Folge 100 widmen wir einer großartig komponierenden Nonne. Dabei ist sie längst nicht mehr die einzige seit dem 23. Oktober 2019 hier porträtierte Komponistin, die ihr Leben in Teilen »hinter Klostermauern« zubrachte: Folge 3 drehte sich um Benediktinerin Chiara Margarita Cozzolani (1602– 1676/78), Folge 20 um Ursulinin Isabella Leonarda (1620–1704), Folge 42 um Kalmaldulenserin Lucrezia Orsina Vizzana (1590–1662) und Folge 81 um Augustinerin Vittoria Raffaella Aleotti (1575–nach 1646). Über Caterina Assandra lässt sich nur wenig Überliefertes berichten. 

Wann genau die Komponistin geboren wurde, das steht nicht fest. Vermutlich kam sie aber um 1590 im norditalienischen Pavia (Lombardei) zur Welt. Das Gebiet der späteren Kleinstadt Pavia – malerisch am Fluss Ticino gelegen – war schon in vorrömischer Zeit besiedelt worden. Im 6. Jahrhundert ernannte man Pavia zur Hauptstadt des Langobardenreichs. Pavia gehörte damit zu den wichtigsten Städte Norditaliens überhaupt.

1359 eroberten die Viscontis aus Mailand die Stadt und machten sie zu einem kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum der ganzen Region. Zwei Jahre nach der Eroberung durch die mächtige Familie Visconti wurde in Pavia eine der ältesten Universitäten Europas gegründet. Im Zuge der »Renaissance-Kriege« (1494–1559) auf dem Gebiet Italiens wurde die Stadt 1524 vom französischen Heer unter Franz I. belagert.

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In der Schlacht bei Pavia am 24. Februar 1525 wiederum kämpfte die Armee des Hauses Valois unter Franz I. gegen die Habsburger von Karl V. Das habsburgische Heer bestand aus ungefähr 23.000 Soldaten aus deutschen und spanischen Gebieten. Die Armee von König Franz I. – zusammengesetzt aus französischen, italienischen und schweizerischen Söldnern – zählte 26.000 Soldaten. Fast die Hälfte der Valois-Armee fiel an diesem Tag im Kampfe, während die habsburgische Seite »lediglich« ein Viertel ihrer Soldaten verlor. König Franz I. geriet in spanische Kriegsgefangenschaft und Pavia galt nun als besetzt. Die spanische Besetzung reichte bis 1713. Es folgte die Einsetzung einer österreichischen Regierung bis 1796. In diesem Jahr eroberte Napoleon Bonaparte die Stadt.

In die also recht frühe Zeit der spanischen Besetzung Pavias fällt die Geburt von Caterina Assandra. Ausgebildet wurde Assandra womöglich von dem aus deutschsprachigen Gebieten stammenden Benedetto Re, von dem Kompositionen in Sammelbänden der Jahre 1615 (Parnassus Musicus Ferdinandæus) und 1621 (Florilegium Portense) überliefert sind. Die wohl deutschsprachige Herkunft von Benedetto Re ergibt sich forschungsseitig tatsächlich durch die Schülerin-Lehrer-Beziehung Assandras zu Res, denn Assandras Motetten und Orgelwerke wurden in »neuer deutscher Tabulatur« notiert (in einer Notenschrift, die unter anderem vermehrt Buchstaben statt »abstrakte« Noten-Symbole verwendete). Benedetto Re füllte zu dieser Zeit die leitende Position des »Maestro di Cappella« an der Kathedrale von Pavia aus und widmete Caterina Assandra 1607 eines seiner komponierten Werke.

In diesen Jahren bis 1609 wird Assandras musikalisches Talent in verschiedenen Drucken der Zeit erwähnt. Vielleicht, um sich noch eingehender der Musik zu widmen – inzwischen waren eine Reihe von Werken entstanden – und um nicht nach »erfolgreicher« Suche auf dem Heiratsmarkt gezwungenermaßen künstlerisch zu verstummen, wurde Caterina Assandra in eben jenem Jahr (1609) Benediktinerin am Kloster Saint Agata in Lomello (etwa 30 Kilometer westlich von Pavia).

Caterina Assandra nahm den Ordensnamen Agata an und konnte hinter den schützenden Klostermauern nun unbeschränkt und bis zu ihrem Lebensende komponieren. Leider wurde sie jedoch nicht sehr alt. Vermutlich starb sie nach dem Jahr 1618 in Lomello. Folglich wäre sie mindestens 38 Jahre alt geworden.


