen Rundfunks und einen in der Philharmonie. Die Institutionen helfen uns auch bei der Unterbringung, es kommen ja nicht nur die Musiker:innen, sondern auch ihre Familien, insgesamt 126 Menschen, und alle brauchen eine Unterkunft und etwas Geld für die zwei Wochen in Polen.

Natürlich spielen wir in Warschau und Lodz Konzerte, um zu zeigen, wie dankbar wir für all diese Unterstützung sind. Es ist wirklich beeindruckend, was Polen im Moment für Geflüchtete aus der Ukraine tut. Es gibt uns unsere Hoffnung zurück und den Glauben an die Menschheit, den wir durch das, was wir in der Ukraine erleben, verloren haben. Aber in Europa, in Frankreich, in Polen und in anderen Ländern treffen wir diese Menschen, die der Ukraine so sehr helfen, zumindest den Geflüchteten. Es ist unglaublich, denn diese Hilfe kommt von den Menschen selbst, nicht von der Regierung. Jede und jeder Einzelne will etwas tun.

Und die nächste Station nach Polen wird dann Deutschland sein?

Ja. Los geht es mit einem Konzert in Dresden am 25. April, gefolgt von Leipzig, Berlin, Freiburg, Hannover und Hamburg. Dann werden wir hoffentlich durch Frankreich und weitere Länder touren. Wir sind da gerade mit sehr vielen Institutionen im Gespräch.

Welche Stücke stehen auf dem Programm?

Es wird ein ukrainisches Programm: Berezovskys erste Sinfonie, die erste ukrainische Sinfonie überhaupt.

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Dann Lyatoshynskys Dritte, ein sehr ikonisches Stück. Lyatoshynsky ist einer der größten Namen der ukrainischen Musik des 20. Jahrhunderts. Seine dritte Sinfonie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Überschrift ›Frieden wird den Krieg gewinnen‹ geschrieben und ist sehr symbolträchtig. Wir werden die Originalversion dieses Stücks aufführen, die ein sehr tragisches Finale hat. Denn wenn Krieg ausbricht, verlieren alle, weil Krieg selbst eine Tragödie ist. Bei Lyatoshynskys erster Version der Sinfonie gibt es kein Happy End. Es hieß nicht: ›Alles wird wieder wie vorher‹, denn das ist nicht möglich. Und in dieser Hinsicht ist die Sinfonie sehr ehrlich und sehr mutig. Lyatoshynsky wurde während der Sowjetära für dieses Finale stark kritisiert: Er sollte den Menschen Hoffnung geben, und stattdessen gab er ihnen Wahrheit, und die Wahrheit war in der Sowjetunion wie jetzt in Russland nicht besonders gern gesehen. Also musste Lyatoshynsky eine zweite Version schreiben, mit einem typisch sowjetischen optimistischen Happy End, einem falschen Happy End. Sie wurde viele Jahre lang so aufgeführt, aber in der unabhängigen Ukraine können wir jetzt die erste Fassung wieder spielen und so macht es auch unser Orchester. Wir spielen außerdem das Poème von Chausson mit einem Solisten und die Melodie von Myroslaw Skoryk, weil sie sehr berühmt ist und einen hohen symbolischen Wert für die Ukraine hat.

Inwiefern?

Das Stück wird oft gespielt und ist sogar einem internationalen Publikum bekannt. Und es ist sehr stark mit der Ukraine verbunden, weil die Melodie sehr authentisch ukrainisch ist.

Wie geht es mit dem Projekt, bei dem ihr Werke ukrainischer Komponist:innen sammelt, weiter? 

Wir bekommen immer mehr Anfragen, wir verteilen Partituren für Solostücke, Orchesterstücke, Kammermusik … Dank unserer Partner ist das Projekt wirklich groß geworden, viele Leute arbeiten jetzt daran mit und wir nutzen alle unsere Kontakte im Ausland, um es noch größer zu machen. Es ist sehr wichtig, dass ukrainische Musik gerade jetzt, in diesen dunklen Zeiten, gehört wird in der Welt. Leider ist das internationale Publikum nicht sehr vertraut mit dieser Musik, und das wollen wir unbedingt ändern. Diese Musik verdient es, gehört zu werden, und jetzt ist der richtige Moment. Leider sind die Umstände tragisch, aber lasst sie uns trotzdem zum Anlass nehmen, ukrainische Musik zu entdecken!

In Deutschland haben viele Orchester schon Anfang März Solidaritätskonzerte gespielt, aber nicht unbedingt mit ukrainischen Musiker:innen oder ukrainischen Werken.

