1918 kam die »Spanische Grippe« auf, die in Spanien wiederum »Französische Grippe« genannt wurde. Am Ende des Ersten Weltkriegs sehnte sich die Menschheit in den vom Krieg betroffenen Städten und Landstrichen nach Ruhe, Versöhnung und Struktur. Doch der damaligen Influenza-Pandemie – Subtyp A/H1N1 – fielen unfassbare 30 bis 50 Millionen Menschen zum Opfer.

Im selben Jahr – am 15. März 1918 – verstarb die Komponistin Lili Boulanger in dem kleinen Ort Mézy-sur-Seine, etwa 35 Kilometer nordwestlich von Paris. Boulanger erkrankte allerdings nicht an der »Spanischen Grippe«, sondern fing sich im Winter 1913 bei ihrer älteren Schwester Nadia (1887–1979) zunächst die Masern ein. Schon damals soll Lili Boulanger gespürt haben, dass ihr kein langes Leben vergönnt sein wird. Lilis Schwester Nadia dagegen avancierte früh zur wichtigsten Kompositionslehrerin ihrer Zeit – und starb 1979 hochbetagt mit 92 Jahren. Nadia war es auch, von der überliefert ist, dass ihre geliebte jüngere Schwester Lili am Lebensende ihren Frieden fand – und ge- und erlöst verstarb; mit nur 24 Jahren.

Die Kindheit von Lili Boulanger – in Paris geboren als Marie-Juliette Olga Boulanger am 21. August des Jahres der Einführung der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) 1893 – war geprägt von Musik. Die Boulangers – eine hochangesehene Musiker*innenfamilie – empfingen regelmäßig in Salons Kompositionsgrößen wie Camille Saint-Saëns und Charles Gounod. Früh überschatteten chronische Lungen- und Darmerkrankungen das Leben der jungen Lili. Bei Kirchenmusikgröße Louis Vierne erhielt sie dennoch Orgelunterricht – und lernte außerdem Klavier, Cello, Geige und Harfe. Als sie vierzehn Jahre alt war, verstarb plötzlich Lilis durchaus erfolgreich komponierender Vater Ernest. Lili reagierte mit einer spontanen – aber leider Gottes nicht erhaltenen – Liedkomposition auf diesen Schicksalsschlag.

Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters – im Spätsommer 1901 – kam es zum ersten konzertanten Auftritt Lilis als Geigerin. Zeitgleich konnte sie, motiviert und begleitet von ihrer Schwester, immer wieder Stippvisiten am Pariser Konservatorium unternehmen – und zählte dort Gabriel Fauré und Maurice Ravel zu ihren äußerst prominenten Lehrern. Im Gegensatz zu Ravel, der sich eine Zeit lang vergeblich drum bemühte, gewann die Hochbegabte 1913 den immens bedeutenden »Prix de Rome« für ihre Kantate Faust et Hélène – als erste Frau überhaupt.

Lili Boulanger wurde bald als vielfältig begabte »Sensation« gefeiert und entsprechend herumgereicht. Erstaunlich viele Werke entstanden, vor allem solche für diverse Vokalmusikbesetzungen: Gesang und Klavier, Chor und Klavier, Chor und Orchester und so weiter. Boulanger – in der Gewissheit baldigen Ablebens – komponierte für und für, so könnte man pathetisch sagen. Doch von übersteigertem Pathos sind ihre Kompositionen keineswegs geprägt.

Lili Boulanger (1893–1918)Pie Jesu (1917/18)

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Tatsächlich berühmt wurde Boulangers eigenes Quasi-Lebensrequiem für Sopran, vier Streicher, Harfe, Orgel und Orchester: Pie Jesu. Mit demütig-räudigen Chromatikterzen, die Lilis geliebtem Instrument der Orgel anheimgestellt sind, hebt das Werk schwerlastend an. Ebenso absichtlich engknirschig gesetzte Oktaven des Streichquartetts gesellen sich freudlos und elegisch dazu. Boulanger weiß genau, was sie macht. Sie erzeugt Anti-Schöngeistigkeit mit kompositionshandwerklichen Freiheitsmitteln der damaligen Debussy- und Ravel-Avantgarde, profund betonierend gestützt von Orgelpunkt-Pfeilern ihrer vielen – sich zum glühenden Konservatismus bekennenden – französisch-katholischen Kirchenmusikkolleg*innen. Auch die typisch französische Wagner-Hass-Liebe ist durch die kriechenden »Wurm-Motiv«-Allegorien präsent. Alle Büsten der ach so großen Männer sind hübsch aufgereiht – und dennoch entsteht bei Lili Boulanger etwas ganz Eigenes.

Über dem grippalen Anti-Meer erkrankter Klagemusiklaute ertönt nun der sopranöse Gesang, der mit Engelsausreden gleichsam zu entfliehen sich betreten antreibt. Doch die brotlose Elegie läuft als chromatisches Dauerband immer mit. Das hundsgemeine Ticken der Zeit. Da kann der blonde Requiemsengel noch so schön tönen: Es geht dem Ende zu. Eh!

Scharf-entzündlich türmen sich Orgel und oktavöse Streicher aneinander auf: Anti-Höhepunkte schmerzhafter Krankheitsschübe. Doch bald beruhigt sich die Orgel etwas. »Halte ein, Moment der Linderung!« Nun pendelt es in der Gesangsstimme fort und fort, gedämpft umgeben von jetzt guten Dur-Geistern der Krankensegnung. Und da ist es auch schon zu Ende. Ein großes Stück Kirchenmusik, das unter fünf Minuten dauert. Eigentlich zu traurig für diese Welt, wie sie momentan ist. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.