Caterina Assandra (um 1590–nach 1618)
O quam suavis est Domine spiritus tuus (1609)

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1609 erschien in Mailand eine Sammlung von Motetten aus der Feder Assandras: die erste gedruckte Sammlung von Kompositionen einer italienischen Nonne überhaupt! Aus dieser Zusammenstellung  zwei- und dreistimmiger Motetten mit Orgel- und Basso-continuo-Begleitung (Motetti à dua, & trè voci per cantar nell’Organo con il Basso continuo) stammt auch die zweistimmige Motette O quam suavis est Domine spiritus tuus.

Wie schon angesichts der komponierenden Nonne Chiara Margarita Cozzolani (1602–1676/78) aus Folge 3 haben wir es also mit einem bestimmten Abschnitt aus dem selten zitierten biblischen »Buch der Weisheit« (auch »Weisheit Salomos« genannt) zu tun. Häufig wurde dagegen O quam suavis (man lese gerne die Noten mit) als Antiphon – also als Wechselgesang, beispielsweise zwischen Vorsänger und Chor am Fronleichnamsfest im Gottesdienst dargeboten. O quam suavis besingt sozusagen einen Aspekt des Abendmahls, das als zentrales Moment an Fronleichnam gefeiert wird – gewissermaßen ein Loblied auf die Brotbrechung im Zeichen des Blutes Christi. Und so lautet die Übersetzung des lateinischen Textes auch: »Wie liebevoll ist Deine Gesinnung, Herr, um Deinen Kindern Deine Güte zu beweisen, schenkst Du ihnen süßes Brot vom Himmel, die Hungrigen überhäufst Du mit Gütern, die wählerischen Reichen lässt Du leer ausgehen.«

Von der ursprünglichen Melodie-Bewegung des einstigen Antiphons ist – ähnlich wie bei Cozzolani (1642, man vergleiche die Noten hier) – wenig geblieben. Bei Cozzolani wird das »O« zu Beginn des Textes »nur« auf vier, bei Assandra dafür auf eine rhythmisierte Folge von elf Tönen aufgeteilt. Der Melismengehalt ist also bei Assandra ist weitaus stärker ausgeprägt. »Gemäß« der lombardischen Herkunft Caterina Assandras stechen an einigen eminenten Stellen der Motette lombardische Rhythmusphänomene heraus. Demnach werden Notenwerte in der Abfolge »kurz – lang« nicht auftaktig, sondern auf der »schweren Zählzeit« musiziert – gewissermaßen trochäisch statt jambisch.

Das erste – von den beiden unteren Stimmen antizipierte – »spiritus tuus« ist wiederum auf viele Melismen aufgeteilt. Die Wiederholung dieses Textteils kommt dafür in Gänze homophon und rein syllabisch daher. Was für eine schöne Abwechslung!

Expressiv, wie sich schon der Ton b1 zum Ton fis1 in der Oberstimme beim ersten »suavis« (»lieblich«, »liebevoll«, »süß«) neigt. Eine verminderte Quarte als Verdeutlicherin guter Musik, die intendiert herausstechen will. Tonleitereigene Melismen – und am Ende dieses erste Verminderte-Quart-Ereignis. Gar nicht mal immer sklavisch »im Dienste der Sache«, sondern losgelöst von Wort-Ton-Bedeutungsverpflichtungen. Andererseits ist die verminderte Quart potentielle (janusköpfige) Interpretin des Wortes »liebevoll« – der vielleicht als unangenehm empfundene verminderte Quart-Absprung als »bittersüßer« Verweis auf die Gesinnung des »lieben« Gottes, der eben auch ganz anders (nämlich: strafen) kann.

Nach dem homophonen Moment spalten sich die Stimmen erneut mehrheitlich kanonisch-imitatorisch auf – und vereinigen sich auf charismatische Art und Weise wieder. Dann ereignet sich ein Rhythmuswechsel, von einem binären hin zu einem – göttlichen – tertiären Metrum: Gott = Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das einzige wirkliche Achtel-Motiv, welches bisher nur in kanonischer Abfolge erklang, wird nun vielfach augmentiert (bei dem Wort »reples«), kehrt schlussendlich in Achtel-Originalgestalt wieder, doch nun gleichzeitig in den beiden oberen Stimmen.

Ein krass subtiles Werk voller sublimer Materialbehandlungswunder, voller Abwechslung im Kleinen, voller Andacht, voller gelehrter Polyphonie im höchst attraktiven Wechselspiel mit stimmungsvoll-warmer und hymnischer Homophonie. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.