Ja, sie brauchen etwas Zeit um zu überblicken, welche Möglichkeiten sie haben. Und ich verstehe auch, dass es Zeit braucht, bis Orchester dieses Repertoire in ihre Programme aufnehmen können, das geht nicht von jetzt auf gleich, denn  die Orchester haben ihre Konzerte für diese Saison ja schon geplant, für die nächste sogar auch schon. Es bedeutet also eine Menge Arbeit für uns alle, für alle ukrainischen Musiker:innen und Kulturmanager:innen wie auch für die europäischen und internationalen. Aber zumindest haben wir jetzt angefangen. Hoffentlich verstehen jetzt wenigstens die Orchester, ihre Leitungen und die Kulturinstitutionen: Wir müssen die ukrainische Musik entdecken. Oder: Wir müssen mehr mit ukrainischen Musiker:innen zusammenarbeiten und verstehen, dass das Ukrainer:innen sind und keine Russ:innen. Früher gab es da viel Verwirrung: Wer ist jetzt ukrainisch und wer russisch und was ist überhaupt der Unterschied?

Wie geht es jetzt für dich persönlich weiter?

Ich gehe sehr bald zurück nach Polen, um dort und auf der Europatournee für mein Orchester da zu sein. Aber ich arbeite parallel immer noch an diesem Projekt in Paris weiter – alles passiert gerade gleichzeitig. Außerdem gibt es noch eine neue Zusammenarbeit mit der Sinfonia Varsovia, einem der besten Orchester Europas. Sie haben mich eingeladen und mir eine Partnerschaft angeboten: Sie wollen, dass ich ukrainische Musik in ihre Programme integriere. Außerdem starten wir spezielle Projekte für Geflüchtete und ihre Kinder. Es geht darum, Menschen in diesen schwierigen Zeiten durch Musik und multidisziplinäre Kunstprojekte zu helfen, denn natürlich kommen viele Ukrainer:innen nach Polen und bleiben dort, und wir wollen für sie durch Musik einen Raum schaffen, in dem sie sich sicher und unterstützt fühlen können.

Was würdest du deutschen Musikinstitutionen, die Menschen aus der Ukraine helfen wollen, empfehlen?

Worum ich wirklich bitten will, und zwar nicht nur die Musikinstitutionen, sondern alle Institutionen, die irgendwie Einfluss haben: ehrlich und mutig zu sein. Was ich meine, ist, den Krieg Krieg zu nennen – es gibt keine ›Ukraine-Krise‹. Es gibt keinen ›Konflikt in der Ukraine‹. Sowas hat es nie gegeben. Es war von Anfang an ein russischer Krieg gegen die Ukraine, und dieser Anfang liegt schon acht Jahre zurück. Der Krieg hat nicht erst vor einem Monat begonnen. Und er wurde lange mit Worten umschrieben, die ihn völlig falsch darstellen. So konnten die Menschen nicht verstehen, was in der Ukraine passiert, und jetzt sehen wir die Ergebnisse dieser Ausdrucksweise und dieser Angst, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir würden uns also freuen, wenn in allen Texten, allen Medien, allen Statements, die auch deutsche Institutionen jetzt abgeben, Russland als ›russischer Aggressor‹ und der Krieg in der Ukraine als ›russischer Krieg in der Ukraine‹ bezeichnet würden. Denn es tut wirklich weh, nach Butscha, nach Irpin, nach Mariupol, noch immer diese schönen, freundlichen Erklärungen zu lesen, in denen Frieden für alle gefordert wird. Und das ohne zu sagen: Um welchen Frieden genau geht es? Für wen? Und wer zerstört diesen Frieden gerade? Wir befinden uns in einem realen Krieg in einem realen europäischen Land, das von einem anderen realen Land angegriffen und überfallen wurde. Und für all das gibt es treffende Bezeichnungen. Also lasst sie uns bitte auch benutzen. Das würde sehr helfen. Denn diese Friedensaufrufe, diese Friedenskonzerte tragen diese falsche Realität nur weiter. Das ist sehr respektlos gegenüber unserem Schmerz, gegenüber unseren Opfern, gegenüber allen Menschen, die getötet oder vergewaltigt wurden …

In Deutschland gab es gerade eine große Diskussion um das Konzert ›Für Freiheit und Frieden‹ des Bundespräsidenten

Ich weiß. Und ich kenne auch diese Haltung, dass man sagt: ›Das ist nur Putins Krieg und alle Russ:innen sind unschuldig‹, oder noch schlimmer: ›Sie sind Opfer dieses Regimes, genau wie die Ukrainer:innen‹, was absoluter Unsinn ist. Weil ich so viele Verbindungen zu Deutschland habe, ist es für mich besonders schmerzhaft, diese Positionen mitzubekommen in einem Land, das ich so sehr bewundere. Aber noch einmal: Es gibt die Regierung mit ihrem Präsidenten und es gibt die Menschen.

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com