Der Morgen des 30. Juni 1908. Sommer im sibirischen Gouvernement Jenisseisk. Am Himmel erkennen manche Bewohner:innen – darunter Angehörige der indigenen Ewenken – Explosionen. Alles nahe der bewaldeten Region entlang des Flusses Steinige Tunguska. Die Druckwelle des offensichtlich in die Erdatmosphäre eingedrungenen Objekts zerstört nicht nur etwa 60 Millionen Bäume, sondern bläst Fenster und Türen der wenigen Häuser in der gottlob äußerst spärlich besiedelten Region einfach weg. Noch über 500 Kilometer weiter weg werden Sichtungen eines hellen Feuerscheins gemeldet – und die Druckwelle ist sogar weltweit messbar. Knapp fünf Stunden nach dem Ereignis reagieren die Seismographen des Königlich-Preußischen Geodätischen Instituts im fernen Potsdam. Die Druckwelle macht eine zweite Runde um die Erdkugel, so dass einige Stunden später wieder Messerergebnisse vorliegen. Angeblich werden keine Menschen bei dieser eminenten Naturkatastrophe getötet. Nur ein paar Rentiere sterben. Bis heute liegen keine endgültig verifizierten Erklärungsmodelle für das »Tunguska-Ereignis« vor. Infrage kommen Asteroiden- oder Kometen-Einschläge sowie vulkanische Eruptionen. Eines der größten – wohl nicht menschengemachten – explosiven Ereignisse des 20. Jahrhunderts überhaupt: in der Ursache ungeklärt.

1891 hatte Zar Alexander III. den Baustart für das Anlegen der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn verkündet. Man begann ganz im Osten Russlands in Wladiwostok – und gleichzeitig im westlichen Tscheljabinsk. Diese beiden Linien galt es zusammenzuführen. 1908 – im Jahr der »Tunguska-Ereignisse« – konnten Reisende bereits viele hundert Kilometer mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Einheitlich berichteten auch damalige Zeitzeug:innen von einem – nicht den Eisenbahnbewegungen geschuldeten – Wackeln, Grummeln und Dröhnen in den Zugteilen während der Vorgänge in Jenisseisk.

Fährt man vom nahegelegenen Krasnojarsk aus auf der heutigen Strecke der Transsibirischen Eisenbahn gen Westen, so landet man nach mehr als zwei vollen Tagen – ohne Umsteigeverpflichtung – zwischen Kasan und Moskau in der fünftgrößten Stadt Russlands, in Nischni Nowgorod. Hier wurde – wenige Wochen nach den druckvollen Ereignissen am Flusse Tunguska – am 12. August 1908 Nina Vladimirovna Makarova geboren. Über ihre Kindheit und Jugend scheint wenig bis nichts bekannt zu sein. Mit Sicherheit wird sie frühkindliche Musikförderung in ihrem – vermutlich ebenfalls musikalischen – Elternhaus erlebt haben. Auch qualifizierter Klavierunterricht gehörte wohl dazu.

Der spätere »Nationalkomponist Armeniens« – Aram Chatschaturjan (1903–1978) – studierte zur Zeit der Adoleszenz Nina Makarovas Biologie in Moskau. Die musikalischen Talente des jungen Mannes und die schönen Erinnerungen an die große Präsenz von Musik in seiner Kindheit führten jedoch zu einer Abwendung von den Naturwissenschaften; Chatschaturjan studierte zunächst Violoncello und schließlich, ab Mitte der 1920er Jahre, Komposition am Moskauer Konservatorium. Chatschaturjans prominentester Lehrer dort war der vielbeschäftigte, einflussreiche, fleißige und politisch recht geradlinige Komponist Nikolai Mjaskowski (1881–1950), der – für das 20. Jahrhundert äußerst ungewöhnlich – 27 vollendete Symphonien vorlegte. Beim selben Lehrer studierte zur gleichen Zeit Nina Makarova Komposition. Die wohl auch noch längere Zeit als Pianistin aktive Makarova und der inzwischen früh erfolgreiche Chatschaturjan verliebten sich ineinander und heirateten 1933. 1940 kam Sohn Karen Chatschaturjan zur Welt, benannt nach dem Urgroßvater – und später angeblich als Musikkritiker tätig.

Seit der Heirat mit Chatschaturjan firmierte Nina Makarova für die sich auf ihren Ehemann fokussierende Musikwelt quasi nur noch unter dem Namen »Wife of Khachaturian«. Angeblich nannten sie Freundinnen und Freunde stets »Gayaneh«, nach der gleichnamigen Ballettmusik (1942) ihres Gatten, aus der der berühmte Säbeltanz stammt. Dementsprechend tritt Makarova hinter dem Werden und Wirken Chatschaturjans komplett zurück. Gedruckte englisch-, französisch- oder deutschsprachige Literatur über ihr Leben und ihre Musik existieren nicht, selbst sonst so ergiebige Online-Quellen versagen fast völlig. Was für eine spannende Geschichte wäre da in Zukunft noch zu erzählen?

Nina Makarova starb 67-jährig am 15. Januar 1976 in Moskau.

Nina Makarova (1908–1976)Symphonie d-Moll (1938)

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Makarova komponierte ein paar wenige Kammermusikwerke, Liedzyklen, eine einaktige sowie eine abendfüllende Oper. Hinzu kamen mehrere Filmmusiken – teilweise in Kollaboration mit ihrem Ehemann. 1938 brachte sie als Dirigentin höchstpersönlich ihre einzige Symphonie in Moskau zur Uraufführung.

Exotische Vogelstimmen aus fernen Ländern singen sofort beim Eintritt in die – gar nicht so molltönende – Moll-Symphonie ihren Gesang. Die Stimmen finden in kleinen Schwellern im Orchester ihren jeweiligen instrumental-kontrapunktischen Gesprächspartner. Alles muss sich noch ein wenig »glätten«; bis nach fast exakt einer Minute wohl ein erstes Thema sanft wehklagt. Klarinetten und Flöten spielen sich diverse Bälle zu; und da fallen auch schon ernste Blechbläser-Störungen auf. Synkopische Nachschläge peitschen die zeitweilige Tänzer:innenschaft in den Vordergrund. Fast ist man als Hörer:in etwas überfrachtet von so vielen vermeintlich programmatischen Folklore-Ideen und Instrumentationseinfällen. Doch da lichtet es sich im Gewirk – und nur kleinste Holzbläsergruppen winken exotistisch aus der Ferne, modale Kreisfiguren beschreibend. Was für eine verwegene, gute Symphonie!

Eine Musik, die sich nicht nur auf der Konstruktion »Brucknerscher Blöcke« im Mix impressionistischer Anmutungen und (russischer) Folklore-Lustbarkeiten ausruht, sondern die schlichtweg durch Virtuosität und Radikalität Langweile vermeidet. Weibliches Komponieren kann heißen, sich nicht mit der kraftmeierischen Souveränität epischer Themenausführungen zufriedenzugeben, sondern in der ständigen Hinterfragung des intellektuellen Entertainmentlevels schlichtweg hörer:innenzugewandt zu komponieren. Intensive Momente im großen Ganzen einer völlig unbekannten Symphonie. ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.