Mary Jeanne van Appledorn wurde am 2. Oktober 1927 in Holland geboren. Gemeint ist jedoch – ihr Nachname weist in eine falsche Richtung – nicht der uns durch Nachbarschaft naturgemäß geläufigere Teil der Niederlande, sondern eine 1847 gegründete Stadt (Einwohner:innen heute: ca. 35.000) im US-Bundesstaat Michigan, nahe des Lake Michigan.

Kein Elternteil Mary Jeanne van Appledorns arbeitete professionell im musikalischen Bereich. Ihr Vater allerdings spielte als Laie regelmäßig Orgel in der Ninth Street Christian Reformed Church in Holland. Wie ihre ältere Schwester Ruth erlernte Mary Jeanne als Kind das Klavierspiel und nahm nach dem Besuch der High School ein Musikstudium auf. Infolge des Todes ihres Vaters zog van Appledorns Familie 1944 nach Topeka in Kansas; Mary Jeannes Schwester hatte hier eine Stelle als Musiklehrerin am Alma College angenommen. Und ab Ende des Zweiten Weltkriegs studierte Mary Jeanne van Appledorn an der Eastman School of Music in Rochester (New York). Hier – und schon an der High School – wurde die junge Künstlerin mit Auszeichnungen als Jahrgangsbeste schier überhäuft.

1948 beendete sie ihr Klavierstudium bei Cecile Straub Genhart (über die sich – außerhalb der Verbindung zu van Appledorn – keinerlei Informationen finden) und lehrte nun selbst an der Eastman School. 1950 schloss sie dort ihre Studien in Musiktheorie ab und wechselte als Lehrkraft an das Texas Technological College. 1966 promovierte van Appledorn mit ihrer Doktorarbeit – A Stylistic Study of Claude Debussy’s Opera Pelleas et Melisande – an der Eastman School; davor und danach erhielt sie für ihre musiktheoretischen und künstlerischen Arbeiten zahlreiche Stipendien.

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In den 1960er Jahren hatte van Appledorn ihre kompositorischen Ambitionen nicht aus den Augen verloren, sondern bei den Komponisten Bernard Rogers und Alan Hovhaness an der Eastman School Kompositionsstunden genommen. Rogers (1893–1968), einst Student von Nadia Boulanger in Paris, legte 1945 beispielsweise eine Elegy in Memory of Franklin D. Roosevelt vor; Hovhaness (1911–2000) dagegen wandte sich – nach einer harschen Kritik Leonard Bernsteins – von den Amerikanismen in seiner Musik eher ab und machte seine armenisch-schottische Herkunft musikalisch zum Thema.

Van Appledorn gab ihre 1950 erhaltene Stelle am Texas Technological College bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 2008 nie auf, sondern unterrichte hier emsig Musiktheorie – für Anfängerinnen und Anfänger sowie für Fortgeschrittene. Mary van Appledorn engagierte sich dabei an allen Institutionen, mit denen sie assoziiert war, äußerst nachhaltig für die Neue Musik, leitete jährlich stattfindende Avantgarde-Musik-Symposien und bekleidete ab 1989 eine große Professur an der »Texas Tech«, wo sie bis zur Emeritierung die Abteilung für Musiktheorie und Komposition leitete.

Mary Jeanne van Appledorn starb am 12. Dezember 2014 in Lubbock (Texas) im Alter von 87 Jahren.

Mary Jeanne van Appledorn (1927–2014)
Set of Five für Klavier (1953)

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Van Appledorn war eine sehr erfolgreiche Komponistin, erhielt immer wieder bedeutende Preise und attraktive Kompositionsaufträge. Es entstanden Werke für Solo-Instrument und Orchester, Musik für Chor (mit und ohne Orchester), Kammermusiken, Solo-Stücke und mehrere Arbeiten für Carillon. Dieses Instrument hatte es van Appledorn offenbar besonders angetan, finden sich doch fünf eigenständige Werke für dieses in der Regel überdimensionierte Glockenspiel. (Leider gibt es keine Aufnahmen dieser zwischen 1976 und 1991 entstandenen Stücke. Dafür äußerte sich van Appledorn in einem Interview ausführlicher zu ihrer Carillon-Leidenschaft.)

Aus dem Jahr 1953 stammt van Appledorns Klavierzyklus Set of Five. Ein kerniges Ostinato bestimmt das erste Stück. Von dem saftigen Begleitschinken ausgehend sträuben sich Tongirlanden von unten nach oben auf der Klaviatur hinauf. Eine lustige Mischung von Prokofjew und Gershwin, irgendwie. Das zweite Stück hat dann ein ganz andere Dauerbegleitfigur zu bieten: ein kinderstückartiges, schlichtes, stilles Kreisen. Wieder spielen sich darüber und darunter mal beruhigende, mal actionreich affizierende Geschichtchen ab.

Ein wiederum dunkleres Kreisen im dritten Stück. Jetzt poltern die Akkordeinschläge doch aggressiver hin- und her. Freilich gibt es hier tonale Zentren, doch das kompositorische Geschehen funktioniert atonal, freigeistig, ja: improvisatorisch. (Van Appledorn liebte die Improvisation.)

Als Geheimrezept des Komponierens allgemein – unabhängig von der Frage des Geschlechts – »verriet« die sympathische Mary Jeanne van Appledorn einmal: »Ein Teil des Erfolgs ist Selbstpromotion. Aber du musst vor allem extrem gute Musik schreiben.« Aufgabe: erfüllt. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.