Marie Félicie Clémence de Reiset wurde am 21. Januar 1828 in Saint-Rémy-des-Monts im Nordosten Frankreichs geboren, genauer: auf Schloss Cour du Bois, das sich in dem Besitz der Familie befand. Mutter Anne-Louis-Adèle du Temple de Mesière, Baronne de Reiset schrieb Romane, Vater Levrard-Jean Népomucène, Baron de Reiset de Chavanatte war bei der Armee. 

Man unterrichtete Marie ab ihrem sechsten Lebensjahr am Klavier. Das entsprechende »Personal«, das die wohlhabende Familie dafür beschäftigte, konnte prominenter kaum sein: Von 1842 bis 1848 war Martha-Komponist Friedrich von Flotow (1812–1883) Maries Kompositionslehrer, Fréderic Chopin (1810–1849) sorgte für den Klavierunterricht, Mitte der 1850er Jahre ergänzt von Camille Saint-Saëns (1835–1921) – große Namen, hoher Druck.

Im Frühjahr 1849 nahm die Öffentlichkeit erstmals prominenter von Marie de Reiset Notiz. Sie trat ab diesem Zeitpunkt regelmäßig in den Pariser Salons als eine Pianistin auf, die häufig ihre eigenen Stücke aufs Pult legte, um sie dem Publikum klangvoll zu präsentieren. Außerdem nutzte sie ihre hervorragende sängerische Ausbildung, um ihre eigenen Lieder bei entsprechenden Kammerkonzert-Anlässen zu singen. Der als äußerst kritikfreudig und kauzig bekannte Hector Berlioz schrieb, wie Silke Wenzel in ihrem Artikel zitiert: »Mlle. de Reiset hat kürzlich bei ihrem Vater M. de Reiset zwei von ihr als gute Pianistin-Komponistin geschriebene Septette dargeboten, die jene Frische in den Ideen aufweisen, die die schulische Pedanterie unserer Kompositionsklassen häufig verdorren lässt. Und was sagen jene: im Ganzen ist es die Kunst, ist es die Musik im Stil einer Frau!«

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Berlioz setzte sich nach diesen freundlichen Zeilen nachhaltig für de Reiset ein und dirigierte unter anderem im Februar 1851 die Uraufführung von de Reisets Symphonie C-Dur. Wenige Tage später heiratete die Komponistin, Pianistin und Sängerin den Militärangehörigen Charles-Grégoire-Amedée-Amable-Enlard Vicomte de Grandval, dessen Namen sie annahm. Zwei Töchter gingen aus der Ehe hervor. In den Jahren nach der Heirat mit de Grandval nahm die Komponistin die besagten Unterrichtsstunden bei Saint-Saëns – und wurde in den nächsten Jahren zu einer der begehrtesten Komponistinnen ganz Frankreichs.

Die folgenden Jahrzehnte waren geprägt von entfesseltem Komponieren ohne finanzielle Sorgen. Besonders gerühmt wurde Grandvals Stabat mater aus dem Jahr 1872. Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg hatte sich – aus Sorge um das Zurückbleiben der französischen Kultur hinter der deutschen – in Paris 1871 die Société nationale de musique gegründet, für die sich fast ausnahmslos alle bekannten französischen Komponist:innen ihrer Zeit engagierten. So auch Marie (sich selbst jedoch meist nur »Clémence de Grandval« nennend) als eine von wenigen Frauen. Trotz ihrer Prominenz komponierte de Grandval große Werke – beispielsweise Opern – viele Jahre lang unter Pseudonym aus Angst, nicht für voll genommen zu werden.

Grandval blieb bis zu ihrem Lebensende eine zentrale Person im Musikleben Frankreichs. Erst in ihren letzten Jahren setzte sie sich allmählich zur Ruhe. Sie starb am 15. Januar 1907 – sechs Tage vor ihrem 77. Geburtstag – in Paris.

Clémence de Grandval (1828–1907)
Valse mélancolique für Flöte und Harfe (1898)

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Fast zehn vollendete Bühnenwerke, 15 Arbeiten für Solo, Chor und Orchester (beziehungsweise Klavier), zehn Orchesterwerke (mit und ohne Solo-Instrument), viele Dutzend Lieder, noch mehr Kammermusik sowie vereinzelte Klavierwerke finden sich in dem beeindruckenden Werkkatalog der Clémence de Grandval.

1898 entstand eines der zahlreichen Kammermusikwerke, der Valse mélancolique für Flöte und Harfe. Die Flöte singt ein einsames Motto. Die Harfe steigt mit aufstrebenden und gleichsam einbettenden Ces-Dur-Dreiklängen hinauf. Leicht verändert erklingt das Motto der Flöte erneut – und die Harfe lässt sich mit einer ebenso veränderten Harmonik darauf ein.

Von diesem einsamen Motto ausgehend wird nun die Bewegung des ganzen Walzers entfacht – die Figur des Beginns zunächst stetig wiederaufnehmend, doch stets leicht verändert. Sanfte Steigerungen. Bald bringt die Harfe eine herrlich romantische Abwechslung ins Spiel: 16tel-Sextolen perlen nach unten. Darüber ertönt eine berührende Melodieline aus kleinen Tonschritten. Ein stilles, kleines Stück, das genau das bietet, was im Titel zu lesen ist: »Valse mélancolique«. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.